Texte von Hugo Rupp

Die Hinterlassenschaft

 

Der Hinterhalt in den Systemen, dass ich darauf nur warte, dass plötzlich keine Welt, kein Geld, und überhaupt nichts mehr da ist. Dass alles ausgelöscht und leergeräumt wurde, von einem unsichtbaren Feind. Dass plötzlich nichts mehr funktioniert, und ich nicht länger weiß, wie ich was richten kann. Ob sich was überhaupt noch richten lässt? Nur Hinterhältigkeit vor mir, die ich nicht wieder los werde. Da kommt dann meine Mutter aus dem Vorhang vor dem Fenster raus und schüttelt sich vor Lachen.

Du siehst ja schon Gespenster.

Heimtückisch waren immer nur die anderen, rein boshaft und gemein.

Um fünf Uhr früh wurde ich immer wieder wach. Ich habe nicht daran gedacht, dass mich mein eigenes heimtückisch sein auch suchen kommen würde. Mit Träumen voller Angst.

Das wirst du mir noch einmal büßen!

Die Stimme aus dem Hinterhalt, die widerspricht und immer wieder widersprechen kann, der Fluch der Hinterhältigkeit: Du wirst noch an mich denken. Dass diese Stimme das verhindert hat, dass ich mich wütend über sie beschwerte.

Die heimtückische Stimme

Das darf der nicht! Das soll die nicht. Das kann nicht sein. So nicht.

Wenn es ruiniert ist, sagte der alte Mann, dann war nicht ich es, der es ruiniert hat.

Und wie du das warst, sagte der Neffe, mit hochrotem Kopf, quer durch das Zimmer auf ihn zukommend. Du bist zu blind um zu erkennen, was du mir angetan hast. Ein Kind kann sich nicht selbst verteidigen. Kinder sind dazu verdammt, zu glauben. Du hast mich aus der realen Welt gestoßen und ich blieb draußen, solange bis ich nicht mehr ein noch aus wusste. Du hast mich mit deinen idiotischen Hoffnungen angesteckt und deiner stumpfsinnigen Gewalt. Ich bin nicht immer ich selbst, ich bin nicht imm …, doch dann hielt er inne. Er würde nicht zugeben, was der alte Mann wusste. Mir fehlt nichts, sagte er. Ich habe das Durcheinander, das du in mir angerichtet hast, wieder in Ordnung gebracht. Mit reiner Willenskraft. Ich habe mich selbst wieder hingekriegt.

Siehst du, sagte der alte Mann, er gibt zu, die Saat war noch in ihm.

Aus: Die Gewalt tun, reißen es an sich Flannery O’Connor

Mit Träumen voller Hinterhältigkeit erbarmte ich mich selber. Wenn ich traumwandlerisch nach Möglichkeiten suchte, mir nicht mehr weh zu tun.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich ihn zum allersten Mal gesehen habe, sagte er. Ich war sechs oder sieben. Ich spielte gerade auf dem Hof und plötzlich spürte ich etwas zwischen mir und der Sonne. Er. Ich sah auf, und da war er, und schaute mit seinen irren fischfarbenen Augen zu mir herunter. Weißt du, was er zu mir sagte, zu einem siebenjährigen Kind? Er versuchte, die Stimme des alten Mannes nachzumachen. Hör zu, mein Junge, sagte er. Der Herr Jesus Christus, hat mich gesandt, um dich zu finden. Du musst wiedergeboren werden. Er lachte, und funkelte den Jungen mit seinen wilden Augen voller Feindseligkeit an. Dem Herrn Jesus Christus lag mein Heil so am Herzen, dass er einen persönlichen Vertreter entsandt hat. Und worin bestand das Unheil? Das Unglück war, dass ich ihm Glauben schenkte. Für fünf oder sechs Jahre. Ich hatte sonst nichts. Ich wartete auf Jesus, den Herrn. Ich dachte, ich würde wiedergeboren, und dass alles anders würde oder schon anders sei, weil Jesus, der Herr, sich für mich wirklich interessierte.

