Texte von Hugo Rupp

Die Begegnung

 

das glück zahlt summen für hohngelächter

seiner spitzel einzige pflicht ist es zu lachen

wenn der empörte daumen der verächter

von oben befehl gibt schluß zu machen

dann senkt der ritter auf dem stein am strand

das gesicht in die hände: er scheint durchschaut

bis auf den schatten der den stein umkreist

der sonne hingeneigt doch ihrem strahlen abgewandt

(als zöge licht nicht auch die schattenhaut

ab von der niedertracht die sich als glück verheißt)

in eile ist das glück es scheint die zeit

ihm jederzeit zu winken: bist du dabei so eile mit

und sei bereit

man wird dich schminken

wenn dir das joch aus den wangen tritt.

wolfgang hilbig die versprengung gedichte

Wie feige meine Mutter war. Wenn jemand nur was sagte, schon war sie still. Sie schreckte sich, wenn ein Erwachsener sie etwas fragte. Wie feige sie doch war, und ich hab mich als Kind niemals getraut, das auch so wahrzunehmen.

Wenn sie mich gegen Vater aufhetzte. Mich dann verriet und Vater alles steckte, brühwarm an ihn das weitergab, was ich ihr im Vertrauen erst gesagt hatte. Wie sie ihn gegen mich dann einstimmte.

Wie ich zum Kühlschrank ging, zum Friedhof, oder nur zum Briefkasten; mit gleicher Scheu und Abneigung. Vor Unbekanntem, Unverhofftem war mir schwer. Vom selben feige sein. Mein feige sein in meinen Beinen, in den Schultern und im Nacken. Mit steifen Hüften und mit kurzen Schritten, als müsste ich zum Klo, stand ich vor ihr und ihm. So tun, als wäre keine Feigheit in mir drin. Dabei sah Vater mir das sofort an, und Mutter lächelte, sie kaufte mir die Pose auch nicht ab.

Als hätte sie das schon gewusst, dass ich nur wieder weinen, schreien, lästig sein und wütend werden wollte. Das hatte ich davon. Als wäre mein eigner Körper eine Falle. Ein Hinterhalt, in dem sich Sehnsucht in Gedanken ununterbrochen spiegelte. Was Ungeheuerliches, das sich nicht zeigt, mich aber immer wieder ruft. Ich hatte Feigheit fressen und verdauen müssen.

Noch eine Frage und ich schlage dir die Fresse ein. Noch einen Mucks! Ich klatsch dich an die Wand. Und wenn du jetzt nicht still bist, dann schlage ich dich tot. Du Dreckhaufen, du dreckerter. Und rühr mich ja nicht an, mit deinen Schmutzfingern.

Sprache, die meine Phantasie beflügelte, um von der Schrecklichkeit und Qual der Kindheit abzulenken. Flieg, flieg!

Hau jetzt gefälligst ab. Schleich dich, denn niemand kann dich länger sehen.

Das eigne feige sein, gemein und hinterhältig sein. Wie ich mir fortwährend Gemeinheiten ausdachte. Wie ich Gemeines suchte und erfand. Auf jede Äußerung nur Schreie, Flüstern.

Wie sie mit mir alleine war. Mir etwas vorlas oder nur erzählte. Wie ich darauf so reagierte. Mit Furcht und Angst. Wenn ich das nicht mehr länger hören wollte, dann lachte sie und redete ganz einfach weiter, dann aber vorwurfsvoll. Als hätte ich ihr was getan. Als hätte ich ihr was verboten und verdorben. Als hätte ich ihr ihren Spaß, am Reden und Erzählen immer nur verboten. Als hätte ich ihr das vermiest. Als wäre ich zu ihr gemein gewesen. Dass ich gemein sein würde, wenn ich mich nicht mehr länger unterhalten wollte. Wenn ich mir ihre Art Geschichtenwahn nicht mehr anhören wollte. Dass ich ihr dann die Freude nahm.

