Texte von Hugo Rupp

Die Heilslehre

 

Der letzte Brief

An Julie und Hermann Kafka in Prag

Kierling bei Wien, Sanatorium Dr. Hoffmann, 2. Juni 1924

Liebste Eltern, also die Besuche, von denen Ihr manchmal schreibt. Ich überlege es jeden Tag, denn es ist für mich eine sehr wichtige Sache. So schön wäre es, so lange waren wir schon nicht beisammen, das Prager Beisammensein rechne ich nicht, das war eine Wohnungsstörung, aber friedlich paar Tage beisammenzusein, in einer schönen Gegend, allein, ich erinnere mich gar nicht, wann das eigentlich war, einmal paar Stunden in Franzensbad. Und dann »ein gutes Glas Bier« zusammentrinken, wie Ihr schreibt, woraus ich sehe, dass der Vater vom Heurigen nicht viel hält, worin ich ihm hinsichtlich des Bieres auch zustimme. Übrigens sind wir, wie ich mich jetzt während der Hitzen öfters erinnere, schon einmal regelmässig gemeinsame Biertrinker gewesen, vor vielen Jahren, wenn der Vater auf die Civilschwimmschule mich mitnahm.

Das und vieles andere spricht für den Besuch, aber zu viel spricht dagegen. Nun erstens wird ja wahrscheinlich der Vater wegen der Passschwierigkeiten nicht kommen können. Das nimmt natürlich dem Besuch einen grossen Teil seines Sinnes, vor allem aber wird dadurch die Mutter, von wem immer sie auch sonst begleitet sei, allzusehr auf mich hingeleitet sein, auf mich verwiesen sein und ich bin noch immer nicht sehr schön, gar nicht sehenswert. Die Schwierigkeiten der ersten Zeit hier um und in Wien kennt Ihr, sie haben mich etwas heruntergebracht; sie verhinderten ein schnelles Hinuntergehn des Fiebers, das an meiner weitern Schwächung arbeitete; die Überraschung der Kehlkopfsache schwächte in der ersten Zeit mehr, als sachlich ihr zukam – erst jetzt arbeite ich mich mit der in der Ferne völlig unvorstellbaren Hilfe von Dora und Robert (was wäre ich ohne sie!) aus allen diesen Schwächungen hinaus. Störungen gibt es auch jetzt, so z.B. ein noch nicht ganz überwundener Darmkathar aus den letzten Tagen. Das alles wirkt zusammen, dass ich trotz meiner wunderbaren Helfer, trotz guter Luft und Kost, fast täglichen Luftbades noch immer nicht recht erholt bin, ja im Ganzen nicht einmal so imstande, wie etwa letzthin in Prag. Rechnet Ihr noch hinzu, dass ich nur flüsternd sprechen darf und auch dies nicht zu oft, Ihr werdet gern auch den Besuch verschieben. Alles ist in den besten Anfängen – letzthin konstatierte ein Professor eine wesentliche Besserung des Kehlkopfes und wenn ich auch gerade diesem sehr liebenswürdigen und uneigennützigen Mann – er kommt wöchentlich einmal mit eigenem Automobil heraus und verlangt dafür fast nichts, so waren mir seine Worte doch ein grosser Trost – alles ist wie gesagt in den besten Anfängen, aber noch die besten Anfänge sind nichts; wenn man dem Besuch – und gar einem Besuch, wie Ihr es wäret – nicht grosse unleugbare, mit Laienaugen messbare Fortschritte zeigen kann, soll man es lieber bleiben lassen. Sollen wir es nicht also vorläufig bleiben lassen, meine lieben Eltern?

Dass Ihr etwa meine Behandlung hier verbessern oder bereichern könntet, müsst Ihr nicht glauben. Zwar ist der Besitzer des Sanatoriums ein alter kranker Herr, der sich mit der Sache nicht viel abgeben kann, und der Verkehr mit dem sehr angenehmen Assistenzarzt ist mehr freundschaftlich als medicinisch, aber ausser gelegentlichen Specialistenbesuchen ist vor allem Robert da, der sich von mir nicht rührt und statt an seine Prüfungen zu denken, mit allen seinen Kräften an mich denkt, dann ein junger Arzt, zu dem ich grosses Vertrauen habe (ich verdanke ihn wie auch den oben erwähnten Professor dem Arch. Ehrmann) und der 3 mal der Woche herauskommt.

Da ich mich so zu dem Besuch verhalte, [bricht ab, Fortsetzung auf der nächsten Briefseite]

allerdings noch nicht im Auto, sondern bescheiden mit Bahn und Autobus dreimal wöchentlich herauskommt.

