Artaud hat die eiserne Zeile geschrieben: als würde er Feuer durch Zement rammen.
Charles Bukowski, Brief an Joseph Conte, 27.Juni 1966
Es ist ein furchtbares Gefühl, sein Leben selbst zu hassen. Ich hasste schließlich meine Mutlosigkeit und meine Schwäche, meine Scham, alle Gefühle, die ich hatte. Ich hasste alles, was ich fühlte. Ich hasste Trauer, Schmerz, Verlust, Abschied, und immer wieder auch von neuem. Ich hasste das an mir und ich beneidete die anderen. Die scheinbar nichts, nicht das, was ich dabei empfand, nie das, was mich bestürzte und angriff, als ich zum Beispiel diesen toten Jungen dort im Gras liegen sah, und wie der Taucher in gehalten hatte, an einem Bein, wie ein Stück Holz, wie nichts das wertvoll ist, gehalten werden sollte, doch hielt, als wäre dieser Junge gar nichts wert, als wäre der jetzt überhaupt nichts wert, der tote Junge, der Ertrunkene, der eben noch gelebt, geatmet hatte, von dem ich dann auch träumte, wie er ins Wasser ging, wie er dann aus- und abrutschte, wie er dann unterging, für immer weg, als wäre nichts gewesen, als wäre das egal, so wie sein Freund jetzt trostlos da steht, immer wieder, und ohne seinen Freund allein, dass der die Tränen auch erdrückt, so starr steht der, so festgefügt, erfroren auf der Stelle, dass der jetzt alles hasst, den Tod, das Leben, alles Lebendige und alle Überlebenden, von denen keiner ihn jetzt trösten will und keiner seine Hand auf seine Schulter legt. Jetzt steht der ganz allein, da, immer wieder, und alle schauen nur ihn an, als wäre das ein Schuldiger, als wäre der ein Schuldiger, der nichts getan hat und nichts weiß. Der ratlos dasteht und verzweifelt, weil niemand sich für ihn verfügt, weil niemand ihn jetzt liebt, in Schutz nimmt ohne Frage, in seiner Lage der Verzweiflung. Weil niemand sich erklärt, mit seiner Wut und dem Gefühl der Trauer, jetzt für den toten Jungen spricht und seinen Freund; für dieses Kind.
Ich hasste nicht die Anwesenden und nicht den toten Jungen, ich hasste schließlich mich dafür, dass ich das alles nur ertragen musste. Dass ich da stand und zitterte, dass ich da ratlos war, vollkommen rettungslos allein.
Sie hatten etwas über das sie sprachen. Ich nicht. Schließlich begannen sie zu reden. Umstehende. Vom unvernünftig sein, wenn man nicht schwimmen kann, ins Wasser und zum Baden überhaupt zu gehen. Sie redeten, als wäre jetzt der tote Junge schuld und auch sein Freund. Sie lächelten auch wieder. Sie waren sich dann alle einig, dass das passieren muss, wenn man nicht aufpasst und nicht achtgibt, mit gehörigem Respekt nicht in das Wasser steigen würde, wenn man nicht schwimmen kann. Das sei das aller Dümmste überhaupt, nicht schwimmen können und dann zum Baden gehen. So dumm kann nur ein Bauernjunge sein, sagte mein Vater.
Ich hasste mich, dass ich ihm niemals folgen konnte, was er verstand und sah und dann dazu bemerkte, dass ich ihn nicht verstand, deswegen hasste ich mich schließlich selbst, dass ich im Grunde auch so dumm von Anfang an gewesen bin, weil ich nichts von Gefahren wusste, die überall verborgen waren, scheinbar geradezu auf einen lauerten. Dass ich zu dumm war, das zu sehen und zu begreifen, das war ein Grund, warum ich mutlos war und immer nur erschrak, wenn mich jemand erschrecken wollte, weil ich stets eine Drohung sah und überhaupt nicht wusste, dass doch nicht alles wirklich eine Drohung ist. Ich wusste einfach nicht, wie ich mich nicht bedroht zu fühlen hätte können.
Ich wusste nicht, wie ich mich davor schützen hätte können, vor den Gefahren, der Bedrohung, Angst, vor Tod, der scheinbar auf die Menschen wartete, geradezu auf sie zu lauern schien, dem schwarzen Mann sehr ähnlich. Ich war für mich zu dumm. Ich fand selbst keine Möglichkeit, das für mich irgendwie zu ändern.
Was ich nicht wusste und nicht wissen konnte, war Trost und Liebe, wie sie wirkten. Beschützt und in den Arm genommen, verliert ein Kind nicht seinen Mut. Es kriegt ihn mit der Liebe. Erst wenn ein Kind getröstet wird, legt sich die Liebe wie ein Mantel um seine Körperhülle. Denn Liebe setzt Bedrohung aus.