Wie sie mir meine Freunde nahm. Wie sie verlogen war und Sachen über andere erzählte, die gar nicht stimmten oder einfach nur erfunden waren. Ihr leises Auftreten und Anschleichen. Steht da und hält die Luft an wie im Schlaf. Um lautlos mich zu überraschen. Plötzlich zum Vorschein wieder lächelnd kommen. Wie feige sie doch war. Und nichts hab ich getan, aus Angst vor Schreien und vor ihrem Flüstern.

Wie ich das von ihr mitbekam, mich anzuschleichen. Wie hinterrücks gemein sein funktioniert. Unachtsamkeit, Vertrauen und Vergesslichkeit, wie man das nutzen kann um jemanden gut zu verspotten. Und immer wieder nur, um näher kommen zu verhindern.

Liebesbedürfnis immer nur verachten und unter Strafe stellen. Mit Schreien und mit Flüstern und mit Schweigen. Mit allem was man Sprache nennt. Mit ihren Augen, ihrer Zunge und sogar mit ihrem Nacken, wenn sie sich kratzte und so tat, als würde sie mein Dasein schmerzen. Sie kratzte sich am Hals, und ich sah in den Boden und verschwand blamiert.

Was schleichst du dich hier an. Jetzt hast du mich erschreckt, sagt sie.

Als wäre lieben und sich nach Liebe sehnen, schon hinterhältig und gemein.

Wie oft hörte ich meine Mutter lachen. An mir, wie oft hab ich sie vorher, nachher, währenddessen lachen hören, lächeln sehen. Als gäbe es nichts lächerlicheres als mich: Ein Kind, das sich entdeckt, das sich noch äußern kann.

Wie alles Körperliche schließlich einfach lachhaft werden musste. Blamieren von Gefühlen, auf Missbrauch und Misshandlung hin.

Das ist doch lächerlich. Das bildest du dir ein. Das war doch nicht der Rede wert. Das war nicht so. Daran kann ich mich nicht erinnern. Das ist doch lächerlich. Wehleidig sein kannst du.

Die Fähigkeit zur Resilienz wird durch vergeben müssen immer nur verhindert. Und umgekehrt. Verleugnung von authentischen Gefühlen. Denn selbst erholen konnte ich mich nur, wenn ich so wütend war, dass ich die Mutter schließlich töten wollte in Gedanken. Ich stellte mir das immer wieder vor, wie ich lautlos zum Vorschein kam, hinter dem Vorhang raus, und sie die Treppe dann hinunterstieß. Ich hatte mir das zugetraut.

Gefühle und Empfundenes, auch wirklich ernst zu nehmen.

Das ist doch lächerlich. Wenn ich verzweifelt war und nicht mehr weiter wusste.

Da waren immer ihre Schreie und ihr Flüstern. Da waren immer ihre Schreie, und wenn ich nur versuchte, sie anzufassen, zu berühren, sie irgendwie doch sanfter auf mich einzustimmen, erstarrte sie, als hätte ich mit meinen Fingern sie verbrannt.

Das stille Kind.

Ich suchte meine Sprache, nicht eine, meine, die Schreie auch verstehen würde. Ich suchte doch tatsächlich meine Sprache, die Schreie so verstand, und Flüstern als Bedrohung. Ich suchte meine Sprache und fand die Schreie schließlich in mir selbst. Aus Angst vor Mutters schwarzen Augen.

Als hätte ich mein Leben lang nichts anderes versucht, als meine Schreie zu verbergen. Aus Liebe unterdrückte ich sie nicht. Aus Angst vor ihren Augen und ihrer kalten Haut. Wer will schon eine tote Mutter fassen.

Was bildest du dir ein. Ich wünschte nur, du würdest mich verstehen!

Die Schreie, dann ihr Flüstern, als wäre sie unschuldig und immer schon gewesen.

Sie schrie mir meine Schreie weg. Wie ihre Schreie mich begruben. Wie ihre Schreie meine übertönten. Wie Flüstern von ihr in mich kam. Wie ich erschrak. Wie ich ihr Flüstern so annahm und wie ihr Schreien mich verstummte. Wie meine Schreie immer weniger dann wurden. Und wenn ich später wieder schrie, dann nicht für mich, nie für mich ehemaliges Kind. Ich schrie nur immer gegen jemand. Ich schrie jetzt wie die Mutter, nie für mich selber. Nur gegen mich und gegen Qual.

