He couldn’t stop crying. It occured to him to wonder why he hadn’t screamed from the pain. Perhaps screams were involuntary calls for help that just seemed futile to your subcounscious, which knew you were alone.
Ryu Murakami, Coin Locker Babies
243. Ein Mensch kann sich selbst ermutigen, sich selbst befehlen, gehorchen, tadeln, bestrafen, eine Frage vorlegen und auf sie antworten. Man könnte sich also auch Menschen denken, die nur monologisch sprächen. Ihre Tätigkeiten mit Selbstgesprächen begleiteten. – Einem Forscher, der sie beobachtet und ihre Reden belauscht, könnte es gelingen, ihre Sprache in die unsre zu übersetzen. (Er wäre dadurch in den Stand gesetzt, Handlungen dieser Leute richtig vorherzusagen, denn er hört sie auch Vorsätze und Entschlüsse fassen.)
Wäre aber auch eine Sprache denkbar, in der Einer seine inneren Erlebnisse – seine Gefühle, Stimmungen, etc. – für den eigenen Gebrauch aufschreiben, oder aussprechen könnte? – Können wir denn das in unserer gewöhnlichen Sprache nicht tun? – Aber so meine ich’s nicht. Die Wörter dieser Sprache sollen sich auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten, Empfindungen. Ein Anderer kann diese Sprache also nicht verstehen.
244. Wie beziehen sich Wörter auf Empfindungen? – Darin scheint kein Problem zu liegen; denn reden wir nicht täglich von Empfindungen, und benennen sie? Aber wie wird die Verbindung des Namens mit dem Benannten hergestellt? Die Frage ist die gleiche wie die: wie lernt ein Mensch die Bedeutung der Namen von Empfindungen? Z.B. des Wortes »Schmerz«. Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen, Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen.
»So sagst du also, daß das Wort ›Schmerz‹ eigentlich das Schreien bedeute?« – Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht.
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen
Zwischen Hochmut und Demut steht ein drittes, dem das Leben gehört, und das ist der Mut.
Theodor Fontane, Cécile
Wenn ich auf etwas wartete, wenn ich auf eine Nachricht, auf einen Brief, egal auf was es war, gewartet habe, dann habe ich zugleich etwas befürchtet. Dass mir etwas zustößt, zu meinem Nachteil jedenfalls. Ich ging zum Briefkasten und ich erwartete was schreckliches. Gleich würde mir mir etwas geschehen, so dachte ich. Gleich geht es los. Gleich wird etwas passieren.
Du brauchst mir nichts zu schenken! Ich kann mir meine Sachen selber kaufen, hast du gesagt.
Egal, ob ich was lernte, ob ich was spielte oder rannte. Egal, was ich auch tat, die Fragen, die ich an dich hatte, sie waren unerwünscht. Egal, wie klein, wie groß ich dabei war. Mir konnte und mir wollte nichts gelingen. Das dachte ich.
Ich wusste immer was ich wollte!
Warum hast du dann nichts gesagt? Warum hast du mir nie etwas erklärt? Du hast nur so getan, als würdest du dich selbst verstehen. Du hast gar nichts gewusst. Nur immer nachträglich bist du für dich zum eignen Gott geworden.
Soll so ein Kind wie ich das von alleine wissen, worum es geht? Dass man sich etwas wünschen kann. Dass man das endlich auch versteht, warum man etwas wünscht. Warum man weiter geht. Wie man sich hilft. Was man tun kann. Woher soll ein Kind wissen und herausfinden, wenn ich, dein Kind, dich Vater gar nichts fragen kann. Wenn ein Kind seinen Vater gar nichts fragen soll. Wenn Vater gar nichts sagt, außer Beschwerden äußert und immerzu Bekenntnis haben möchte und Beschuldigungen anbringen.
Andauernd schuldig sein zu müssen.
Fängst du schon wieder damit an!
Dass ich bekennen soll, dass ich nichts kann. Er glaubt mir nicht, dass ich doch nichts dafür kann, wenn ich nicht gleich aufstehe und gestehe und offenlege, mich äußern will. Auch wenn ich nicht schuld bin, bin ich für meinen Vater schuldig. Bekennen nützt soviel, wie was verneinen. Nichts kann ich tun, außer mich schuldig fühlen.
Wie soll ein Kind wie ich was lernen, dass es noch etwas anderes vermag, als unverzeihlich sein und niemals nachzufragen?
Was er mir beibrachte, war immer nur der Hass auf alle Fragen und Antworten. Auf alles, was ich machen wollte ohne ihn. Mein Gott, mein Vater, meine Welt. Mein Zorn auf diesen Menschen zeigt, wie wenig ich von einem solchen Menschen wirklich halte.