Die Auslöschung
Ich lachte über mich, wenn ich mir weh tat und mich schrecklich ärgerte, ich lachte über meine Schmerzen, verhöhnte meine Sicht. Empfinden war was für die Schwächlinge und Freude etwas nur für Muttersöhnchen, die sich an ihren Händen festhielten, die ihre Mutter mochten und sichtbar sich anklammerten. Ich hasste alle näher Kommenden, die mich zufällig auch berührten, die etwas von mir haben wollten. Die nicht mal dieses von mir wussten, dass ich nichts, gar nichts jemals wieder von mir geben und verraten würde wollen. Ich gab nichts weiter, nichts von mir, nur strahlendes Behaupten, dass nichts und niemand etwas wert war und sein würde, nur nichts und wieder nichts. Für nichts und wieder nichts geboren. Das war mein Hass, jetzt selbst, für mich, wie für die anderen. Es gab hier keine Ausnahme. Denn Hass verzeiht selbst keine Fehler. Der Hass, der in mir war nach allen Seiten, verzieh sich selbst nichts mehr. Ich schimpfte über meine Fehler. Ich schimpfte über mich, ich biss, wenn ich mir weh tat in die Lippen. Ich trat, wenn ich mich anschlug mit den Zehen, gerade extra auf den Zeh. Wenn du schon weh tust, dann auch richtig. Ich rächte mich an meinem Körper, weil er mir doch die Schmerzen und das Unglück zeigte und vorführte, weil er mich leiden ließ und mein Unglück zu besiegeln schien. Ich hasste seine Äußerungen, wenn er sich schämte, traurig werden wollte, wenn er vor Angst sich klein und kleiner machen wollte, dann scheuchte ich ihn auf, erschreckte ihn noch mehr. Ich schreckte mich, zog aus die Angst zu suchen, zog in den Krieg, zog mit den Worten meinen Hass in alle Ohren. Verschrie, versuchte das, das Leben anderer zu Unglück machen. Beziehungen zu knüpfen, um sie dann aufzulösen und zu verraten.
Wenn immer nur der Hass und niemals Mitleid in ein Kind geschüttet wird, dann hasst sich dieses Kind so sehr dann irgendwann für seine Schwäche, für seine Reste Zärtlichkeit und Liebe, die noch übrig sind, weil sie ihm noch den letzten Schmerz vorhalten. Sie hielten mir die Schmerzen vor, wie Tücher, Fahnen meiner Schwächen. Hass endlich dich mit deinen Schmerzen, nun hass doch endlich dich mit deinem Fühlen! Das kann so nicht mehr weitergehen. Was ist denn los mit dir. Wann hört denn endlich dieses Klagen auf. Das muss doch endlich einmal enden. Das kann doch ewig nicht so weitergehen.
Schlussendlich hört die Liebe auf, wenn Hass den Sinn ergreift, doch alles jetzt zu hassen, was sich selbst äußern kann und immer noch selbst freuen. Ich hasste jede Freude, weiß, ich hasste diese Unschuldsfarbe, ich hasste ein Gesicht, das sich nicht grämte und nicht gleich verschloss, das nicht Verachtung wieder spiegeln wollte. Ich hasste jedes nicht hassen. Ich hasste alle, die sich nicht verbrennen wollten. Die nicht vom Tod besessen waren, von Tod und Unglück musste alles handeln, von Abscheu und von Hass, dem Leben gegenüber. Dass ich nicht Trost empfangen hatte damals, dass das der Grund des Hasses gegen mich selbst war, das konnte ich niemals begreifen. Ich riss die Haut von meinen Narben, als gäbe es gar keinen Schmerz. Ich ließ in meine Zähne bohren, als gäbe es gar keinen Schmerz. Ich schlug im Grunde meinen Körper, weil er die Schmerzen äußerte. Ich folgte dabei in Gedanken den Worten meines Vaters. Jetzt schlage ich den Jungen schon so lang und er will nicht begreifen, doch endlich mit dem Weinen aufzuhören. Wie lange muss ich dich denn noch bestrafen, damit du endlich Ruhe gibst. Ich folgte meiner Einsamkeit und folgte meiner Mutter. Wie lange muss ich dich denn noch alleine lassen, damit du endlich lernst, begreifst allein zu recht zu kommen? Ich strafte mich für mein Vermögen selbst, etwas noch zu empfinden. Du kannst so lange weinen wie du willst, ich werde mich nicht um dich kümmern.