[von Dora Diamants Hand:]
Ich nehme ihm den Brief aus d. Hand. Es war ohnehin eine Leistung. Nur noch ein paar Zeilen, die seinem Bitten nach, sehr wichtig zu sein scheinen: [bricht ab]

[von Ottla Kafkas Hand, mit Bleistift:]


Montag geschrieben


am 2.6.1924 


gestorben 3.6.1924

Aus: www.franzkafka.de/franzkafka/fundstueck_archiv/fundstueck/457432

Wir haben dich doch nie zu was gezwungen, sagt sie.

Um 5 Uhr früh. Wenn alles schläft, dann wach ich auf und weiß nicht, was mich weckt.

Noch eh ich mir mit meinen Fingern durch die Haare strich und mir den Schlaf aus meinen Augen rieb, stand Vater da und schimpfte wegen irgendwas.

Sag nichts. Sei still. Das wird das beste sein. So habe ich das auch gemacht. Nimm dir das nicht zu Herzen, Kind, sagt sie.

Der Vater zwinkert mir jetzt zu, und mir wird klar, dass ich hier nichts zu sagen und zu suchen habe.

Das Schreckliche daran: Der Vater tut, als hätte er gar keine Wahl.

Wie Lehrer mich bestraften später. Und Mutter schaut stumm zu.

Als hätten wir eine Wahl gehabt!? Wir hatten keine Wahl!

Als wäre die Bestrafung eines Kindes Gottes Werk, und Teufels Beitrag. Als hätte ich das auch verdient, weil ich dem Vater keine Wahl gelassen habe.

Du lässt mir schließlich keine andre Wahl, sagt er und schließt mich ein.

Wie festgeschrieben, unausweichlich.

Du lässt mir keine andre Wahl!

Die sorglos sind, sich sorglos auch benehmen, die muss ich mir vom Halse halten und verjagen. Die halte ich nicht aus.

Die Strafe für dein ungebührliches Verhalten. So sprichst du nicht mit deiner Mutter.

Mir blieb nichts mehr, als seinen Worten stumm zu folgen. Kein Widerwort, kein Zorn. Was war das doch für eine Drecksau, und Mutter lächelte beharrlich.

Du gehst jetzt in dein Zimmer. Und du bleibst dort. Hörst du! Du kommst nicht eher wieder raus, bis ich dir das gestatte.

Wie ich im Traum vor meinem Vater knie und dabei von ihm wegschaue, den Kopf so angewinkelt, dass er noch meine Tränen sehen kann. Symbolisch wütend werden.

Verzweiflung spüre ich erst jetzt.

Der Traum, in dem sich endlich die Verzweiflung zeigt. Dass ich mir selbst als Kind die Haare raufe, die voller Sand sind und voll Staub. Ich sitze auf der Armlehne, dann auf dem Herd. Und streiche mir durch meine Haare. Erwachsen streiche ich durch meine Kinderhaare. Und endlich weine ich. Und rede auch wieder, mit neuer Sprache allerdings. Und rede, weine, während ich mit meiner rechten Hand den Kopf des Jungen zärtlich streichle, erzählt der Junge endlich sein Elend.

Ich bin verzweifelt, sagt sie. Ich habe nichts Gescheites mehr zum Anziehen.

Und plötzlich wusste ich, dass ich für meine Mutter immer dann den Zorn und meine Wut zu unterdrücken lernte, wenn es ihr besser ging. Wenn sie nicht solche Angst vor meinem Vater hatte.

Das hast du wohl geträumt. Daran kann ich mich nicht erinnern. So war das ganz bestimmt nicht damals. Das wüsste ich. Das bildest du dir alles ein.

Wenn sie tatsächlich lächelte. Das war, als wäre mir vergeben.

In meinem Zimmer dachte ich dann nach, und nach, und wieder nach. Wenn man vergibt und alles richtig macht…

