Texte von Hugo Rupp

Die Eltern an sich durchschauen

Wie schlecht die Angewohnheit ist, alles vor sich und an sich selbst tatsächlich zu verbergen und zu verschweigen, alles andauernd vor sich herzuschieben. Nur zu verhehlen, was einen angreift, peinigt und beleidigt und entwürdigt und entwertet und wie man gleich von Anfang an doch nur verachtet worden war.

Was bildest du dir ein?

Mich selbst entwerten.

Was fällt dir ein!?

Verdrehen und verderben. Wie abfällig und wie entwertend sie gesprochen hat. Wie wunderlich und launenhaft, wie seltsam und unheimlich. Sie lenkte immer nur von sich ab.

Gleich kommt der Schwarze Mann.

Ich sollte mich für jede Art Berührung schämen und entschuldigen. Ich sollte immer nur bereuen, wenn ich vor Hunger schrie, verhungert nach Berührung. Wenn ich verhungert schrie.

Was schreist du denn andauernd?

Was schreist du nur herum?

Die unschuldigen Schreie, die Hungerschreie, für die mich meine Mutter immer nur beleidigt hat.

Was schaust du mich so an?!

Was ich für eine Angst vor ihr gehabt hatte. Endlich begreife ich die Angst vor der Gefühllosigkeit.

Du musst doch nicht gleich schreien.

Endlich begreife ich die Angst.

Was fällt dir ein?!

Jetzt geh ich weg und komm nie wieder. Jetzt hast du es geschafft. Jetzt lasse ich dich ganz allein.

Ich hatte das Gefühl, ich müsste meiner Mutter helfen und entgegenkriechen.

Das bildest du dir ein?

Hab ich dir nicht gesagt, du sollst still sein.

Nicht, weil ich schlecht geschrien hatte. Die Schreie waren gar nicht schlecht. Die Schreie und mein Weinen waren gar nicht schlecht gewesen, nur meiner Mutter wurde davon übel.

Dir werd ich helfen!

Pass auf.

Dir werd ich Beine machen.

Eine Maschine, die mich angriff, wenn ich nicht gleich parierte und gefühllos für sie sein konnte.

Was schreist du denn?

Du hast doch alles, was du brauchst.

Halt endlich deinen Mund!

Das wird dir nochmal leidtun.

Als würde mir andauernd jemand nachpfeifen, ich hätte mich versündigt und vergangen.

Das bildest du dir ein!?

Sie strafte mich und ging dann weg. Endlich begreife ich die eigene Sprunghaftigkeit, die Launenhaftigkeit, mein eigenes Gehabe und Getue; die eigne kapriziöse Art, Gereiztheit und Gehetztsein.

Was bildest du dir ein.

Was ich mir wünschte und mir merkte und erfuhr.

Anhänglichkeit, die kommt daher. Im Kinderkrankenhaus. Da war ich zwei. Wie ich an meiner Mutter hing und wie ich an ihr festhielt. Und wie ich an ihr festgehalten habe, als gäbe es gar keine andere. Mir blieb ja gar nichts anderes übrig.

Was fällt dir ein!?

Ich konnte nur ins Leere schreien, so wie ins Leere schwimmen.

Was sagst du da?

Der tote Blick, mit dem sie mich bereinigte, mit dem sie mich von Anfang an bestraft hatte, der tote Blick von ihr, verfärbte meine Seele. Ihr toter Blick hat mich vergiftet, mit dem sie sich selbst reinigte von jeder Schuld und Scham freisprach.

Was fällt dir ein?!

Nur immer weiter giften und vergiften.

Jetzt kommt der Schwarze Mann.

Ihr toter Blick, der mir so eine Angst gemacht hatte, von dem ich nicht wegkam.

Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede.

Der tote Blick, mit dem sie mich erschreckt hatte, der hatte mich herangezogen.

Das bildest du dir ein!?

Das ist doch gar nicht wahr.

Was sie mit ihren toten Augen anstellte.

Wenn du nicht gleich still bist.

Jeder Versuch zu schreien und zu weinen, mich von den Schmerzen zu befreien, wurde von ihr von Anfang an bestraft. Wenn ich es mit der Angst bekam, wenn ich so einen Schrecken hatte, wenn ich vor Angst nicht richtig Luft bekam und wenn mir eng ums Herz geworden war, so eng, dass ich im Grunde nichts mehr wusste und verstand. Nichts mehr von mir verstand, nur mehr voll Angst. Nur mehr die Angst und gar kein Wissen mehr, dann hat sie sich gefreut.

Wenn du nicht gleich still bist, dann kommt der Schwarze Mann.

Ich wusste doch, dass sie mich immer dann alleine ließ, wenn ich zu weinen anfing und zu schreien. Ich wusste doch, dass sie mich ganz alleine lassen würde, dass sie mich quälen würde, wenn ich nicht aufhörte, zu schreien und zu weinen. Ich wusste doch, dass meine Mutter mich so lange quälen würde, solange ich so weinte und so schrie.

Das bildest du dir ein?

Warum ich immer nur daran gedacht hatte, dass mir aus heiterem Himmel jemand wehtun würde, dass mich jemand erschlägt und überfällt und ich kann nichts dagegen tun.

Schluss jetzt!

Die Grausamkeit lehrte das Fürchten. Ohne die Grausamkeit kann man nicht Fürchten lernen. Nur mit der Grausamkeit kann einem Kind das Fürchten beigebracht werden. Nur mit dem Fürchten lehren.

Was fällt dir ein?!

Was mich das Fürchten lehrte.

Was schaust du mich so an!?

Mein fortwährendes Unbehagen, das kommt und kam daher. Mich unbehaglich fühlen in der Nähe sowie in weiter Ferne von den Menschen, auch ganz allein; dauerndes Unbehagen, scheinbar grundlos. Als wäre ich verflucht.

Jetzt kommst du in ein Heim.

Ich konnte meine Unschuld nicht beweisen und beteuern.

Am See, wo ich einst schwimmen lernte. Ich schwimme so, dass meine Mutter mich noch sieht, dass meine Mutter mich noch sehen kann. Das fällt mir plötzlich ein. Dabei schwamm ich tatsächlich so, dass meine Mutter mich noch sehen hätte können, wenn sie geschaut hätte. Wenn sie den Wunsch verspürt hätte, mich sehen zu wollen. So dachte ich, ich muss mich so verhalten, dass meine Mutter mich noch sehen kann.

Mein Schmerz, dass sie mich gar nicht sehen wollte, wenn mir was fehlte, wenn mir etwas weh tat. Wenn mir etwas missfiel, dass meine Mutter mich ja gar nicht trösten hatte wollen.

Dass sie mich nicht im Blick behielt. Dass sie mich nicht im Blick behalten wollte.

Jetzt geh ich weg und komm nie wieder.