Tarwater rutschte auf seinem Stuhl herum. Es schien, als würde er, wie hinter einer Wand, ihm lauschen.

Mit diesen Augen hat er mich gekriegt, sagte Rayber. Kinder werden wahrscheinlich von verrückten Augen angezogen. Ein Erwachsener hätte vielleicht widerstehen können. Ein Kind kann das nicht. Kinder sind dazu verdammt, zu glauben.

Der Junge erkannte den Satz wieder. Nicht alle, sagte er.

Der Schullehrer lächelte ein wenig. Und nicht alle, die glauben, sie würden widerstehen, tun es auch, sagte er, und spürte, dass er wieder Kontrolle über sich besaß. Es ist nicht so leicht, wie du denkst, einen Fluch wieder loszuwerden. Weißt du, sagte er, dass es da einen Teil deines Geistes gibt, der die ganze Zeit über arbeitet, ohne dass du dir dessen bewusst bist. Da gehen Dinge vor. Alle möglichen Dinge, von denen du nichts weißt.

Aus: Die Gewalt tun, reißen es an sich Flannery O’Connor

Sie hängte mich kopfüber aus dem Fenster in den Lichtschacht. Wie ich das später dann mit meiner Schwester übte. Sie hielt mich aus dem Fenster, in die Tiefe. Und deshalb weinte ich im Traum, vor Vater kniend, weil Vater nie was davon mitbekommen wollte.

Die aufgehängten Ochsen-Bilder von Chaim Soutine und Rembrandt und von Francis Bacon. So hatte ich mich einst gefühlt und wusste nichts davon. So hingehängt, verdroschen und zum Bluten aufgehängt, wie aufgehängte tote Hasen. Nie ist mir in den Sinn gekommen, dass die Gewalterfahrung diese Bilder malte, doch ohne ein Gefühl dabei, dem Abgrund ausgeliefert, den ich einst vor mir sah, mit den gestürzten Augen und lebendig, doch ohne einen Schrei. Der Schrei, der niemals da gewesen ist und den ich erst Jahrzehnte später in mir spürte, den Schrei auf durchgeschlagen werden und an den Füßen aufgehängt zu sein, nach unten und geschüttelt. Wenn du nicht gleich still bist, dann lasse ich dich sausen!

Was ich gesehen habe in mir. Nur ohne Licht und nicht mal einen Schatten wert. Hatte nur Töne, Rumpeln, Schlagen, und den Geruch, verbranntes Holz, und säuerlich, wie nach Erbrochenem. Wie meine Ohren sausen, das Unterwasser Fühlen kommt. Und daher meine Angst, dass wieder was passieren wird. Weil niemand meine Schreie hört, wenn ich sie selbst nicht hören kann.

Je mehr ein Kind die Freiheit genießt,

desto weniger muß es bestraft werden.

Schweigen ist manchmal eine Tat der höchsten Aufrichtigkeit.

Das Kind ist aufrichtig, wenn es nicht antwortet.

Es antwortet nicht, weil es nicht lügen will, da es

die Wahrheit nicht sagen kann; es antwortet nicht, weil es

nicht einverstanden ist, weil wir von ihm etwas fordern,

das es nicht geben will oder kann.

Schweigen ist Ausdruck der Auflehnung gegen die Lüge.

Ein geschlagenes Kind trägt Spuren der Folter.

Janusz Korczak

Als meine Schwester beinah erstickt wäre an einem Apfelstückchen, das ich ihr in den Schlund gedrückt hatte, fiel mir noch ein, sollte sie tatsächlich jetzt sterben, dann würde mir nur übrig bleiben, mich aus dem Fenster meines Zimmers zu stürzen.

Und wie ich meine Schwester fütterte und ihr die Apfelstückchen in den Rachen schob und immer wieder dann herausholte. Was wollte ich ihr beibringen?