Vergebung – Flucht vor sich selbst


Sunday 05 March 2006

Sehr geehrte Frau Dr. Miller,
ich habe gerade „Die Revolte des Körpers“ fertig gelesen und glaube jetzt zu verstehen, weshalb Sie in Ihren letzten Büchern so stark gegen das Konzept der Vergebung „ankämpfen“. Lange glaubte ich nämlich, dass mir gerade das geholfen hätte. Doch ich fange an, daran zu zweifeln.
Vor fünf Jahren begann ich eine klassische Analyse, drei mal die Woche auf der Couch, weil ich immer wieder starke Aggressionen an meinen Kindern ausgelassen habe und die Wut nicht beherrschen konnte, obwohl ich deswegen litt. Ich hatte keine Erinnerungen an meine Kindheit, hatte aber von meiner Mutter gehört, wie sie mir in den ersten Lebensjahren mit Erfolg Gehorsam beigebracht hatte. Mir gelang das bei meinen Kindern nicht, sie wollten nicht folgen, und das brachte mich zur Verzweiflung. Ich habe unter meiner Härte gelitten, auch unter dem starken Juckreiz. In der Analyse spürte ich gelegentlich auch eine Wut auf meine Mutter, doch der Analytiker half mir zu verstehen, dass meine Eltern als Kinder sehr haben leiden müssen, weil sie beide als Waisenkinder in Heimen bei Nonnen aufgewachsen sind und dort viel Gewalt einstecken mussten. Ich bekam schnell Mitleid mit meinen Eltern, es gelang mir, ihnen alles zu verzeihen, weil ich sie als Opfer sehen konnte, und ich nahm wieder den abgebrochenen Kontakt auf. Eine Zeit lang ging es besser, auch mit meinen Kindern, aber vor einem Jahr hat sich der Juckreiz verstärkt und vor kurzem bekam ich aus heiterem Himmel die Diagnose „multiple Sklerose“. Mein Analytiker meint zwar, dies hätte nichts mit meiner Kindheit zu tun, weil es eine rein somatische Krankheit sei, aber ich frage mich jetzt, ob ich nicht doch noch sehr viel Wut in mir herumtrage, die ich ständig zu unterdrücken versuche.

AM: Sie haben durchaus recht, wenn Sie sich diese Frage stellen. Sie wissen von Ihrer Mutter, dass Sie sehr früh geschlagen wurden, Sie können sich weder an die seelischen, noch an die körperlichen Schmerzen des kleinen Wesens erinnern, das gezwungen war, sein Leiden zu verdrängen. Aber mit der MS kann der Körper diese Schmerzen aufleben lassen, wenn etwas in der Gegenwart Sie daran triggert (zum Beispiel das Gefühl, in größter Not von niemandem verstanden zu werden). Wenn Ihr Analytiker dies nicht einmal in Betracht zieht, versuchen Sie sich einen Therapeuten zu suchen, der vor Ihrer Geschichte keine Angst hat. Vielleicht kann Ihnen meine FAQ Liste bei dieser Suche behilflich sein.
Was Ihnen Ihr Analytiker empfohlen hat, ist meines Erachtens genau das, was uns krank macht, weil es die berechtigte Wut erstickt. Die Versöhnung kann eine Zeit lang Erleichterung verschaffen, weil sie die quälenden Schuldgefühle abschwächt. Man fühlt sich wie ein braves, also geliebtes Kind, falls man die Misshandlung verzeiht. Aber der Körper besteht auf der Wahrheit.
Ich selber habe schon als Kind alles getan, um meine Eltern zu verstehen, und habe diese Bemühungen, wie vermutlich die meisten Analytiker, Jahrzehnte lang erfolgreich fortgesetzt. Doch genau dies hinderte mich, das Kind zu entdecken, das Qualen unter ihnen gelitten hat. Ich kannte dieses Kind nicht. Nicht im geringsten. Ich kannte nur das Leiden meiner Eltern, auch meiner Patienten und Freunde aber niemals das meine. Erst als ich es aufgab, die Kindheit meiner Eltern zu verstehen (die sie ja selber gar nicht kennen wollten), wurde es mir möglich, das ganze Ausmaß meiner Schmerzen und Ängste zu fühlen. Erst dann entdeckte ich langsam die Geschichte meiner Kindheit und fing an, mein Schicksal zu erkennen. Und erst dann verlor ich meine körperlichen Symptome, die mir so lange vergeblich versucht hatten, meine Wahrheit zu erzählen, während dem ich meinen Patienten zuhörte und erst durch ihre Schicksale hindurch zu ahnen anfing, was geschlagenen Kindern passiert. Ich habe begriffen, dass ich mich verraten hatte. Wie so viele Analytiker wusste ich nicht, wer ich eigentlich war, weil ich mich auf der Flucht vor mir selber befand und meinte, anderen helfen zu können. Ich denke heute, dass ich nur mich verstehen muss, um andere zu verstehen, und nicht umgekehrt.

© 2015 Alice Miller – all rights reserved.

Was machte mich der Ungehorsam anderer dann später rasend. Wenn jemand das nicht hören wollte, nicht verstand, was ich gerade sagte. Wie jede Träne, die ich weinte, nur Ungehorsam war, und meine Mutter ärgern hatte können.