Warum ich immer das Gefühl hatte, ich müsste mich verteidigen, auch wenn ich ganz alleine war und niemand anders in der Nähe.

Weil ich mich nicht mal angegriffen hatte fühlen dürfen.

Was sagst du da?!

Gleich war sie da, gleich kam sie wieder an, solange ich mich wehrte, mit Händen und mit Füßen, mit meinen Tränen und der Wut. Gleich kam sie an und schimpfte mich. Ich durfte mich nicht einmal angegriffen fühlen.

Was fällt dir ein?

Endlich verstehe ich, was ich die ganze Zeit über versucht habe. Ich darf nicht angegriffen werden. Hab ich in mir gesagt: ich darf nicht angegriffen werden. Sonst kommt sie an und schickt mich weg und steckt mich in ein Heim, gleich holt sie diesen Schwarzen Mann. Gleich dreht sie durch und spielt verrückt. Ich darf mich nicht mehr angegriffen fühlen, sonst ist es aus.

Hör endlich auf mit deiner ewigen Jammerei.

Als würde sich kein Schmerz gehören.

Was fällt dir ein!?

Wenn ich nur einen Fehler jetzt noch machte, dann lässt sie mich allein. Ich konnte gar nicht lernen, dass Angst nur ein Gefühl ist, das sich verändern kann; das ich verändern kann. Dass ich nur meine Angst verändern kann.

Wenn du nicht wärst, dann wäre ich schon längst woanders.

Wenn du nicht wärst, dann wäre ich schon längst weit weg und über alle Berge.

Dein Vater wird sich nicht um dich dann kümmern.

Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

Franz Kafka Der Prozeß

Das Wissen um den Wert der eigenen Gefühle. Das Wissen um den Wert im Spiegel der Gefühle. Das Wissen um den Wert im Spiegel der Gefühle meiner Mutter. Wie sie mir gegenüber war, wie sie mir gegenüber stand. Wie sie mir gegenüber war und wie ich mich darin gespiegelt fand. Was mir gefiel, hat meine Mutter mir zerstört. Und wie entsetzt ich war, wenn ich die Mutter wieder fand. Wie sie mir gegenüber war. Wie fürchterlich ich mich selbst fand im Spiegel der Gefühle meiner Mutter. Wie ekelhaft und schmutzig und gemein ich mich selbst fand im Spiegel der Gefühle meiner Mutter. Kein Wissen um die eigenen Gefühle, das war im Grunde furchterregend. Weil meine Mutter alles furchtbar von mir fand, tatsächlich alles, sobald ich nach ihr rief, sobald ich nach ihr fragte, sobald ich einfach Hunger hatte. Weil meine Mutter alles von mir furchtbar fand, fand ich mich schließlich selber furchtbar, furchterregend, ekelhaft und ohne Wert.

Wie kann man nur so furchtbar schreien?

Sie blickte immer nur geringschätzig auf mich. Endlich kommt das heraus. Die eigene Geringschätzung. Für jeden Schmerz, für jede Äußerung, selbst für die Freude. Für alles immer nur Geringschätzung zu ernten, gering geschätzt zu werden.

Was fällt dir ein?

So wie ich später dann auch war, wenn andere was von mir wollten. Es kam im Grunde immer nur Geringschätzung für alles hoch und in mir auf, für jeden und für alles.

Du kriegst einfach nicht genug.

Du kriegst deinen Hals nicht voll.

Was weinst du denn!?

Was ist nur mit dir los!?

Ihr war im Grunde immer alles nur zuwider.

Vor was hast du denn eine solche Angst?

So fing es nämlich an. Mit meiner Angst, mit meiner großen Angst.

Ich weiß gar nicht, warum ich mich um dich noch kümmere.

Du machst nur Dreck.

Was schreist du denn schon wieder?

Du machst mich noch verrückt!

Aus Angst, nichts wert zu sein.

Ich konnte gar nicht merken, dass meine Angst, nichts wert zu sein, von meiner Mutter kam und ihren Lügen. Die Lügen meiner Mutter hatten keine kurzen Beine. Sie kamen nicht mal kurz ans Licht. Sie deckte sie mit neuen Lügen zu. Und ich begriff es nicht.

Das wird dir noch mal leid tun.

Das wirst du mir noch büßen.

Die Angst, nichts wert zu sein, die kam gar nicht von ungefähr.

Du hast gar keinen Grund zu weinen, gar keinen Grund so herumzuschreien.

Man kann sich ein Gefühl nicht ohne Grund ausdenken und deshalb nicht ausmalen. Kein Kind kann sich Gefühle einbilden. Man kann gar keine Angst empfinden ohne Grund.

Im Mittelpunkt zu stehen, im Mittelpunkt stehen zu müssen und dabei gar nichts wert zu sein. Der aufgebahrte tote Junge fällt mir ein, den ich mir ganz alleine angeschaut hatte im Leichenschauhaus, der ein paar Jahre älter war als ich. Die Angst, die in mich schoss und nicht mehr von mir wich und die mich wie ein Schatten dann verfolgt hatte, vom Friedhof weg, den Gang entlang, die Friedhofsmauer lang und leises Flüstern und Geraune und Gehüstel, wie Geister die sich spinnefeind sind, sich gegenseitig schrecken und erschrecken, und auf dem Weg nach Hause, die Treppen hoch zu Mutter; diese Angst.

Endlich begreife ich das Kind, das ganz alleine steht und schweigt. Endlich begreife ich die Angst des kleinen Kindes, das ganz alleine ist und schweigt. Das fürchterliche Kind. Mit dem Gefühl, allein zu sein und gar nichts wert. Im Grunde nie etwas wert sein zu dürfen mit seiner Angst.

Das ist doch gar nicht wahr!

Die Wunde, die nur Schuld und Scham ausströmend und auslösend war, bei jeder neuerlichen Art Verletzung.

Sei endlich still!

Wenn ich nur an sie dachte.

Das glaubt dir doch kein Mensch.

Ich sollte mir kein Bildnis machen.

Das bildest du dir ein?

Solange ich die Wut nicht fand, gab es kein Bild von mir. Solange konnte es kein Bildnis meiner Seele geben.

Das bildest du dir ein?

Ich sollte mir kein Bildnis meiner Kindheit machen. Ich sollte nicht verstehen. Ich sollte mir nicht merken können, warum ich eine solche Angst gehabt hatte. Ich sollte nicht verstehen, wie es gekommen war, dass ich doch eine solche Angst, nichts wert zu sein, mit ihr verband. Weil keine Hilfe kam und keine Form von Liebe. Ich konnte straffrei nie etwas erklären.

Mach endlich dein Maul auf.

Ich konnte mich nicht straffrei äußern und bewegen.

Niemanden interessieren deine Tränen.

Niemand interessiert sich für dein Geschrei.

Warum ich so an meiner Mutter hing und mich an ihr festhielt.

Ich will dich nicht mehr sehen.