Ich fasste mich mit ihren Händen an. Ich nahm die Strafe an. Ich strafte mich mit ihren Worten und zog mir ins Gesicht mit ihrem Hass die Kriegsbemalung. Ich war im Krieg mit allen ihren Mitteln. Der Mutter aller Dinge, in Einsamkeit und Hass. Das Feuer brannte zur Zerstörung und Leidenschaft war Hass. Denn Schmerzen und Gefühle waren meine Feinde. Ich trat auf meinen Schatten. Anhänglichkeit war mir verhasst. Ich hasste meine Schattenbilder. Anhängsel meiner Kinderzeit und meines Kinderlebens. Ich hasste die Vergangenheit, denn die Verbundenheit war doch im Grunde alles Unglück, das ich erleben und stumm erdulden hatte müssen. Ich hasste schließlich mein Bedürfnis, nach Schutz und Trost, Anhänglichkeit. Ach könnte ich nur ohne einen Schatten sein. Ich hasste Licht, wie Liebe etwas helles. In Dunkelheit, wenn überhaupt dann Flammen. Verbrennen sollte alles, in Flammen und Vergessenheit geraten. Ich selbst und alles was dazugehört, nie mehr nun irgendjemand mögen und niemals wieder lieben müssen. War mir zutiefst verhasst. Das lieben müssen und getröstet werden. Mein nicht getröstet sein. Ich hasste diesen Schatten, die Bilder in mir aufbewahrten, wie ich um Nachsicht betteln musste, wie ich aus Rücksicht weinte. Ich hasste meine Tränen schließlich selbst. Die noch die Reste meiner Kindheit zeigten, von meinem lieben müssen; Trostlosigkeit. Wie furchtbar das doch war, um Liebe/Trost zu betteln müssen und dafür ausgelacht zu werden. Wie furchtbar diese Zeit doch war. Ich warf der Sonne ihren Schatten vor die Füße. Der schwarze Mann, der hatte keinen Schatten mehr, der hatte keinen Schatten nötig, der war im Grunde leer, nur ein Phantom, Gespenst und ohne eine Bindung, Rührung, vollkommen losgelassen. Frei. Einer, der ohne alles war und nichts empfand. Der keine Gründe nötig hatte und keine Schuld besaß, der sich nicht schämen musste, für sich nicht und für keinen anderen. Mein Sinnbild einer letzten Hoffnung, der Sehnsucht nach Veränderung. So wollte ich im Grunde sein. Vollkommen ohne Achtung für mein Leben, mich selbst und jeden Widerschein und jedes Wiedersehen davon, in mir und jedem anderen geradeso verachtend. Ein schwarzes Loch, das alles anzieht und vernichtet. Die Schwerkraftfalle. Die alles an sich reißt und dann vermengt, um es dann endgültig zu löschen. Gefühle ausgelöscht zu haben, befreit das Kind von seinem größten Schmerz, niemals geliebt zu worden sein. Denn diesen Schmerz kann niemand fassen, der sich als Kind begreift, denn das bedeutet seine Wunden hassen und seine Schutzbedürftigkeit.
Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Ich wollte nichts mehr von mir wissen. Nichts mehr von mir und meinem Kinderdasein. Ich musste mich auslöschen, damit mein Hass nicht sichtbar werden konnte, nicht fühlbar auf die Eltern. Ich löschte mich mit meinem Hass. Ich richtete den Hass auf mich und schnitt mir selbst ins eigne Fleisch. Bezahlte mein Bedürfnis und Gefühl mit eignen Schmerzen. Ich löschte Hass mit Schmerz, beglich damit auch scheinbar Schuld.
Wenn ich als Kind in eine Kirche ging, ergriff mich Schuld von ganzem Herzen. Ich zahlte mit Vergebung heim. Vermeintliches Geschenk trostspendender Worte. Mit Schuld und wieder Schuldbekenntnis und insgeheim nun wieder nur mit Hass auf meine Wunden.
Gemocht zu werden ohne Gegenleistung in der Not, bedeutet für mich heute wirklich Liebe. Ich musste immer nur auf Schuld und Schulden achten. Das ist die Absicht jeder Schuldzuweisung. Dass hinter Liebe Absicht steht, ein dafür und deswegen. Doch das ist eine Lüge. Ich sollte doch als Kind für jede Hilfe nur bezahlen, mit Schmerzen und mit Schulden. Geliebt zu werden aber, ist ohne Schuldgefühl, geliebt zu werden in der Not, bedeutet ohne Schuld zu leben. Geliebt zu worden sein, bedeutet ohne Schuld zu sein. Wer jemand liebt, bezeugt die Unschuld eines Kindes. Denn wer ein Kind in Not begreift, bezeugt die Unschuld seiner Schmerzen. Bezeugt, dass Fühlen ohne Schuld sein ist.
Ich dachte immer, Trost wäre etwas Schuldiges, ich müsste mich dafür, dass ich ihn nötig hatte, nachträglich noch entschuldigen. Dass jedem, der sich trösten ließ und Trost von andern forderte, dass jedes Kind untröstlich sei, das klagte, weinte und nur schrie, sich damit schuldig machte.
Der Glaube an ein Kind, das schuldig schon geboren wird, löscht Liebe aus; er löscht das Licht in jeder Nacht.
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