Marti Siirala schreibt in seiner Studie >From Transfer to Transference<, daß unser Schuldbewußtsein eine Reaktion auf »ungelebtes« Leben ist.

Arno Grün Verratene Liebe – Falsche Götter

Ich fing zu weinen an, als Mutter vorzeitig in meinen Kindergarten kam.

Er sagt, sie hätten ihn heut früh geschimpft!, sagt meine Kindergartenschwester.

Ich schimpf doch meinen Jungen nicht. Was bildet der sich ein!

Komm du mir heim, hat das in meinem Kopf gemacht. Und wieder schämte ich mich heimlich.

Anpassung erzeugt Haß.

Arno Gruen Verratene Liebe – Falsche Götter

Und erst das Gegenteil erweckt in einem Kind die Liebe.

Wie ich als 10-jähriger mit Robert K. mich stritt, und er nur lächelte.

Was willst denn du, du hast noch nicht mal einen Vater, hab ich gesagt.

Ich kann doch nichts dafür, hat er gesagt.

Im Schussern hatte Robert gegen mich gewonnen.

Weil ich mich selbst verletzt gefühlt hatte, hab ich den Robert angegriffen.

Im Traum, allein in meiner leergeräumten Wohnung. Alles ist weg, und nur mehr eine Tasche steht im Raum. Ich haue ab, für immer geh ich weg. Und auf der Spüle steht ein Teller, mit einem Stück von Mutters Apfelkücherl. Ich stecke mir das ganze Stück in meinen Mund und schlinge es hinunter.

Wir, die noch im Mitgefühl verankert sind, müssen lernen, konsequent zu sein. Nicht im Sinne der Mächtigen, sondern in dem Sinn, daß wir von denen nichts mehr wollen, die nichts zu geben haben. Es ist das innere Verhängnis, die uneingestandene Not, vom Feind geliebt zu werden, die es unmöglich macht, konsequent mit dem Bösen umzugehen. Wenn diese auf unser Mitleid pochen, müssen wir dem Impuls, ihnen mit Mitgefühl entgegenzukommen, widerstehen. Dahinter steht der Wunsch, daß sie uns lieben, und der wird uns zum Verhängnis, weil wir etwas von ihnen wollen. Dies ist die härteste Lehre, denn wir sind immer bereit zu glauben, daß alle Menschen Liebe fühlen können.

Aber tatsächlich gibt es solche, die so weit von sich abgetrennt sind, daß unser Wunsch nach ihrer Größe uns zum Verhängnis wird. Ihnen nicht die Macht zu geben, ihnen Liebe vorzuenthalten, weil wir sie nicht von ihnen erwarten, ist die Gegenkraft, mit der wir sie bezwingen können. Wenn sie nicht mehr mit unseren Erwartungen spielen können, dann haben sie ihre Macht über uns verloren, und wir können uns dem Aufbau unserer Welt widmen, anstatt dauernd ihre Verwüstungen in Ordnung zu bringen.

Arno Gruen Verratene Liebe – Falsche Götter

Hilflos, schier ohnmächtig vor Angst, hing ich in ihren Händen.

Jetzt schimpft er wieder aus dem Fenster, sagt Mutter über Vater lächelnd.

Hass säten immer nur die anderen, das lernte ich von ihr.

Das war nicht so gemeint. Das war doch niemals so gemeint. Ich wollte dir damit nur helfen. Ich wollte dir doch nie wehtun! Ich wollte nur, dass du dich endlich mal beruhigst. Ich wollte dir doch nichts antun!

Sie hatte mir das vorgemacht, den eignen Hass auf andere zu richten und zu schieben.

Wem galten meine Schreie und mein Weinen? Für wen waren die Äußerungen meiner Not auch noch bestimmt?