Dass ich mich an ihr festhalte. Dass ich das kann, auch wenn die Mutter das nicht mag. Dass ich mich an sie halten kann. Dass ich nicht ganz alleine bin.

Glaubst du, ich hätte nichts besseres zu tun, als mich um dich zu kümmern?

Glaubst du denn wirklich, ich hätte nichts anderes zu tun?

Glaubst du denn, dass ich mir nichts besseres vorstellen kann, als mich um dich zu kümmern.

Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede.

Gleich kannst du was erleben.

Sie konnte nicht genug bekommen von meiner Angst. Sie konnte nicht genug bekommen vom Angstmachen. Deswegen habe ich mich so an sie geklammert und mich an ihr noch festgehalten, nicht weil ich was für sie empfand, sondern so eine Angst gehabt hatte.

Was fällt dir ein?

Ich musste mich an ihrer Angst festhalten.

Geh in dein Zimmer und sei still.

Sonst kommt der Schwarze Mann.

Ich habe nie was anderes gelernt, als Angst zu haben und wie man sich Angst macht. Nur immer wieder Angst zu haben, nur immer wieder Angst zu machen, mir selbst wie jedem anderen.

War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.

Franz Kafka Der Prozeß

Ich konnte mich von meiner Mutter gar nicht unterscheiden. So konnte ich nicht merken, dass ich unschuldig war an ihren Widerwärtigkeiten und ihren Widersprüchen. Was mich doch all die Jahre so bedrängt und so gekränkt hatte, dass ich tatsächlich dachte, ich hätte doch an allem irgendwie selbst Schuld gehabt. Ich wäre doch an allem selber schuld gewesen, was meine Angst betraf. Als hätte ich die Widerwärtigkeiten meiner Mutter doch verdient gehabt. Und würde mich zu Unrecht ärgern und aufführen. Ich würde doch zu Unrecht so dermaßen wütend sein und zornig und würde mich zurecht so schämen. Weil es für meine Schmerzen nur Schuld gab, Verachtung und Beschämung.

Die Auffindung

Das glaubst du doch wohl selber nicht.

Dieses Verbot. Du sollst nicht wütend sein. Du sollst der eigenen Wut nicht trauen.

Was schreist du so herum, als wärst du ganz alleine auf der Welt.

Sie sah nicht nur nie meinen Schmerz. Sie nahm ihn gar nicht wahr. Deswegen schrie ich wie am Spieß. Für meine Mutter gab es meine Schmerzen nicht. Es sollte mich damit nicht geben.

Schämst du dich nicht, nur immer so herumzuschreien.

Sie wollte mich nicht bessern. Endlich begreife ich den Unterschied. Ich habe immer nur versucht, mich so dann zu verhalten, dass sie mich nicht gleich wieder trifft. Dabei hab ich gedacht, ich müsste und ich würde mich verbessern. Sie aber konnte nur Vergeltung üben.

Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle?

Franz Kafka Der Prozeß

Sie hat mir immer nur was vorgespielt und mir damit was vorgehalten.

Ich sollte mir nicht merken, wie sie dabei aussah und wie sie strahlte, wenn sie an mir Vergeltung übte. Ich sollte mir nicht merken, wie sie vor mir gewesen ist. Ich sollte mir nicht merken, wie sie dabei mit ihrem Mund und ihren Augen und den Zähnen spielte. Wenn sie mich quälte und verlachte.

Schäm dich?!

Wie ich den Kopf tatsächlich eingezogen habe, um mich zu schützen vor den Schlägen und den Schimpfworten, Schimpfkanonaden und Verleumdungen. Wenn ihre Stimme kam und brach.

Jetzt lasse ich dich hängen.

Jetzt kommt der Schwarze Mann.

Der nimmt dich mit.

Ich musste meine Äußerungen hassen.

Gleich kommt der Schwarze Mann.

Ich konnte ihre Angst ja gar nicht fassen. Ich konnte gar nicht sehen und begreifen, dass sie doch von ihr kam. Ich konnte ihre Angst ja gar nicht sehen. Ich konnte sie damit gar nicht begreifen. Ich konnte nicht verstehen, was ich mir eingebildet hatte. Ich konnte nicht verstehen, dass sie mit Angst andauernd predigte. Dass sie aus Angst gepredigt hat. Warum ich mir andauernd in die Augen griff. Ich wollte ihre Angst aus meinen Augen haben. Und konnte nicht verhindern, dass ihre Angst andauernd in mich sah und zu mir kroch. Dass ich mir doch tatsächlich ihre Angst zu eigen machte. Ich konnte das ja gar nicht merken, wie grausam sie tatsächlich war. Wie grausam und abscheulich sie mit ihrer Angst zu mir gewesen ist, mit ihrer Angst vor allem Möglichen, allem Lebendigen, im Grunde doch vor jeder Art Gefühl. Ich musste mir ja vorstellen, ich wäre gar nichts wert mit meiner Angst in meiner Einsamkeit. Ich musste mir vorstellen, der Schwarze Mann, der würde mich mal holen. Ich konnte nicht verstehen, was Wahrheit und was Lügen sind. Ich konnte gar nicht unterscheiden. Ich konnte meine Mutter nicht durchschauen.

Was ist denn dir in den Kopf gestiegen?

Das darf doch wohl nicht wahr sein.

Der aufgebahrte Junge, und mein Vater schlägt mich. Mein Vater fotografiert, und meine Mutter richtet mich dafür her.

Und hauen sie ihm ruhig eine runter, er ist es von zuhause gewohnt.

Für ihre Selbstdarstellung.

So wie der im Leichenschauhaus ausgestellte Junge. Endlich begreife ich den Schock. Das war gar keine Selbstdarstellung, sondern eine Zurschaustellung eines toten Jungen. Die Eltern stellten ihn doch aus. Sie stellten ihn in einem offenen Sarg zur Schau. Sie stellten ihren Jungen aus. Das waren seine Eltern. Das war doch ihre Darstellung für andere gewesen. Das war doch eine Art Vergeltung. Die Selbstdarstellung als Vergeltung.

Das wird ja immer schöner.

Kannst du jetzt endlich einmal damit aufhören.

Ich konnte mich nicht zugehörig fühlen.

Was schreist du denn?!

Was ist nur mit dir los!?

Was schaust du mich so an?!

Was lachst du denn so blöd?

Es konnte keine Nähe geben. Es sollte kein Gefühl, nicht einmal ein Gespür dafür entstehen. Nur unverzeihliche Gewalt.

Jetzt weinst du ja schon wieder.

Weil ihr Verhalten unverzeihlich war. Als Kind hab ich schließlich gedacht, mein Weinen wäre unverzeihlich. Die Tränen und mein Weinen wären unverzeihlich, so habe ich schließlich gedacht. Mein Weinen unverzüglich einstellen, das habe ich gedacht.