Bedanke dich bei deiner Mutter. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätten wir dich in ein Heim gesteckt. Für Schwererziehbare. Für Kinder ohne Eltern, die nicht erziehbar sind, sagt er.
Über die Schuld und Schuldigkeit, Gedanken, und mein bekennen müssen für die Eltern, darüber habe ich vergessen wie das war, wie ich mit meiner Schwester spielte, und sie beinahe starb, und dass das keine Absicht von mir war; ein Unglück war das. Und ein Versehen. Ich habe das vergessen und vergeben, was Vater mir einredete.
Bekennen müssen. Offen aussprechen müssen. Eingestehen müssen. Mir eingestehen müssen.
Gib doch endlich zu, dass du mich belogen hast! Gib doch endlich zu, dass das Absicht war. Mit deiner Schwester. Gib doch endlich zu, dass das nicht Zufall war. Sei einmal ein Mann! Steh doch einmal auch zu dem, was du getan hast, sagt Vater.
Das Glaubensbekenntnis aussprechen. Vor dem Vater aussprechen. Meinem Vater soll ich beichten. Zugeben, bekennen und gestehen.
Sei doch endlich einmal ehrlich! Gib es doch endlich zu. Steh zu dem, was du gemacht hast. Gib doch endlich zu, dass du deiner Schwester weh tun wolltest. Gib das doch endlich zu!
Offenes Bezeugen. Schulderkenntnis und Schuldanerkenntnis. Soll ich für den Vater geben. Mich als Schuldigen ausgeben.
Gib doch endlich zu, was du gemacht hast. Gib es doch endlich zu!
Vater wollte von mir hören, dass ich schuldig bin. Vater wollte immer wieder, dass ich meine Schuld bekennen würde. Vater wollte, dass ich beichte. Dass ich ihm recht gebe. Vater wollte meine Schuldigkeit.
Ich weiß immer, was ich will. Ich wusste immer, was ich wollte, sagt er.
Vater wollte immer meine Schuld. Mutter weinte dabei leise. Vater wollte mich bekennen sehen. Vater wollte mein Bekenntnis hören und vernehmen. Schlecht soll ich für meinen Vater sein.
Niemals wurde davon etwas besser. Ganz egal was ich auch sagte. Wie bekenntnisreich ich war. Vater hörte nie mehr damit auf.
Dann mein Nicken und Verzweiflung. Dann das nie mehr wieder Zugeständnis. Meine Reue. Sagen. Meine Reue vor ihm immer wieder aufsagen. Dass der Vater endlich aufhört mich danach zu fragen. Meine eigene Entscheidung, sei es, sagt er immer wieder, wie ich mich verhalten würde. Dass er damit nichts zu tun habe, sagt er immer wieder.
Wie du dich entscheidest, ist alleinig deine Sache, sagt er immer wieder.
Mein Vater war vollkommen leer; und keine Liebe in ihm vorrätig.
Ich wusste immer was ich wollte.
Wie kann das sein, dass er niemals etwas von diesem Wissen weitergeben wollte?
Mein Vater, der mich einst beschuldigt hat, ist dafür nie belangt worden. Denn ich kam nie auf die Idee, dass Zorn berechtigt sei, um meine Unschuld zu beweisen. Ich dachte immer nur, der Zorn sei für Beschuldigung nur da. So hatte ich das doch gelernt.
Beschuldigung. Ich hafte mit der Schuld. Mit ihr gehöre ich dem Vater an und somit auch der Mutter. Mit meinem Schuldanerkenntnis gehöre ich mit Haut und Haar den Eltern und ganz besonders meinem Vater.
Nach Schuld suchen, bei mir und jedem anderen. Denn Schuld ist die Bedingung, mit der mein Vater mich in seiner Nähe lässt. Nur wenn ich meine Schuld bekenne, darf ich im Hause meines Vaters sein und bleiben. Nur wenn ich mich so gründlich wie nur möglich zu meiner Schuld bekenne, bleib ich sein Sohn und nicht allein. Geduldet mittels meiner Schuld. Nur wenn ich meine Schuld gründlich begreife. Nur wenn ich jeden Tag und jeden Augenblick als schuldig mich begreife, bleibe ich Vaters Sohn. Ohne mein Schuldanerkenntnis bin ich für mich nicht mehr sein Sohn. Ich werde dann ein Fremder sein, ein Waisenkind, ein Nichts, ein Ausgestoßener.
Ich sollte nicht unschuldig sein.
Begreif das doch jetzt endlich!
Ich lernte nicht nur wie man schuldig wird. Ich lernte auch wie man mit Schuld dann Recht behalten muss. Wie man, sich schuldig glaubend, recht haben muss. Ich lernte, dass ich nur überleben würde, wenn ich von nun an auch recht haben würde. Ich musste einfach Recht behalten, sonst wäre ich allein, ohne den Vater und die Mutter.