Roy Batty: Eine beachtliche Erfahrung, in Furcht leben zu müssen. So ist es, wenn man ein Sklave ist!“

Blade Runner

Mein hilflos sein und meine Angst. Weil niemand das bemerken wollte, deshalb war ich so böse auch in mir. Weil niemand was bemerkte. Weil niemand etwas davon wissen wollte. Warum nur dieser Hass und diese Furcht in mir zum Vorschein kamen, wenn jemand nicht ausdrücken kann, was ihn bewegte.

Wenn sich jemand nicht mehr bewegen lässt. Wenn jemand gänzlich unbeeindruckt bleibt.

Zum ersten Mal verstehe ich, dass ich mit Hass den Schmerz bekämpfen wollte, allein zu sein und isoliert, in Einsamkeit, allein zu sein, in alle Ewigkeit, gefangen im Gehirn, unter der Spinnenhaut, nicht aufgehoben sein, nur flüchtig, wie jede eingeborene Seele, den Winden und den Stürmen wütenden Geschicks, vollkommen schutzlos ausgeliefert.

Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil, es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft.

Adolf Hitler

Es fiel mir nicht mehr schwer, mich in Befehle einzufühlen.

Vergiss ganz einfach mit der linken Hand zu zeichnen. Das kann doch nicht so schwierig sein.

Erschreckend für mich heute ist, wie wenig ich gemerkt hatte, wie weh mir das tatsächlich tat. Ich hasste immer gleich, wenn jemand anderer nicht auch gleich hassen konnte oder wollte. Wenn jemand nicht mit Hass und Selbsthass reagierte, auf hilflos und verletzlich sein.

Selbst schuld!

Wenn jemandem was widerfuhr. Selbst schuld, das war die Lieblingswendung meines Vaters.

Selbst schuld, bedeutete für mich, dass jedes Kind und jeder Mensch, ganz ohne Ausnahme, Hass immer auch verdient hatten, solange noch der Schmerz aus ihnen fuhr mit einem Laut.

Wir hatten hilflos sein verdient, wir alle, ohne Ausnahme. Wir hatten Hass verdient, für unser hilflos sein. Wir alle hatten Hass verdient für unsere Schmerzenslaute.

Wenn Vater kam, wenn mir was fehlte, war immer sein Vorwurf, ich wäre schließlich selber schuld, im Raum gestanden. Selbst wenn mir was gestohlen worden war, war Vaters Meinung, ich hätte doch nicht richtig aufgepasst.

Jetzt hör endlich zu schreien auf, sag ich mir schließlich selber.

Mitschuld bekennen, als Eingeständnis meiner Schuld. Die Demut gegenüber Vater.

Mein eigner vorwurfsvoller Blick. Mein Vorwurf an die Welt und alle lebenden Systeme, Mitschuld zu haben, von Haus aus schon. Dass nichts und niemand ohne Schuld sein kann.

Was hast du denn? Ich hab dir nichts getan.

Endlich verstehe ich, warum ich später immer wieder auf die Frage, was machst denn du? Was willst du einmal werden, mit, Nichts, antwortete.

Unausgesprochene Gefühle.

Jetzt überspann den Bogen nicht!, sagt er.

Du übertreibst, wie üblich!

Ich habe immer wieder so geweint, wenn er nach Hause kam. Ich habe immer nur verzweifelt Vater angerufen, und nichts an Mitgefühl von ihm erfahren.

Was weint der Junge denn!

Weil Mutter mich nur hilflos macht, und Vater mich dafür anschreit. Was habe ich mich angestrengt, dass mir der Vater hilft, dabei hat er mich angeschrien und beschimpft.

Das darf doch wohl nicht wahr sein.

Mein hilflos sein daheim, mein hilflos sein, allein bei meiner Mutter. Unheilverkündendes Gefühl.

Du musst nicht gleich zu deinem Vater rennen. Bleib nur schön hier.

Wenn ich in seine Werkstatt wollte, zu den anderen.

Zu deinem Vater brauchst du damit nicht rennen.

Deinem Vater brauchst du damit gar nicht kommen.