Ich konnte mich nur an die Vermutung halten. So wie ich das begreife, denn alle Worte, alle Taten, die ich als Kind vernahm, taten mir weh, denn alles, was von den Eltern kam, hat mir im Grunde wehgetan und Angst gemacht. Mir hat ja alles weh getan, was von den Eltern kam. Ich konnte ja nur mehr verneinen und vermuten.

Das bildest du dir ein.

Ich konnte nur, wenn ich was las, wenn ich was sah und wenn ich etwas tat, im Grunde das verneinen. Ich konnte doch nur mein Missfallen kundtun. Ich konnte nur verneinen. Ich konnte nur missfallen. Ich konnte nur missfallen und das kundtun. Ich konnte nur missfallen und mein Missfallen kundtun. Das hatte ich von Anfang an erfahren. Ich durfte nur missfallen.

Gleich kommt der Schwarze Mann.

Endlich begreife ich den Schmerz. Ich konnte nur missfallen, denn alles, was ich äußerte, mit allem, was ich kam, machte der Mutter Angst.

Ich konnte nur Vermutungen anstellen. Ich konnte nur das Schlimmste ahnen und befürchten. Ich konnte gar nichts andres tun. Ich konnte meiner Angst gar nicht begegnen. Weil es nie ein Entgegenkommen gab, aus Angst, mit ihr.

Das bildest du dir ein?

Der Geist der stets verneint, ist nicht der Hass, sondern die Angst.

Was hast du denn?

Ich tu dir doch gar nichts.

Was schreist du denn andauernd?

Ich konnte das nicht widerlegen.

Schau dich gefälligst an!

Hast du nicht gehört?

Du sollst mich gefälligst ansehen.

Schau mich gefälligst an.

Und lüg mich jetzt nicht an.

Was bildest du dir ein?

Die Angst an sich.

Ich mache doch nur Spaß.

Ich sollte meine Angst bereuen, das hat sich meine Mutter ausgedacht und vorgestellt für mich. Ich sollte ihr gegenüber die Gefühle immer nur bezweifeln. Wenn sie mich stellte und in eine Ecke trieb.

Was schaust du mich so an?

Du musst doch nicht so traurig schauen.

Heut ist doch so ein schöner Tag.

Wie sie die Angst von mir genoss, und wie ich sie bereute und mich fürchtete.

Was hast du denn?

Ich schämte mich für meine Todesangst.

Du brauchst doch vor mir keine Angst bekommen.

Deswegen sind die Räume meiner Kindheit kahl und leer und furchtbar kalt. Und dunkel, ohne Ton. Still wie die Nacht und finster, denn immer, wenn das Licht anging, sah ich die Mutter auf mich zukommen oder im Raum stehen mit den verschränkten Armen. Der Schweiß stand ihr in Blindenschrift geschrieben auf der Stirn. Panische Angst, was wird wohl jetzt geschehen.

Was hast du denn?

Was ist nur mit dir los?!

Sie suchte immerzu nach einer Lösung, um nicht gleich was herauszuschreien. Ich kam dabei vor Angst fast um und deshalb nicht auf den Gedanken, was hinter den Gedanken meiner Mutter stecken könnte. Und hinter ihrer Sprache. Hinter der Sprache und dem Bestrafen und Erschrecken. Was hinter den Gedanken, die meine Mutter immer wieder äußerte, tatsächlich stand. Die Angst. Sie hatte nur den einen Blick. Was tue ich mit meiner Angst. Wie rede ich mit ihr, dass sie nicht kommt.

Was schaust du denn?!

Sie ließ mich ihre Angst nicht spüren, sondern ganz einfach büßen.

Was mir mein Leben lang ins Auge stach, fortlaufend, fortbewegt, ins rechte Auge stach, dass meine Mutter immer nur etwas verhindern wollte. Dass ihr nur an Zerstörung lag.

Das glaubst du doch wohl selber nicht.

Ich will dir doch nur helfen.

Endlich begreife ich, dass das nicht stimmen kann.

Die Absicht meiner Mutter war mich büßen zu lassen, für all die Angst, die ihr von mir ins Auge sprang. Weil sie mir immer wieder etwas davon gab, von ihrer Angst.

Was redest du denn da?

Hör endlich auf damit.

Von Angesicht zu Angesicht die Angst. Endlich begreife ich den Schrei. Es geht darum, was wert zu sein von Angesicht zu Angesicht, auch wenn mein Gegenüber spricht und schreit.

Die Angst, nichts wert zu sein, was ich in ihren Augen sah. Fass mich nicht an. Die Angst, nichts wert zu sein. Fass mich nicht an. Die Angst, nichts wert zu sein. Berührungsangst, die Angst davor, nichts wert zu sein.

Was ist nur mit dir los?!

Wir haben dir doch nichts getan.

Endlich begreife ich mein Halsweh. Die Schüttelspuren. Wann immer ich mich selbst verteidigte und weiter schrie und weiter weinte, hat meine Mutter mich geschüttelt. Endlich begreife ich die Verwirrung und den Schwindel. Wann immer ich mich wehrte, mit Händen und mit Füßen, hat meine Mutter mich gepackt, geschüttelt und dann in einen Raum verfrachtet, wo es nur still war.

Die Angst kann ich nicht dabei spüren.

Was bildest du dir ein?

Ich wurde nicht von meiner Wut gepackt, auch nicht von meinem Zorn, auch nicht von meinem Hass. Ich wurde nicht von den Gefühlen durchgeschüttelt und gerüttelt. Gefühle hatten mich gar nicht verwirrt. Die Mutter hatte mich geschüttelt. Mein körperliches Unwohlsein, die Nackenschmerzen und die Steifheit, das alles kam nicht von der Wut oder von meinem Zorn oder von meinem Hass auf meine Mutter.

Was bildest du dir ein?

Wenn meine Mutter mit mir sprach.

Was willst du denn?

Ich bin doch da.

Da schwang die Angst.

Gleich kommt der Schwarze Mann.

Endlich bin ich bereit, es darauf ankommen zu lassen. Um doch zu sehen, was hinter ihrer Drohung steckt. Wie ihre Augen funkelten und ihre Lippen zitterten und wie ihr Kopf gewackelt hat. Wie alles an ihr förmlich hing und mich geschüttelt hat vor Angst. Und wie sie mich dafür beschimpft hatte. Und wie ich voller Angst gewesen war.

Gleich kommt der Schwarze Mann.

Wie sie mich eingeschüchtert hat.

Was fällt dir ein?

Mich selbst und jeden anderen so einzuschüchtern, wie meine Mutter mich als Kind einst eingeschüchtert hatte. Das fällt mir dazu ein, aus Angst. Der tote Junge, der hatte mir so eine Angst einst eingejagt. Der tote, aufgebahrte Junge sprach. Nichts wollte meine Mutter von mir sehen und berühren, nichts im Gesicht, nichts auf der Haut und nichts im Hals. Nichts von mir konnte sie anrühren, nicht von mir wollte sie berühren, gar nichts konnte sie von mir anrühren. Gar nichts von mir aus Angst.

