Indem der Täter den Schrei erstickt, raubt er dem Opfer noch die letzte Gebärde. Den Schmerz will er sehen, das ohrenbetäubende Brüllen und Wehgeheul sich jedoch ersparen. Deshalb nagelt er das Opfer in sich selbst fest, blockiert die Entladung des Ausdrucks und läßt den Schrei verschwinden. Ungerührt steht er daneben und beginnt von vorn.
aus: Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt
„Es ist schwierig“, sagte er, „freundlich zu einem Menschen zu sein, der nichts wünscht. Du mußt keine Angst haben und sagen, was du willst, dann kriegst du es auch. Das ist der Rat, den ich dir gebe, mein dünner Freund.“ Er gab K. einen Klaps auf die Schulter.
aus: J.M.Coetzee, Leben und Zeit des Michael K.
Die Vorbereitung
Heute halte ich noch meinen Atem an. Ich atme plötzlich nicht mehr weiter, weil nichts geschehen ist, ist nichts passiert. Ich sehe aber ihre Augen, den angstverzerrten Mund. Nichts soll passiert sein, nichts geschehen. Wenn das Telefon klingelt, reißt es sie.
Nichts darf passieren. Sage ich mir, nichts darf geschehen. Sie will, dass nichts passiert, dass nichts geschieht, dass nichts passiert sein soll. Mir nichts geschehen ist. Sie bindet mich fest an, an meinen Fesseln. Sie bindet mich ans Bett, damit mir nichts passieren kann, damit mir nichts geschieht. Dass niemand sich dann fürchten muss, weil nichts geschehen kann, damit auch nichts mit mir passiert. Deshalb bindet sie mich an. Dass mich niemand holen kann, wegnehmen und nicht wieder bringen. Wenn sie mich anschirrt, wenn sie mich anschirrt, kann nie etwas passieren und dann passiert auch nichts, wenn sie mich nur gut, fest genug anbindet. Niemand der brav ist, muss sich fürchten, sagt sie. Niemand der brav ist, wie die Mutter sagt, muss sich vor etwas fürchten. Wenn ich nur ruhig und zufrieden bin und meinen Mund schön halte. Dann wird mich auch der schwarze Mann nicht holen. Dann kann mir nichts passieren. Damit mir nichts passiert und mich der schwarze Mann nicht holt, muss ich jetzt schlafen. Der kommt doch nur, wenn ich nicht brav bin und nicht schön pariere, dann kommt der schwarze Mann.
Horch!
Mutter hört etwas. Was hört sie? Horcht, dann schreckt sie im Gesicht. Ist das der schwarze Mann? Sie hat etwas gehört, das ich nicht hören kann. Ist das der schwarze Mann? Ist er jetzt hier.
Hast du gehört?
Ist der schwarze Mann.
Vielleicht geht er auch wieder? Vielleicht geht er jetzt dann auch gleich wieder. Willst du jetzt endlich ruhig sein. Siehst du, was passiert? Jetzt sei nur schön ganz leise, dann geht er wieder weg. Hörst du, jetzt geht er wieder weg. Das war der schwarze Mann!
Sie setzte mich selbst aus. Sie überließ mich meiner Angst. Dort sollte ich mich bessern. Mit meiner Angst allein. Ich sollte meine Angst beherrschen. Ich sollte mich damit beherrschen. Ich musste mich beherrschen lernen. Ich sollte mich beherrschen. Gefühle zu verbergen lernen.
Ein Kind muss seine Angst begreifen und unbedingt auch äußern dürfen, sonst wird es diese Angst nie los.
Die Beherrschung
So tun, als wäre nichts, als wäre nichts passiert. So tun, als gäbe es die Angst nicht wirklich.
Als hätte ich, ein kleines Kind, nicht Grund genug, mich so zu fürchten. Als hätte ich nicht Grund genug, die Schreckensfrau, die mich erschreckt, zu fürchten. Als würde ich mich nicht zu Tode fürchten, vor ihr und ihr als Grund.
Ich lernte mich für meine Mutter zu beherrschen. Ich lernte mein Gefühl, egal was ich auch fühlte, zu beherrschen. Ich musste meine Angst beherrschen. Egal, ob ich mich freute, schuldig fühlte, oder schreien wollte, gleichgültig ob ich glücklich oder unglücklich war, ob traurig oder gleichgültig, zufrieden, ich herrschte auch darüber nur; ich konnte nicht gerade heraus, für mich, aus mir heraus empfinden.
Sie brachte mir das unter meinen Schmerzen bei, dass ich mich selbst, auch ganz allein beherrschen würde können. Ich lernte mich zu kontrollieren, ich lernte mich zu beherrschen. Ich lernte zu beherrschen, zu kontrollieren. Mit kalter Präzision. Furcht erregend.
