Texte von Hugo Rupp

Die gefangene Seele

 

Am Morgen wachte ich verwundet auf und wusste nicht einmal, dass ich verwundet worden war. Ich wachte auf und war verwundet und wusste nicht woher. Ich wusste nicht, dass ich nicht heilen konnte. Ich wachte jeden Tag verwundet auf und wusste nichts davon. Ich wusste nicht, dass ich verwundet wurde. Denn Seelen gab es nicht bei mir zuhause.

Wenn Vater schimpfte, gab es die Verletzung nicht. Die Eltern wussten nicht, dass Schimpfen auch verletzen konnte. Sie wussten nicht, dass Schläge mich verletzten.

Das was sich nachts in meinen Träumen hin und herbewegte, was mich am Morgen vor dem Spiegel schauen schon begrüßte, dass da was war, das einfach nicht weg war. Ich wünschte mir, dass nichts da sei, egal was auch passierte.

Dass niemand was bemerkte, was auch geschieht und noch geschehen wird, dass nichts von alledem, was böse ist und war und schmerzhaft, auch erkennbar ist. Dass alles nichts für mich bedeutet. Dass nichts, was in mir vorgeht und geschieht, dass kein Benehmen meinerseits, als Wirkung eine Handgreiflichkeit gegen mich widerspiegelt.

Ich wollte nicht mehr schuldig sein. Wenn ich auf meine Eltern reagieren würde, dann würde ich mich schuldig machen. Ich wollte nicht mehr schuldig sein. Die Eltern wurden unsichtbar. Mein Schmerz als Kind, unsichtbar sein, mir selbst nicht trauen können, etwas das da ist, selbst bezweifeln, unfassbar traurig, unheimlich wütend. Unsichtbar krank und immer böser werdend. Unfassbar war ich für mich selbst. Ich wollte nicht mehr schuldig sein. Mich nicht mehr schuldig fühlen müssen.

Bleib du nur schön zu Hause, ruft er.

Er ruft von oben. Ich wollte aus dem Haus. Ich schlich. Doch seine Stimme hält mich fest. Drei Stockwerk höher schaut er aus dem Fenster. Die Mutter neben ihm. Sie lehnen beide aneinander. Sie lehnen auf der Fensterbank und lächeln.

Das ist jetzt eine halbe Stunde her, dass er mich so geschlagen hat. Jetzt schauen sie die Sonne an und Vater spricht und Mutter hört ihm wieder zu. Das ist erst eine halbe Stunde her, dass er mich wegen eines Satzes, nur wegen meiner Worte so geschlagen hat, dass ich mir Sorgen machte, er würde mich tatsächlich töten. Erst schreit er mich vor Mutter und der Schwester so zusammen, als wäre ich sein Dreck, dann schlägt er zu. Dann hört er auf und schickt mich weg, nach unten in mein Zimmer.

Die Eltern auf dem Fensterbrett. Was erst vor einer halben Stunde war, schien für die beiden überhaupt nicht mehr vorhanden.

Geh schön zurück. Geh ganz schnell wieder in dein Zimmer.

Das rief er einfach runter, zur Straße hin, vom dritten Stock nach vorn zu mir nach unten. Ich stand gebückt, mit eingezogenem Kopf und hochgestellten Schultern, die Augen auf den Boden, nur nicht nach oben, dachte ich. Nur diese Menschen nicht ansehen.

Nur nicht gesehen werden!

Geh schleunigst wieder in dein Zimmer.

Die Mutter sagte nichts. Dann hörte ich wie beide tuschelten. Sie lachte, oder bilde ich mir das nur ein?

Geh schön zurück. Du brauchst heut nicht mehr wegzugehen. Bleib schön zu Hause.

Ich spürte Druck auf meinen Ohren. Ich schloss die Tür und ging wieder zurück. Ich ging den dunklen Gang zurück und in mein Zimmer. Ich setzte mich auf meinen Stuhl und starrte vor mich hin. Ich hatte nichts. Ich hatte nichts zu sagen. Ich war unheimlich leise. Ich saß nur da. Ich hatte nichts zu sagen. Die Eltern lächelten bestimmt jetzt noch an ihrem Fenster. Ich saß bei Lampenlicht und schaute ebenfalls aus meinem Fenster, das auf den Lichthof ging und dann nach oben. Das Tageslicht war hier zu wenig, verlor sich auf dem Weg zu mir. Doch das ist alles nur bildhaft verbogen.

Da war nicht eine Andeutung, dass sie mitfühlen würden.

Ich schaute weiter vor mich hin.

Ich war nicht mehr verwundbar wie ein Stein. Ein Holzstück spürt auch keinen Schmerz, wenn man es nimmt und damit schimpft. Wenn man ein Holzstück auch verflucht, spürt dieses Holz doch nichts. Aus hartem Holz, geschnitzt. Aus Holz.