Wenn du dich sehen könntest, wie du nur wieder aussiehst.

Ich sollte immer nur die Angst der Eltern vor der Angst ausbaden, mich schämen und wegsehen. Weil niemand sich berühren ließ in meiner Nähe. Weil niemand sich berühren lässt. Dass niemand sich von mir berührt fühlte. Als wäre ich ein Nichts, ein Niemand und nichts wert.

Unwert.

Endlich begreife ich nach all den Jahren, dass das gar keine Schande war. Dass ich mich dafür schämte und schließlich schämen hatte müssen, dass meine Eltern sich vor mir erschreckten. Das war ja gar nicht meine Schuld. Das war gar keine Schuld. Wofür ich mich so schämte. Wofür ich mich schließlich so schämte, immer wieder, wenn sich niemand von mir berühren ließ. Das ist ja gar nicht meine Schuld gewesen. Wenn niemand sich mehr rührte, wenn jemand einfach starb, wegging, verschwand und sich nicht länger rührte, das war ja alles gar nicht meine Schuld. Das war nicht mein Versagen. Das war nicht einmal Versagen.

Was bildest du dir ein?

Dass immer dann, wenn mich etwas berührte, mich Angst förmlich erschlug.

Das bildest du dir ein?

Sei endlich still.

Aus Angst, vor allem und vor jedem. Deswegen kontrollierte sie im Geiste alles unentwegt, selbst Schatten an der Wand, leiseste Töne, im Grunde alles immer wieder nur bedacht und kontrolliert. Was sie nicht kontrollieren konnte, das machte sie verrückt. Was sie berührte, machte ihr Angst. Das war es doch von Anfang an gewesen, was mich verrückt gemacht hatte, dass alles, was mich berührt, berühren hätte können, dass alles davon meiner Mutter Angst gemacht hatte.

Das bildest du dir ein.

Ich dachte schließlich, dass niemand an Gefühlen interessiert sei. Dass überhaupt niemand an meinen Hunger nach Zärtlichkeit und Liebe glauben wollte. Dass alles doch umsonst gewesen sei, was immer ich auch gefühlt oder berührt hatte.

Warum schreist du denn so?‘

Sie konnten nicht begreifen, was ich andauernd schrie. Was ich von Haus aus schrie, endlich begreife ich und kann das hören: habt keine Angst. Ihr müsst doch keine Angst vor mir bekommen. Das konnten meine Eltern, und meine Mutter im besonderen, gar nicht.

Das glaubst du doch wohl selber nicht.

Du saugst dir das aus deinen Fingern.

Sei endlich still!

Was habe ich mich angestrengt, was habe ich geschrien und geschrien und geweint, um meinen Eltern zu bedeuten, dass sie doch keine Angst vor mir zu haben bräuchten. Doch nichts davon hat mir geholfen, nichts hat mich von dem Leid der fremden Angst befreit.

Was bildest du dir ein!?

Ich konnte meine Eltern davon niemals überzeugen, dass ich nicht furchtbar war, dass ich, ein kleines Kind nicht furchterregend und erschreckend sein konnte.

Was fällt dir ein!?

Was bildest du dir ein!?

Werd nur nicht frech!

Sonst kommt der Schwarze Mann!

Die Wiederholungen, der blinde Glaube. Der Ausdruck meiner Angst, mit Wiederholungen. Mich immer wieder wiederholend zu vergewissern. Mich selbst zum Ausdruck dieser Angst zu bringen und zu machen. Die Wiederholungen. Die Wiedergutmachung, verzweifelte Versuche. So wie sie Ausdruck meiner Eltern Angst gewesen sind. Die Angst von meiner Mutter und von meinem Vater, die sich doch ständig wiederholten. Die immer gleich geschimpft haben in immer gleichen Wortkaskaden, die immer gleiche Kanonade, das war doch Ausdruck ihrer Angst. In ihren Worten, Taten und Versprechungen. Der Ausdruck Angst hinter der Fassade ihrer Worthülsen und Sprachgebilde, Lügen, Lügen ohne Unterlass.

Gleich kannst du was erleben.

Gleich kommt der Schwarze Mann.

Jetzt kommst du in ein Heim.

Freu dich nur nicht zu früh.

Du wirst noch an mich denken.

Das wirst du mir noch büßen.

Mein Traum vom See. Die Angst beim Leichenschauhaus. Das war nicht meine Angst, die ich mir vorstellte. Angst vor der Angst. Das war die Angst der Mutter vor mir, vor der ich eine solche Angst bekommen habe. Die Angst vor mir. Vor meinem Auge.

Was bildest du dir ein?

Ich hatte immerzu mit ihrer Angst zu tun und merkte es nicht mal.

Das bildest du dir ein?

Sie hat von Anfang an gezittert. Wenn sie nicht weiter kam und nicht mehr weiter wusste, wenn sie es mit der Angst bekam, dann hat sie mich bestraft, geschüttelt und gerüttelt. Ich dachte immer nur, ich hätte meine Augen doch verschlossen. Doch das ist gar nicht wahr. Ich habe meine Augen niemals dabei zugehabt, wenn sie mich hochgezogen und geschüttelt hat. Ich hatte meine Augen nicht geschlossen. Ich habe alles ganz genau gesehen und erlebt, gesehen und erinnert.

Ich sollte meiner Mutter gegenüber Angst niemals bezeugen. Ich sollte niemals Angst vor meiner Mutter zeigen, obwohl sie doch in ihrer eigenen Angst förmlich gefangen war. Das zeigt mein Traum vom See, sie trank nicht nur die Angst, sondern versank geradezu in ihr, in einem See aus Angst.

Da würde ich nicht hingehen.

Hab ich dir nicht gesagt, du sollst da nicht hingehen, zum Leichenschauhaus.

Hab ich das nicht gesagt!?

Das hast du nun davon.

Die Angst und die Verneinung gleichermaßen. Die Angst und dass sie nicht sein sollte. Es sollte keine Angst da sein. Es sollte für sie keine Angst mehr geben.

Was bildest du dir ein?

Ich hab die Angst an ihr gerochen. So ist die Angst in mich gekrochen. So ist die Angst vor ihrer Angst entstanden. Da sie von meiner Mutter kam. Nicht nur als Angst, sondern verkleidet und verleidet unter dem Duft, Parfüm, dem Deckmantel. Angst vor der Angst ist gleich von Anfang an in meine Nase und dann von dort ins Hirn. Ich war nie ohne Angst, ich konnte gar nicht ohne Angst bei einer solchen Mutter sein. Endlich begreife ich den Unterschied, die gute und die schlechte Angst. Endlich begreife ich, dass es doch einen gibt. Dass meine Angst sich doch von der der Mutter unterscheidet, dass meine Angst sich unterscheiden kann. Dass ich mit meiner Angst tatsächlich unterscheiden kann, wovor ich Angst habe, warum ich beispielsweise zittere.