Ja, geh nur hin zu ihm, du wirst schon sehen, was passiert.

Sie lächelt.

Dem Vater brauchst du damit nicht zu kommen.

In ihren Händen baumelnd.

Wie ich da immer wieder hingelaufen bin. Wie ich dann später immer wieder jemandem nachgelaufen bin. Wie ich mich immer wieder an wen hängte. Wie ich das nicht aufgeben hatte können, ohne zu wissen überhaupt warum. Von jemand Hilfe zu erwarten, der hilflos sein, auch nicht ertragen kann.

Sie wusste, dass mein Vater meine Tränen gar nicht sehen wollte. Sie wusste, dass ich ihm damit nicht wirklich kommen brauchte. Er hasste das, wenn ich ihn sah und dabei weinte. Er hasste mich, wenn ich verloren war und ihn als Rettung für mich sah. Er nahm mich nicht in seine Arme. Er tröstete mich nicht. Mein Vater wollte nichts mit mir und meinem hilflos sein zu schaffen haben.

Endlich verstehe ich, dass hilflos sein nie gleichbedeutend war mit Unheil und Verdammnis. Dass ich mich nicht mehr fürchten muss, weil niemand mich davon abhält, abhalten kann, den Schmerz auch zu begreifen.

Mein Bitten und mein Betteln.

Ich sah so lange immer nur den Vater und die Mutter an, weil ich doch irgendwie gerettet werden wollte. Dabei vergaß ich meinen Schmerz und ihre Taten. Was mir die Mutter und mein Vater angetan haben, begreife ich erst jetzt. Sie wollten mich nicht loslassen. Sie wollten mich gefangen halten, in einem Käfig ihrer Wahl, nach ihren Regeln; das sollte ich ertragen, stumm, fraglos, und ohne eigene Bedürfnisse und Wünsche. Sie wollten mich bestrafen, so wie es ihnen einfiel und gefiel. Sie wollten nichts von meinen Schmerzen hören oder sehen. Sie wollten nichts von meinen Schmerzen wissen. Sie wollten nichts davon begreifen, was ich in ihren Augen war und sah. Ich konnte meine Eltern nur ertragen, indem ich meinen Schmerz und meine Wut und meinen Hass für sie vergaß.

Endlich begreife ich, warum ich einen solchen Zorn auf meinen Vater hatte, als ich ihn an Krücken gehen sah, nach seiner Knieoperation. Und wie er auf die Zähne biss und böse vor sich hinschaute.

Mein Vater hasste alles Schwache und Verletzliche, denn das begriff er unter Stärke.

Was ist denn wieder los? Was ist nur los mit diesem Kind?

Ich wollte mich nicht mehr verletzen. Ich wollte Vater nicht mehr hören, der mich nach jedem Laut angriff, wenn ich nur etwas an Leid äußerte.

Verletzlichkeit schürte nur Hass in ihm.

Hör mir jetzt zu. Du tust, was ich dir sage. Verstehst du mich. Du gehst an meiner Hand und läufst nicht wieder weg, sonst lasse ich dich zukünftig zuhause. Ich geh mit dir dann nicht mehr aus!

Kontrolle, ununterbrochene Kontrolle, Aufmerksamkeit, damit nicht zufällig Hilflosigkeit ausbricht.

Die schrecklichste Erfahrung meines Lebens war, als ich feststellte, dass Vater ganz genau so wie die Mutter war und jeden Ansatz von Freiheit, Ausdruck von Lebenslust, im Keim erstickte und bestrafte.

Als er mich erstmals ohrfeigte, da war ich zweieinhalb, weil ich ihm weggelaufen war. Ich war ganz einfach weggegangen, den kleinen Berg am Haus der Oma rauf. Ich stand ganz einfach da und freute mich. Ich schaute einfach nur. Und dann kam Vater an und schlug mir seine Hand mit seinem Handschuh ins Gesicht.