Jetzt kommt sie wieder.

Sie lehrte mich das Schreiben. Jetzt bin ich 3 und keine Tränen kommen mehr, wenn sie mich ansieht und mir sagt, dass ich nicht weinen, nicht mehr trenzen soll. Damit fängst du nicht wieder an. Hörst Du! Zu weinen wage ich nicht mehr; mein schweigendes Gelübde, dass ich mich nicht mehr frage, ob das, was Mutter sagt, mir auch gefällt. Ob mir das weh tut, was sie tut, das frage ich nicht mehr. Das heißt vergeben lernen. Nicht mehr nach dem Gefallen an sich fragen. Ich sage nichts mehr zu den Schmerzen. Ich tu, was Mutter sagt. Mein stummes Leiden fängt jetzt an, so ohne Wut auf sie. Dabei war das die reinste Qual. Ich dachte immer nur, der Vater hätte Schinden unter Qualen so beherrscht. Einem das Leiden ohne Leidenschaft zufügen. Oder die Lehrer, Lehrerinnen, die ich dann in der Schule hatte. Doch meine Mutter war weit schlimmer. Denn sie begann mit meiner ersten Umerziehung.

Sie lehrte mich den Griffel in die rechte Hand nehmen. Den Griffel erst befeuchten und dann in meine rechte Hand. So fühlt sich auch Vergebung lernen an. Vergebung mit den Fingern lernen. Ich drückte mit den rechten Fingern an und schon war wieder Angst. Doch zeigte ich ihr nichts davon und mir auch stetig weniger. Am liebsten hätte ich den Griffel hingeschmissen, abgebrochen, und die Tafel über ihrem Kopf zerbrochen. Stattdessen blieb ich stumm. Ich malte unter Schmerzen Buchstaben. Und noch einen und noch einen und noch einen, bis Mutter sagte: Jetzt ist gut. Genug! Jetzt ist genug mit Fluchen und mit Schimpfen. Dabei war ich zu ruhig, für einen Linkshänder.

Ich konnte nie genug Schönschreiben lernen. Es war niemals genug. Im Grunde war niemals genug, weil keine Freude dabei war, weil keine Freude kommen sollte.

Als würde ich nach Hause rennen in ein leeres Haus, in einer menschenleeren Welt, renn ich zu unsrem Haus und dabei gibt es dieses Haus nicht mehr. Versuche etwas gut zu machen, was es noch niemals gut zu machen gab. Etwas zu retten, was es niemals zu retten gab. Verzweifelter Versuch, jetzt endlich etwas gut zu machen, was niemals gut gewesen war. Vergebung und Versöhnung retten. Ich rannte tausendmal nach Haus im Traum. Ich rannte tausendmal nach Haus. Und war ich dann zuhause, dann hielt ich es nicht aus.

Endlich dem ganzen Wahnsinn einen Sinn geben. Und dabei blieb ich immer nur allein. Ich sollte mich mit meiner eignen Kindheit trösten und versöhnen, mit allem Leid, mit allem Drum und Dran.

Vergib, und ich vergebe dir! Sag nur ein Wort.

Siehst Du, jetzt kannst du wieder lachen. Jetzt ist auch wieder Sonnenschein, sagt sie.

Zum Zeichen der Verständigung.

Zeig mir dein Bein. Mit welchem läufst du lieber weg?

Ich zögerte.

Was willst du lieber tun, nach Hause gehen oder dich hier schinden, hält Vater mir am Sportplatz vor.

19.11. 2012 22:49

In meinem Freundes- und Bekanntenkreis damals, als der Gedanke auftauchte, an Leuten, die mich ins Jenseits befördern wollten, zum Glück sofort kein Mangel, an erster Stelle meine Mutter. Klar.

Wolfgang Herrndorf Arbeit und Struktur

Schön schreiben unter Schmerzen. Schön schreiben und schön schreiben. Immer weiter schön schreiben. Unter Schmerzen üben lernen. Schönes schreiben. Schöne Worte malen, dass ihr das gefällt. Schließlich von den Worten Mitleid auch erwarten. Dass mich schöne Worte tragen, an der Hand auch nehmen, weiterführen können. Dass mir schön Geschriebenes auch hilft. Schöne Worte, lächeln lernen. Dass die schönen Worte mir zurück winken. In der Nacht und im Traum.

Immer wieder lächeln lernen. Spielen. Schönschrift üben. Schöne Künste, immer wieder üben. Mit dem schön Geschriebenen. Unter Schmerzen Schönschrift üben müssen; wie Vergebung üben. Niemals Wut dabei zum Ausdruck bringen. Während ich am Tisch saß, mit dem Griffel in der Hand.