Ich hab dir nichts getan.

Was hast du denn?

Ich musste denken, dass niemand mich berühren will aus Angst vor mir und meinem Hunger. Dass niemand mich berühren will, weil ich so furchterregend bin. Und das bedeutet doch, dass ich die Angst der Eltern übernahm.

Wo soll denn das nur hinführen?

Die letzte Nacht hab ich von ihr geträumt. Ich habe sie gesehen, wie sie in unserem leeren Hausgang stand, nein saß auf einem Rollkoffer, hinter der Tür, die Augen auf ein Bündel Wäsche gerichtet, mit dem sie sprach. Dem Bündel Wäsche hat sich meine Mutter anvertraut.

Was hast du denn?

Ich sehe mich, was meine Eltern niemals sehen wollten, ich sehe mich, gequältes Kind. Gequält von meiner Mutter und von meinem Vater. Und die, nachdem sie mich gequält hatten, doch immer wieder lachen, die mir versuchten einzureden, mit Spott und Lügen und Verrissen, was bildest du dir ein, wir haben dir doch nichts getan.

Was schreist du nur?!

Was führst du dich so auf?

Dein Vater ist gerecht!

Die Mutter tut doch alles nur für dich.

Endlich begreife ich, wie logisch meine Wut, wie logisch mein Gefühl, als ich ein kleines Kind gewesen bin, tatsächlich war. Die Wut war nicht nur logisch, sondern auch durchaus wahr. Die Wut beschützte mich als Kind vor dem Gefühl der elterlichen Ungerechtigkeit, der Ungerechtigkeit, ihr sinnlos ausgeliefert sein zu müssen.

Sei endlich still, sonst wird dein Vater böse.

Sie wollten immer nur ein böses Kind. Sie konnten gar nicht sehen und begreifen, wie böse sie an sich deswegen waren.

Was stellst du dich so an?

Solange ich nicht sehen kann, wie böse meine Eltern zu mir sind, kann ich mich selbst als unschuldiges Kind mit meiner Wut und meinen Tränen gar nicht sehen, gar nicht begreifen. Solange ich mir nicht versichern kann, dass meine Eltern böse sind, muss ich für mich und an und für sich, ein böses Kind sein und es auch gefälligst bleiben.

Es war mir gar nicht möglich, kein böses Kind zu sein. Solang muss ich Lebendigkeit und Freundlichkeit und Zärtlichkeit angiften, feindselig sein. Weil ich nicht wissen kann, dass alles Gute an mir, als ich ein kleines Kind gewesen bin, nicht böse war, sondern in Wahrheit Unschuld. Sie konnten nie was Gutes von mir halten. Sie konnten gar nichts Gutes an mir sehen und wahrnehmen.

Und immer wieder dachte ich, ich sei ein böses Kind. Ich sei ein böses Kind. Und immer wieder dachte ich, bin ich ein böses Kind? Denn immer wieder dachte ich, ich muss ein böses Kind doch sein, weil niemand mit mir spielen will und mir in meiner Einsamkeit aufhilft. Weil niemand mich mit meiner Wut und meinem Zorn und meinem Hass begreift und unterstützt. Wenn niemand mich mit meiner Wut und meinem Hass und meinem Zorn auf meine Mutter und den Vater unterstützt, dann muss ich doch ein böses Kind gewesen sein. Dann muss ich schließlich böse sein.

Was bildest du dir ein?

Ich muss doch böse sein. Nur deshalb ist die Mutter und mein Vater böse.

Das wirst du mir noch büßen.

Freu dich nur nicht zu früh.

Jetzt kommt der Schwarze Mann.

Die bösen Kinder holt der Schwarze Mann.

Die bösen Kinder nimmt er mit.

Die braven Kinder bleiben hier.

Die braven Kinder nimmt er nicht.

Die braven Kinder muss er nicht mitnehmen.

Nur böse Kinder nimmt er mit.

Nur böse Kinder fallen in den Graben.

Verstehst du das denn nicht?

Der Krampus und der Nikolaus.

Ich bin kein böses Kind, wenn ich die Eltern hinterfrage. Ich bin kein böses Kind, wenn ich es wage, meinen Vater darzustellen, so wie er ist, ein böser Mann, unfreundlich, feindselig und gnadenlos und ungerecht. Wenn ich es wage, den Vater doch zu hinterfragen. Ich bin kein böses Kind.

Was fällt dir ein?

Was fällt denn dir ein?

Schau, dass du weiterkommst.

Ich kann dich nicht mehr sehen.

Ein Fenster öffnet sich!

Ich dachte mir, ich wäre nicht zur Nähe und zur Liebe fähig. Doch das ist gar nicht wahr. Sie haben Nähe immer nur verhindert. Sie haben mich bestraft für meinen Wunsch nach Nähe.

Jetzt kommst du in ein Heim.

Jetzt geben wir dich weg

Ich sollte für sie hungern und verhungern. Und niemand hat etwas gesagt oder dagegen unternommen. Und endlich weiß ich es. Ich kleines Kind, endlich kenn ich die Wahrheit, ich schrie und schrie und schrie doch nur deshalb, und weil ich mir noch nicht mal selber wehtun hatte können.

Was bildest du dir ein?

Ich war zu klein, um mir selbst weh zu tun. Ich war doch viel zu klein, um mich selbst zu verachten.

Und immer noch die Angst, dass noch was kommt. Die Angst dass noch etwas nachkommt. Dass noch was kommen wird, was mich zu Tode schreckt und quält.

Jetzt kommt der Schwarze Mann.

Ich konnte Angst nicht zum Verschwinden bringen.

Das bildest du dir ein?

Wenn ich Jahrzehnte später noch auf etwas warten muss, was gar nicht kommt, weil es nicht kommen kann, so wie der Schwarze Mann, der selbe alte Schwarze Mann. Mir fiel nicht einmal ein, dass er auch tot sein könnte, längst verstorben.

Was hast du denn?

Ich tu dir nichts.

Ich bin doch da.

Ich bin doch gar nicht weg gewesen.

Was hast du nur?

Da ist doch nichts.

Wie meine Mutter es genossen hat, mir Angst zu machen. Die selbst so eine Angst gehabt hatte, die machte mir so eine Angst.

Was fällt dir ein?

Sie war von Angst nicht nur beseelt sonder geradezu besessen, und ich sollte tatsächlich denken, ich hätte das getan, nur immer wieder ich, ich hätte meine Mutter so verängstigt und besessen gemacht.

Was schaust du mich so an?

Die schiere Angst

Warum schreist du denn so?