Es ist nicht wahr, dass ich ihm weggelaufen bin. Ich freute mich, und dieses Schwein hat das kaputt gemacht. Endlich begreife ich den Hass, den ich auf Vater hatte und überall hin mit mir trug.

Wie kann man nur so böse sein.

Wenn sich wer freute für sein Leben. Wenn das wer ausdrückte, wenn das zum Vorschein kam, wie er da schon auf seine Zähne biss und Hass in seine Augen kam, wenn sich beim Fußball wer umarmte, wenn jemand sich nicht schämen wollte, für seine Tränen. Wenn jemand sich nur freute, dann wurde Vater ausfallend.

Wo kämen wir denn hin, wenn jeder macht, was ihm gefällt.

Warum ich immer wieder später Sachen aufgab und zerstörte, wie ich Gedanken und Ideen auch verwarf.

Ich schämte mich, wenn er nach Hause kam, für mein Verhalten, meine Schwäche und Verletzlichkeit. Ich schämte mich für mich. Ich dachte immer nur, ich würde damit auf die Mutter Rücksicht nehmen, wenn ich verschwand, wenn er nach Hause kam, damit er sich nicht wieder aufregte.

Wie er sich immerzu beschwerte über irgendwen und irgendwas.

Deswegen irre ich im Traum durch eine Zone. Durch eine Landschaft wie in dem Andrei Tarkowski Film, Stalker. Ich suche die Gefahr, die eigenen Schwachstellen, Verletzlichkeit, um mich zurechtzufinden in der toten Welt. Um die Verletzlichkeit nicht mehr zu stören. Deswegen ist es hier so still, kein Vogel, wenig Farben, keine Laute. Ich suche in mir nach Erinnerung, wie Vater mich behandelt hat und wie ich mich dann immer wieder selber auch behandelt hatte. Mit Vorsatz und nicht unabsichtlich.

Mein Vater quälte mich. Ich quälte mich. Er suchte nach Schwachstellen, dann suchte ich auch selbst danach.

Auf deine Knie! Und untersteh dich, noch etwas zu sagen. Ich will nichts von dir hören. Du sagst jetzt gar nichts mehr! Verstehst du mich!?

Ich musste mir als Kind den Mund verbieten lassen.

Du tust, was ich dir sage. Du hörst auf das, was deine Mutter zu dir sagt.

Doch seine Stimme zählte doppelt, und Mutter ließ mich das auch spüren, weil sie mich doch allein beherrschen wollte. Sie ließ mich seine Worte spüren.

Ich sollte vor ihm in die Knie. Vor ihr. Vor ihr sollte ich vor ihm in die Knie gehen. Und deshalb lächelt er in meinem Traum so selbstgefällig.

Wie hätte ich auf beide hören können. Wie soll ein Kind wie ich die Eltern ehren? Wie soll ein Kind sich Widersprüchen anpassen. Das geht im Grunde nur mit Hass, auf mich und alle anderen, weil jede Art von Lösung, Gefühlen widerspricht. Wie sollte ich mir nicht andauernd widersprechen? Wie sollte ich nicht immer wütend sein, wenn mir jemand etwas befahl. Wie sollte ich nicht durcheinander sein?

Ich hasste mein gehorsam sein müssen. Endlich verstehe ich, warum aus mir kein Anhänger für irgendwas wurde.

Du hörst auf mich. Auf mich ausschließlich! Verstehst du mich. Und schau mich an, wenn ich mit dir rede.

Ich konnte gar nicht auf sie hören. Das war ja gar nicht möglich und niemals meine Schuld gewesen. Selbst schuld, das dachte ich. Dabei war das ja gar nicht wahr.

Ich nahm Verletzlichkeit als etwas böses an mir schließlich wahr, das nur zu richten war mit Hass. Ich hasste immer was, was nicht zu richten war. Was sich nicht fügte oder gleich parierte. Wie mein verschissener Vater war ich da, den ich in meinem Nacken spürte.

Jetzt ist Schluss mit dieser Schreierei!