Plötzlich fallen mir die Hände ab. Plötzlich suchte ich nach meinen Händen. Plötzlich wachte ich von selber auf, suchte meine Hände, Arme, Beine. Wie im Fieber sprach ich wachgeworden. Wanderte durch unsre Wohnung. Suchte doch tatsächlich meine Arme.

Hat der Junge wieder Fieber?

Ich weiß auch nicht, woher das kommt.

Voller Elend in mir einfach weiter schreiben. Schöner, länger, fleißig werden. Wieder etwas gut machen. Trotzdem Elend schön beschreiben. Keine Fehler machen. Keine. Mit dem Hang zur Schönschrift und Schönfärberei. Mich nur immer wieder zwingen, schöne Worte finden, hinzuschreiben. Schöne Worte finden, schreiben. Immerfort Vergebung und Vergessen üben. Wieder was gut machen. Nur verdrängt man damit seine Wut.

Das einzige was mir noch bleibt, was mich befreien kann, ist mein Verhältnis zwischen mir und meinen Eltern nie mehr wieder gut zu machen. Denn das bedeutete doch schließlich wütend sein. Vergeben war, was Schlechtes, Schädliches und Schändliches nur gut zu reden und immer wieder gut zu machen müssen. Und wütend sein, bedeutete nicht länger klüger, feiner und gescheiter, als meine eigene Empfindung, sein Schatten, das Gefühl, zu sein.

Ich sah mich zum letzten Mal nach dem Haus um. Alle Fensterscheiben waren aus den Rahmen gesprungen. Armseliges totes Schilf hing in Büscheln aus der zerborstenen Decke mit dem aufgemalten Himmel. Ich blickte dem Haus tief in den todkranken Rachen.

Es war, als habe es auch die ganze Zeit Komödie gespielt und zeige sich erst jetzt so, wie es in Wirklichkeit immer gewesen war: ein hohler, zugiger Steinbrocken, im Innern voller Schutt und Dreck.

Willem Frederik Hermans Das heile Haus

Wer die Vergebung lehrt, der lenkt die Wut, der lenkt den Hass. Sie lenkte meine Wut von sich. Sie machte mich zu einem schlechten Zeugen meiner selbst, damit zu einem feindseligen Menschen, der seine Wut ablenken muss. Ich musste dann von meiner Wut ablenken. Sie warf mir immer wieder Sachen weg. Ich dachte dann schließlich, ich hätte sie verloren. Spielzeug, die Plastikindianer und später Kleidungsstücke, die ich am liebsten jeden Tag getragen hätte. So äußerte sie ihre Wut: Versteckt, verstockt, verlogen und versteinert.

Ich hätte ihr am liebsten ins Gesicht gebissen und sie entstellt, dass niemand sie erkennen würde. Ich hatte eine Phantasie als Jugendlicher, dass ich allein auf einer Straße gehe, und dann kommt eine Frau mit Sonnenbrille an mir vorbei, und plötzlich bin ich mir nicht sicher, ob das tatsächlich meine Mutter war.

Sie wollte ihr wahres Gesicht nie zeigen.

Das hatte ich gelernt, die Wut in Phantasie verwandeln, denn sie bestrafte mich, wenn ich sie nur schief anschaute.

Raus mit der Sprache. Jetzt gib es endlich zu!

Mein Schuldbekenntnis immer wieder. Denn wer vergibt, bekennt auch immer eine Mitschuld an.

Als hätte ich Mitschuld gehabt, wenn Mutter mich alleine ließ, mich Vater schlug. Vergeben müssen, schließt das Gefühl der Mitschuld ein. Gefangener. Das Fundament der Heilslehre, von meiner Mutter und von meinem Vater. Sei immer schön mitschuldig. Mach immer wieder alles gut. Die Lüge, die ich verinnerlichte, wie ich gehorchte, dass ich, und ganz egal was auch passierte, Mitschuld an jedem Opfer und in jedem Opfer sah.

Mitschuld in mir und in jedem andern suchen. Damit verhinderte ich schließlich meine Wut. Mit Mitschuld suchen, verhindert ein Kind schließlich die Gefühle. Ich konnte nicht mehr richtig wütend sein, denn immer fühlte ich mich ganz allein und auch dabei mitschuldig. Das ging so weit, dass alles was ich fühlte, mich schließlich schuldig machte, im Sinne meiner Eltern und deren Lehre.

Genau so tötet man lebendig sein und sich dabei zu freuen.