Die Angst hat mir so weh getan, die Angst vor meiner Mutter und vor ihrer Angst, die hatte mir so weh getan und dass ich mich nicht wehren sollte.

Was fällt dir ein?

Sei endlich still.

Sie hat nur immer, NEIN!, dazu gesagt. Sie hat sich immer nur verweigert. Sie hat nur immer, NEIN, gesagt zu mir.

Was fällt dir ein!

Die erste Träne galt mir doch. Die galt doch mir.

Im Grunde ging es immer um das Wissen, dass jemand da ist, der mich hält, der mich berührt, in meiner Einsamkeit. Und mir bedeutet, dass ich das bin und immer sein werde, wenn niemand da ist, um mir beizustehen.

Dass ich mir selbst was Gutes abgewinnen kann, dass ich was Gutes an mir finden kann, dass ich an mir was Gutes doch entdecken kann, nachträglich noch nach all der Qual. Dass ich was Gutes an mir selbst erfahren kann, ohne die Mutter und den Vater.

Die unsichtbare Brücke

Was bildest du dir ein?

Was ich versuchte. Mir zu gefallen. Mir selbst was Gutes zu gestatten und zu erlauben, mir selbst was Gutes abzugewinnen. Mit meinen Schreien und dem Weinen und den Schmerzen. Und meine Mutter hat gelacht, mich immer nur beschimpft und mich verflucht für meine Tränen, für meine Schmerzen und mein Weinen.

Freu dich nur nicht zu früh.

Sie hatte immer nur verhindert, dass ich mir etwas Gutes tat, mir selber etwas Gutes abgewönne. Mit meiner Zärtlichkeit, die meine Mutter gleich von Anfang an gehasst hatte.

Fass mich nicht an.

Du machst mich noch ganz dreckig.

Es wohnt in mir kein böses Kind.

Was sagst du da!

Was fällt dir ein?

Was wirst du denn gleich wieder böse.

Sie hat mich wirklich so behandelt, als ob nichts Gutes an mir wäre, als ob nichts Gutes von mir kommen kann.

Endlich begreife ich den Traum vom viel zu spät kommen, vom nicht erreichen irgendwelcher Züge oder Busse oder Flugzeuge. Ich hatte solche Angst, zu spät zu sein. Ich hatte eine solche Angst dann später, zu spät zu Hause zu sein, zu spät nach Hause zu kommen. Ich hatte eine solche Angst nach Hause zu kommen, denn meine Mutter hatte mich bestraft, wenn ich zu spät nach Hause kam. Sie hatte sich dann hingelegt und tot gespielt vor mir, wenn ich zu spät zum Essen kam. Nicht weil ich schuld gewesen war, sondern weil meine Schule einfach noch nicht aus gewesen war. Wann immer ich als kleines Kind zu spät nach Hause kam für die Begriffe meiner Mutter, für sie zu spät nach Hause kam, hat sie sich hingelegt und mich damit bestraft, dass sie jetzt tot sei und gestorben. Weil ich zu spät nach Hause kam. Weil ich zu spät nach Hause kommen würde, würde sie tot sein und sterben müssen. Deswegen hatte ich so eine Angst zu spät zu kommen und überhaupt wo anzukommen. Im Grunde wartete der Tod auf mich, wann immer ich verspätet war. Und immer wenn ich mich verspätete, nicht mal aus eigenem Versagen und Verschulden. Egal weshalb. Wann immer ich zu spät ankam, hatte ich Angst, jemand könnte gestorben sein. So eine Angst hat mir das eingejagt, dass meine Mutter mich mit ihrem Tod bestraft und konfrontiert hatte, bestrafen hatte wollen, wann immer ich nicht rechtzeitig nach Hause kam. Was für ein Wahnsinn für ein kleines Kind.

Was bildest du dir ein?

Wenn jemand nicht gleich kommt, wenn jemand nicht gleich kam, dann dachte ich auch später immer wieder nur, jetzt muss etwas passiert sein. Jetzt klopft der Tod an meine Tür.

Jetzt hat der Tod schon angeklopft.

Gleich kommt der Schwarze Mann.

Sie hatte mich bestraft für ihre Angst und ich, ein kleines Kind, war dann mit Angst erwacht.

Das wirst du mir noch büßen.

Ich dachte mir, ich wär mit Angst gestraft, mir könnte was passieren, wenn ich nicht auf sie hörte.

Das bildest du dir ein.

Du kommst jetzt sofort her.

Sie ließ nicht zu, dass ich was anderes vor ihr zum Ausdruck brachte, als die Verachtung meiner Schmerzen.

Vor was hat dieses Kind nur eine solche Angst?

Sie ließ nur die Verachtung an sich ungestraft. Sie ließ nur die Verachtung zu. Sie ließ mir ungestraft nie etwas anderes durchgehen, als die Verachtung, allen Schmerzen gegenüber. Nur der Verachtung meiner Schmerzen durfte ich ungestraft Ausdruck verleihen.

Gleich kommt der Schwarze Mann.

Und tu mir den Gefallen, halt endlich deinen Mund.

Verachtung war die Nahrung in der Not mit der mich meine Mutter einst behandelt und von Anfang an ernährt hatte.

Was fällt dir ein!

Der Widerspruch an sich. Als würde sich mein Herz zusammenziehen und verachten.

Das glaubst du doch wohl selber nicht.

Dass sie mich hungern ließ. Und dass sie mich verhungern lassen kann, wenn sie nur wollte.

Du bist nicht wie dein Vater.

Ich musste immer denken, ich sei schwach. Ich sollte für die Mutter und den Vater denken, ich sei schwach, ich sei doch immer nur tatsächlich schwächer als die beiden. Ich könnte doch nur schwächer sein. Endlich begreife ich den Unterschied. Ich musste schwächer sein, ich musste Schwäche zeigen. Ich musste meiner Mutter und meinem Vater gegenüber schwach sein. Ich musste Schwäche zeigen. Dabei war ich entmutigt und verängstigt.

Das bildest du dir ein?

Ich bin nicht schwach, wenn mir was fehlt. Ich bin ja gar nicht schwach, wenn mir was fehlt und wenn mir etwas wehtut. Dann bin ich doch nie schwach gewesen. Ich war ja gar nicht schwach, weil ich so weinte und so schrie. Ich war ja gar nicht schwach. Ich war verwundet und verletzt, gedemütigt, entmutigt. Ich bin nicht schwach geboren.

Gleich kommt der Schwarze Mann.

Die Einbildung

So wie ein Elefant an einem Pflock tatsächlich glaubt, dass er sich nicht befreien kann. Die Macht der Einbildung. Macht der Gewohnheit. Ich war an Grausamkeit und an Gewalt gewöhnt. Nur deshalb habe ich mir eingebildet, ich sei schwach, wenn ich was fühlte und sollte mich dafür was schämen. Ich wäre schwach, solange ich Zuneigung fühlte. Endlich begreife ich die Qual und Folter für die Seele, die Folter für ein kleines Kind, das sich nach Zärtlichkeit und Liebe sehnt.