Schwaches und Hilfloses verachten. Alle Hilflosen und Schwachen nur verachten, habe ich von ihm gelernt; und mich damit auch selbst. Das hat der Mutter imponiert.

Da ist der Sinn des Traums: Wir stehen beide vor ihr. Er lächelt und ist stark, und ich auf meinen Knien, weinerlich, verzweifelt und ganz klein; und hilflos, schwach. Wir stellen für die Mutter uns selbst dar. Wer imponiert der Mutter mehr?

Nur wenn ich wie mein Vater, den Schmerz schallend verlachen kann, bin ich für sie auch etwas wert.

Ich musste ihnen imponieren, in dem ich mich verachten lernte, mit meiner Hilflosigkeit und Verletzlichkeit, indem ich alles Schwache scheinbar ablegte, für sie und ihn. Indem ich scheinbar alles Schwache vor ihm und der Mutter offenlegte und offenbarte; bereit zum Opfern der Verletzlichkeit. Ich lehnte und ich legte alles Schwache für sie ab.

So wird man übermächtig, indem man sein Gefühl nicht nur bestraft, sondern beherrschen lernt.

Wie krank vor Neid und Eifersucht wir alle schließlich waren.

Wenn du auf deine Mutter und mich hörst, dann kann dir nichts passieren.

Was hätte ich sonst glauben können? Ich musste an Befehle glauben. Ich wollte doch nicht hilflos bleiben.

Erst jetzt fällt mir das wieder auf, wie eifersüchtig meine Mutter und mein Vater darauf achteten, dass ich nur jeweils ihm und ihr gehorchte. Dass ich im Grunde jedem immer mehr gehorchen und gehören sollte. Sie schikanierten mich und imponierten sich dabei.

Lenk nicht andauernd ab!

Ich konnte meinem Vater mit Verletzlichkeit nicht imponieren. Das dachte ich. Dass ich ihm mit Hilflosigkeit tatsächlich imponieren wollte. So wie die Mutter meine Scham beschmutzt hatte, indem sie meine Tränen auslachte. Ich dachte wirklich irgendwann, ich würde hilflos sein tatsächlich vorgetäuscht haben, um was zu kriegen.

Als würde ich nur hilflos sein, wenn ich etwas bekommen wollte. Dass ich nie wirklich hilflos war. Dass ich gar nicht allein gelassen worden war. Dass ich nie wirklich einsam war. Dass ich nie wirklich elend mich als Kind gefühlt hatte. Dass ich nie wirklich eingeschlossen war. Dass ich hilflos nur immer wieder spielte und gar nicht wirklich hilflos war. Dass ich den Eltern imponieren hatte wollen, mit der Verletzlichkeit. Dass alles nicht so schlimm in Wirklichkeit gewesen war.

Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Dem fehlt doch nichts. Der bettelt doch um Schläge. Wir haben ihn zu sehr verwöhnt. Du musst den Jungen nicht andauernd hätscheln. Der hat doch alles was man braucht.

So tun, als würde ich nicht hilflos sein, das habe ich gelernt. So tun, als wäre ich als Kind nie hilflos und verloren gewesen, bei meiner Mutter und bei meinem Vater. Mit Imponiergehabe. Mit Imponieren tat ich das, darstellen, dass ich nicht hilflos war und auch nicht sein würde.

Mein eignes Lächeln, wenn mir was weh tat später. Wenn mir was fehlte, dann lachte ich.

Mich vor der eigenen Hilflosigkeit mit Imponiergehabe zu verstecken, bedeutete, mich selbst als Kind nur zu verleugnen und meinen Schmerz dazu. Und jetzt begreife ich, warum ich mir und anderen auch imponieren wollte. Hilflosigkeit war ohne Liebe für mich als Kind nicht zu ertragen.

Die Hinterlassenschaft. Mein Imponierwille, mit dem ich hilflos sein verachtet habe, wie meine Eltern schon vor mir.