Vielleicht war es ihm möglich, von unten … aus dem Unterirdischen heraus, durch die Keller, durch den Boden dieser Sprache … in ihre geschlossenen Räume einzudringen?

Wolfgang Hilbig »ICH«

Die Schreie wurden von ihr lächerlich gemacht. Denn sie verspottete doch jede Art Beschreibung meiner selbst, von mir so jede Äußerung. Deshalb fand ich in mir solange keinen Anhaltspunkt, um meiner Wut auch zu begegnen. Deswegen Ironie und Spott über Beschwerden, Schmerzen, Qual und Grausamkeit.

Mit Schreien und mit Flüstern.

Ich hatte einen solchen Zorn, wenn jemand mich auslachte, wenn jemand schadenfroh auf mein Versagen reagierte. Erst jetzt begreife ich, wie ich selbst spottete, gegen Verwundbarkeit, Unsicherheit, Hilflosigkeit, selbst gegen mich und meine eigene Verzweiflung.

So wie man in den Wald hineinruft, so hallt es halt zurück.

Wütend werden, konnte ich nicht mehr. Der Spott hielt mich zurück. Der Spott verhinderte Beschreibung meiner Wirklichkeit, die für mich Kind, so ohne Mitgefühl und Liebe, nicht anders zu ertragen war. Der Spott, der uns vereinte. So wurde Mutters Sprache auch mein ein und alles. Mein Lied, mein Text, mein Schreien und mein Flüstern. Mit Spott hielt ich mich aus. Mit Spott konnte ich anderen begegnen. Mit meinem Spott bekämpfte ich Verzweiflung und schließlich meine Einsamkeit. Spott war Erlösung von den Schmerzen, für so ein Kind wie mich, bis ich doch endlich hinter meinem Spott auch meiner Wut begegnet bin. Ich merkte endlich an mir selbst, dass ich niemand vertrauen kann, der Leid verspottet und so tut, als wäre die Wut des Kindes etwas anderes als Mut. Denn mit Verspottung deckt man die eigne Feigheit zu.

Der Hausdiener trat noch einen Schritt vor. Auf den Deckeln der Särge lagen kleine Kärtchen, auf die mit Tinte Namen geschrieben waren. Der Hausdiener nahm die Karte, die auf einem der beiden kleinen Särge lag. Osewoudt streckte den Kopf vor, um mitlesen zu können. Er las: Baby Sondaar, 4. April 1945. Dann nahm der Hausdiener den Deckel des Sarges ab. Das Kind lag unter einer dünnen Decke. Es trug ein Hemdchen mit halblangen Ärmchen. Die kleinen Hände lagen übereinander. Die Fingernägel waren dunkelbraun, wie die Nägel von jemandem, der sich die Finger in einer Tür eingeklemmt hat.

Das Gesicht des Kindes erinnerte an einen jungen Vogel: Die Oberlippe hing weit über die Unterlippe, so daß der Mund einem noch nicht ausgewachsenen Schnabel glich. An den Mundwinkeln klebte ein wenig getrocknetes Blut. Vermutlich, damit der Mund geschlossen blieb, lag ein dickes Kissen unter dem Kopf. Die Augen waren geschlossen, und das Gesicht drückte grenzenlose Traurigkeit aus, als hätte das Kind gerade noch die Gelegenheit gehabt, Kummer darüber zu empfinden, daß es nicht leben würde.

Der Kopf war länglich und bei den Ohren tief eingedellt. Ein Bluterguß unter der Haut färbte die Stirn schon größtenteils schwarz.

Osewoudts Augen füllten sich mit Tränen, die Umgebung wurde unsichtbar, als befände sich eine dicke Platte aus Eisglas vor seinem Kopf. Tastend fand er den kalten Stein des Tisches, er legte die Blumen darauf, und ohne sich nach dem Hausdiener umzusehen, ging er die Treppe hinauf und rannte durch den Korridor. Die Tränen liefen immer noch, ohne daß er eigentlich das Gefühl hatte zu weinen.

Willem Frederik Hermans Die Dunkelkammer des Damokles