Das Schreckliche daran, solange ich dann später wie mein Vater immer Recht behalten wollte, solange war es mir unmöglich die eigne Unschuld zu begreifen.
Ein Gott der immer Recht hat und immer Recht behalten will, kann Unschuld gar nicht fühlen. Der kann nicht wissen, was das ist, sonst würde er von seinem eignen Willen auch etwas herschenken und weitergeben wollen. Wer einen freien Willen kennen lernen will, muss Unschuld erst begreifen lernen. Wie soll jemand der Unschuld nicht mal fühlen kann, denn überhaupt jemanden lieben können?
Ich kann alleine sein! Nur deine Mutter nicht.
Mein Vater zeigte mir das schließlich immer unverhohlen. Dass er auf mich verzichten würde können. Das heißt doch für ein Kind, wenn es auf seinen Vater angewiesen ist, in Schrecken und in Einsamkeit zu leben.
Bedrohlich und bedrohlicher.
Mein Vater hätte mich ganz einfach weggegeben. So fühlt sich das für ein Kind also an. Mein Vater hat mir, als ich in größter Not vor ihm und um mein Leben zitterte, noch das Gefühl gegeben, er könnte auf mich verzichten. Auf mich und meine Existenz.
So hilflos also war ich damals tatsächlich und immer wieder schon gewesen; doch das war jetzt der Höhepunkt. Und deshalb ist mein Vater unerträglich für mich. Er war es damals schon, doch konnte ich das nicht begreifen, weil ich das nicht als Wirklichkeit empfinden hatte können. Das war als Kind mein Schutz, die Wirklichkeit abschalten.
Ich dachte später dann, ich müsste wertvoll sein, auch wertvoller als andere. Ich könnte nur damit etwas erreichen, dass das, was ich auf meinem Herzen hatte, etwas bedeutete, dass ich damit auch irgendwann mein Recht, Anrecht auf Liebe/Glück, erreichen würde. Dass mich dann Leute wirklich mögen würden. Die würden nicht auf mich verzichten; können. Ich meinte später auch, ich sei doch irgendwie von meinem Vater auch geliebt worden.
Doch war die Sehnsucht nach dem guten Vater tatsächlich reine Einbildung. Mit ihr versuchte ich die Wirklichkeit zu überleben. Mit einer gleichen Art Halsstarrigkeit und Starrsinn, Sturheit, und rechthaberischem Verhalten.
Ich wusste nicht, wie viel Verzweiflung in mir war als Kind. Wie ich mich danach sehnte, doch endlich einmal nicht verraten zu werden. Ich kannte nur das Gegenteil. Deshalb fuhr ich nach Haus. Deshalb kam ich dann später immer wieder heim. Deshalb besuchte ich die Mutter. Ich suchte mit dem ersten Wunsch, noch immer nach der ersten Wunscherfüllung. Vertrauen und vertrauen lernen. Im Anfang war kein Wort, nur das Gefühl nach Heimat in mir selbst. Ein jedes Kind sucht nach der Liebe, in sich, zuerst mit seiner Mutter. Es ist auf ihre Hilfe angewiesen. Denn das ist eine wahrlich furchterregende Bedingung, denn ohne Liebe kann die Angst des kleinen Kindes, vor dem allein sein, dem allein aufwachen, und dem alleine sterben müssen, nie verschwinden. Das ehemalige Kind kann ohne Liebe/Eigenliebe auf die erste große Angst, allein im Raum zu sein, doch nur mit Wut und Zorn selbst reagieren. Es kann auf seine Mutter nicht verzichten. Deshalb leidet ein ehemaliges Kind, eventuell sein Leben lang, an einer Angst, die längst unwirklich ist und überfällig, als Überlieferung, als Echo seiner frühen Einbildung.
In Wirklichkeit kann ich bei meiner Mutter keine Liebe finden. Ich kann erst als Erwachsener auf meinen Wunsch nach ihr, verzichten. Der Wunsch nach Mutterliebe, fernstes Echo meiner Einbildung, ich kann nicht ohne meine Mutter überleben, verschwindet, und auch die Angst vor jeder neuerlichen Art Zurückweisung. Die Liebe stand nie auf dem Spiel, nur meine Einbildung von ihr.
Der Vater, seine Reden, und Mutter die zuhört. Ich dachte später immer, ich hätte das verdient gehabt, ich hätte Schuldzuweisungen verdient.
Jetzt weiß ich endlich auch, was ein Kind fühlt, wenn es getröstet wird, dass es die Schmerzen nicht verdient, dass keine Schuld dahinter steckt und auch kein Plan, kein unergründlich Wirken. Dass meine Fähigkeit zur Freude, von Schmerzen unabhängig existiert. Unangetastet bleibt, solang ein Schmerz gefühlt, getröstet und vergehen kann.
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