Sei endlich still!

Sie wollten mir tatsächlich weismachen, dass ich nur schwach und böse sei, solange ich mich sehnte. Solange ich mit meinen Schreien und meinen Tränen was verlangte. Solang noch ein Verlangen in mir wäre, solange würden sie mich schimpfen und anklagen und verurteilen. Solang noch ein Verlangen nach Zuneigung in mir wäre, solange würden sie mich strafen und verurteilen. Das stand am Ende für mich fest. Am Ende des Prozesses. Solang noch ein Verlangen nach Liebe und nach Hilfe, nach Freiheit und nach Zärtlichkeit bestünde, solange sollte ich mich schämen, solange würden meine Eltern mich bestrafen.

Doch das war keine Einbildung, sondern die Wahrheit und in Wahrheit meine Wirklichkeit als Kind gewesen.

Das bildest du dir ein

Nur wenn man gar nichts fühlt, kann man sich überlegen fühlen, mit der Verachtung.

Nur wenn man gar nichts fühlt, kann man ein Kind entwerten und verachten. Nur wenn man gar nichts fühlen kann.

Jetzt kommt der Schwarze Mann.

Sie wollte doch, dass ich mit meinen Schreien ganz alleine sei. Sie wollte mich mit dem Alleinsein strafen. Ich sollte für sie ganz alleine bleiben. Sie wollte mich nur dazu bringen, dass ich mich selbst auflösen würde, damit nicht auffällt, was sie dachte: wie werde ich die Angst vor diesem Jungen los.

Ich sollte für sie ängstlich sein.

Was hast du denn?

Was ist denn mit dir los?

Nur die Verachtung sprach mich an. Nur die Verachtung war an mich gerichtet, und deshalb wandte ich sie an in meiner Einsamkeit, allein mit meiner Mutter, und dann allein für mich in einem Zimmer. In einem Zimmer ohne alles. Ich sprach mich mit Verachtung an. Ich sprach mit mir mit gar nichts anderem. Ich sprach mich nur mehr mit Verachtung an, wie meine Mutter vor mir.

Was schreist du denn?

Was schreist du denn schon wieder?!

Das steht am Ende des Prozesses.

Das bildest du dir doch nur ein!

Die Angst, dass ich nie wieder etwas sagen darf. Die Angst, dass ich nie wieder etwas sagen kann. Nicht Anerkennung eines Schmerzes, weder als Schwäche noch als Stärke, nie wieder Schmerz und Ruf.

Achte auf dich!

Hör nicht auf deine Mutter, die dich verachtet. Hör nicht auf deinen Vater, der dich schlägt. Achte nicht die, die dich verachten und verlachen.

Wir tun doch alles nur für dich.

Wir wollten nur dein Bestes.

Endlich kann ich mich Kind betrogen und verraten fühlen.

Was spielst du dich so auf?

Den Eltern zuzuhören, zuhören zu müssen, die mit mir sprachen, als wäre ich nicht da, hatte mich fast um den Verstand gebracht. Wie abwegig das alles war, was sie mir an den Kopf geworfen hatten, wie sie mich hießen, wie sie mir Namen gaben und mich verstießen und verlachten.

Das ist doch gar nicht wahr!

Endlich begreife ich, dass Angst vor allem stand. Dass hinter jedem Wort und hinter jedem Satz doch wieder nur die Angst zum Vorschein kam, dass immer nur die Angst hervorgekrochen kam. Nur Angst hat meine Mutter und den Vater angefochten.

Was fällt dir ein.

Jetzt kommt der Schwarze Mann.

Dass nur die Angst gesprochen hat, wenn meine Eltern sprachen.

Was fällt dir ein?!

Dass ich mir meine Angst nicht eingebildet hatte.

Verachtung ist der Wunsch jemandem wehzutun.

Jetzt sind wir wieder gut.

Sie kam und tat mir weh. Ich komm nach Hause und die Mutter tut mir weh.

Mein Schmerz, mein Rückenweh, die Angst, dass jemand mir wehtut. Dass jemand kommt, dass jemand kommen kann, um mir ganz einfach wehzutun. Dass jemand mir ganz einfach wehtun kann und niemand wird das kümmern. Endlich begreife ich den Schmerz. Sie konnten mir nur wehtun und sie wollten mir nur wehtun.

Endlich begreife ich den Schmerz.

Das bildest du dir ein!?

Sie wollten mir von Anfang an weh tun, weil sie nur weh tun konnten. Im Spiel, im Ernst und überhaupt, weil sie im Umgang mich sich selbst und anderen nur weh tun konnten. In Wort und Bild und Tat.

Was bildest du dir ein?

Die Angst war ganz real, weil sie mir doch von Anfang an nur weh tun konnten.

Das glaubt dir doch kein Mensch.

Das war doch nur zum Spaß.

Das war doch gar nicht ernst gemeint.

Vom Wunsch, jemandem weh zu tun. In Wort und Bild und Tat. Nur davon handelt der Prozess. Vom Wunsch, vom unterdrückten Wunsch, jemandem wehzutun, und auch vom unterdrückten Schmerz, dass einem gleich von Anfang nur jemand wehtun wollte, dass einem Kind nur das andauernd widerfährt, nur wehtun können. Der Schmerz von Anfang an, dass sie mir doch nur weh tun konnten, wenn ich nach ihnen schrie und wenn ich weinte, Hunger hatte. Dass sie mir doch nur wehtun konnten, wenn ich nach Liebe schrie. Und ich konnte gar nichts dagegen tun. Das hatte mich verrückt gemacht vor Wut und Zorn, dass meine Eltern mir nur weh tun konnten, wenn ich nach Liebe schrie.

Vor was hat dieses Kind nur eine solche Angst?

Dass mir im Grunde jeder nur wehtut, nur wehtun wird und wehtun kann, wenn mir was fehlt.

Was bildest du dir ein?

Sie konnten nur verletzen. Sie konnten mich nur verletzen. Sie konnten mir nur wehtun.

Das ist ein Kreuz mit dir.

Ins Hohlkreuz gehen, aufstrebende, aufsteigende, mich aufbäumende Wut, aufbäumend und aufschäumend. Weißglut. Und Zorn. Weil meine Eltern mir nur wehtun konnten, deswegen schrie ich so, deswegen bäumte sich in mir im Grunde alles auf. Deswegen hatte ich dann später eine solche Angst vor meiner Wut, sprich meinem Mut, sprich meinem Hohlkreuz und so weiter. Im Hohlkreuz ist die Wut. Von dort steigt alles auf. Von dort geht alles aus. Aufbäumend und ausstrahlend. Ausufernde, verschlingende, verschlungene, unendlich gute Wut.

Was fällt dir ein?

Die Wut wird mir nicht schaden.