Bleib du nur schön zuhause. Und geh gefälligst in dein Zimmer.

Da ist sie, diese neuerliche Drohung, jetzt. Dass nur ein Wort schon eine Wirkung zeigt bei mir. Dass ich pariere wie ein Löwe. Ein Löwe sagt auch nichts. Auch wenn ich der gern wäre. Wie Zirkuslöwen sind, vor denen man doch ängstlich ist. Doch tun die auch nichts ihrem Herrn. Die müssen auch parieren und Kunststücke vollführen. Dass die aufs Wort gehorchen und schön zurück in ihren Käfig schlurfen. Die gehen ihren Gang entlang, wie ich in meinem in mein Zimmer schleiche. Die gehen immer wieder in den Käfig, und ich in meinen. Wir gehen, trotten, schlurfen, schleichen ohne Widerrede. Das Publikum klatscht dabei unaufhörlich, auch froh erlöst und lächelnd, dass wieder nichts passiert ist, nur ein Spiel.

Sie klatschen über unsre Demütigung. Die Huldigung an den Dompteur.

Warum die Löwen den Dompteur nicht einmal beißen?

Dann werden sie erschossen. Denn wilde Löwen schießt man tot. Wenn die nicht aufs Wort gehorchen, zuschnappen und womöglich einen beißen, dann muss man die sofort erschießen. Wenn die erst Blut geleckt haben, sagt Vater über Löwen.

Die schießt man einfach tot. Die werden gleich getötet. Da bleibt dem Zirkus keine Wahl. Wenn Löwen einmal Blut geleckt haben, dann muss man sie sofort erschiessen.

Ein böser Löwe darf nicht länger leben. Das kann sich kein Dompteur erlauben.

Geh schön zurück jetzt in dein Zimmer, das sagte ich mir selbst.

Ich ging zurück in meinen Käfig. Ich schlich. Als Löwe und als Kind und wurde immer böser.

Ich wachte jeden Tag verwundet auf und wusste nicht warum. Ich konnte meine Not nicht fassen. Sie war so unerträglich leicht, so leicht und dünn und fadenscheinig, sie war unglaublich und unscheinbar dünn, unheimlich flüchtig. Kein Nebel, vielmehr dünner Rauch, vielmehr die Ahnung einer Ahnung eines Rauchs. Ein Geist, der Angst vor Geistern hat und sich versteckt.

Zahnloser Löwe.

Ich war in meinem Käfig jetzt gefangen. Ich war von selbst zurückgegangen. Ich starrte vor mich hin. Ich wurde böse, und niemand half mir dabei wieder raus. Ein Kind kann ohne seine Wut aus einer selbst unfreiwilligen Gefangenschaft nicht mehr entkommen. Ein Kind kann nicht von sich aus fliehen. Ich konnte meine Wut auf meine Eltern nicht ergreifen. Ich saß allein mit wenig Licht in meinem Zimmer.

Zahnloser Löwe, denke ich.

Zahnloser Löwe, sagte einst mein Vater.

Dabei fehlten ihm auch ein paar Zähne.

Ich sehe immerzu die beiden. Als Paar. Als Paar dicht aneinander. Sie traten mir als Paar entgegen. Ich konnte nichts entgegnen. Ein Kind kann da nichts tun. Es kann die Not allein gar nicht begreifen. Es braucht dabei ja einen Zeugen. Der auch für seine Einsamkeit die Hand ins Feuer legt. Und dessen Hand schon einmal so dermaßen brannte. Der einen solchen Schmerz bestätigt.

Ein Kind kann seiner Not allein niemals begegnen und auch nicht seiner Wut. Es kann allein das nicht begreifen, dass ohne seine Wut die Not niemals vergeht.

Darum ist diese Unerträglichkeit für ein Kind unfassbar. Weil es die Leichtigkeit nicht fassen kann. Wie leicht die Eltern ein Kind gefangen nehmen können. Wie gut sie beide darin sind. Wie gut sie damit wegkommen.

Die größte Not des Kindes: Sich selbst nicht mehr loslassen können und das Gefühl Gefangenschaft, gefangen sein, gerade von sich selbst, gar nicht verstehen. Woher das kommt. Wie das geschehen musste.

Wie Alice Miller das in ihrem Buch, Das verbannte Wissen, schreibt: „Die lebensrettende Funktion der Verdrängung in der Kindheit verwandelt sich später beim Erwachsenen in eine lebenszerstörende Macht.“

Wie schwer das ist, sich später wieder zu befreien und sich dann selbst auch wieder gehen lassen. Wie schwer das ist, sich später noch als Kind auch wieder ernst zu nehmen. Sich nicht mehr selbst von seiner eignen Liebe ausgeschlossen fühlen.