Die Wut des kleinen Kindes zerreißt das dichte Netz der angepassten, angelernten Reaktionen, die sich aus Angst des Kindes vor den Eltern begründet haben. Kein Kind kann sich von Natur aus beherrschen. Nur mit Gewalt und Grausamkeit kann es beherrschbar werden.
Wer als Kind beherrscht wurde und sich zu beherrschen lernen musste, lernt beherrschen, sich und jeden anderen. Ein ehemaliges Kind wird solange Gewalt und Herrschaft ausüben, solange es nicht weiß und wirklich fühlen kann, wie aussichtslos verzweifelt es sich dabei fühlte, wie ausgesetzt es seinen Eltern war, wie unbeherrschbar seine Eltern wirklich waren, wie unbeherrscht in meinem Fall die Mutter für mich wirklich war und wie sie mich beherrscht hatte.
Die Vollendung
Ich bin schockiert und atemlos. Ich bin für den Verlust, für mein Gefühl selbst schuldig, wenn mir wer etwas stiehlt, wenn irgendwer was von mir nimmt. Dann bin ich dafür verantwortlich, das sagt, das fordert Vater. Dass wenn ich was verliere, dann einfach nicht richtig aufgepasst habe, dass wenn mir jemand etwas stiehlt und raubt und klaut, entwendet, ich selber dann schuld sei, weil ich dann meine Augen nicht weit genug geöffnet hätte, sagt er, dass ich dann nicht genügend gut auf mich und mein Zeug aufgepasst hätte. Wenn mir etwas passiert, dann habe ich nicht aufgepasst, dann habe ich nicht richtig aufgepasst, egal was mir passiert, was auch mit mir geschieht, egal was jemand mir antut, was mir ein Fremder auch antut, ich habe nicht genügend aufgepasst, wenn ich dann jammern würde, sei ich doch selber schuld, das sagt mein Vater mir. Egal was mir passiert, geschieht, dann habe ich nicht richtig aufgepasst, dann sei ich doch zumindest selber schuld, zumindest selbst dafür verantwortlich, egal was auch geschehen ist, wenn etwas wegkommt, fehlt, gestohlen wird, kaputt geht, plötzlich fehlt, dann ist das ganz alleine meine Schuld, sagt er mir immer wieder, wenn ich auf das, was er mir gibt, was er mir schenkt, nicht gut genug aufpassen würde, dann sei mir nicht zu helfen. Wenn etwas wegkommt, ein für alle Mal, gestohlen bleibt, verschwunden, dann bin ich schließlich selber schuld, schließt seine Litanei.
Wenn mir wer etwas wegnimmt, stiehlt, kaputt macht und zerstört, muss ich dafür auch haften, weil ich für ihn im Grunde dafür selber schuldig werde, wenn ich nicht aufpasse, auf mich und meine Siebensachen. Das habe ich geglaubt, den Irrsinn, den Glaubensirrsinn meines Vaters. Ich fühlte mich selbst schuldig, wenn mir was zustieß, was passierte, wenn mich wer schlug, dann fühlte ich mich schuldig. Ich übernahm als Opfer für meine Schmerzen, Leid, für alles eine Eigenhaftung. Ich haftete dafür, selbst wenn ich überhaupt nichts dafür konnte. Ich war allein und blieb als Kind bei meinen Eltern auch allein, weil meine Eltern keine Ahnung von ihrer Kindheit hatten. Sie fühlten nichts mehr für ein Kind und das beherrschte sie vollkommen.
Ich fühlte schuldig sein, wenn ich mich freute, lachte, wenn mir was fehlte, wenn ich traurig war und wenn ich Schmerzen hatte. Ich fühlte Schuld, wenn ich mich fürchtete und krank war, oder einsam und verlassen. Das war mein Glauben, wenn ich was fühlte. Das übernahm ich von den Eltern. Es gab darin ausschließlich Schuld für unschuldige Kinder. Mein Vater sagte mir, ich würde mich zugrunde richten, wenn ich nicht richtig aufpassen würde. Ich sollte mich allein beherrschen, mich fürchten und mich schuldig fühlen. Das war die Glaubensanordnung meiner Eltern. Ihre Gebote befolgen und beherrschen lernen, von denen sie auch selbst beherrscht wurden.
Das Unbewusste lernen. Das ist der größte Schutz, den es für Täter gibt. Dass Kinder glauben müssen, was Täter ihnen vorleben, dass es nichts anderes, nichts gütiges und gutes, nichts gültiges noch irgendwo und außerhalb des Tatorts gibt.
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