Texte von Hugo Rupp

Die Angst, beschämt zu werden

 

Im Schuhgeschäft, am Samstag Vormittag. Ich kriege meine ersten Schuhe im Geschäft. Sie messen mir die Füße ab. Ich soll mich hinstellen, dann messen sie die Füße ab. Ich soll mich hinsetzen, dann messen sie die Füße noch mal ab. Die Verkäuferin und meine Mutter. Mit Socken, ohne Socken. Dann holen sie mir Schuhe.

Nur für dich, sagt Mutter. Schuhe nur für dich. Das sind dann deine Schuhe. Da musst du schön drauf aufpassen. Nicht jeder kann sich neue Schuhe leisten.

Die Schuhe passen nicht. Sie tun mir hinten weh, und drücken vorne bei den Zehen.

Passt, sagt die Verkäuferin. Da vorne muss noch Platz sein, sagt sie und drückt auf meinen großen Zeh. Da ist kein Platz, sagt sie. Die sind zu klein. Ich hole andere.

Du musst sagen, ob sie dir passen, sagt Mutter.

Ich sitze und warte. Wie lange Mutter bleiben will, wann sie hier raus will und schnellst möglich wieder gehen, wann sie unruhig wird und wieder raus will aus dem Laden, wann sie nicht mehr hier bleiben will.

Die Verkäuferin kommt wieder und bringt ein neues Paar.

Die müssten aber passen, sagt sie und kniet sich vor mich hin und schaut mich an, weil ich so brav da sitze und sie anlächle. Ich hebe meinen rechten Fuß, damit sie mir den Schuh anzieht. Dann meinen linken Fuß. Ich sehe, dass sie zögert. Ich spüre, dass er hinten an meiner Ferse drückt. Und links drückt er noch mehr.

Der müsste eigentlich passen, sagt sie. Was sagen Sie, sagt sie zu meiner Mutter.

Passen die, fragt Mutter und schaut mich an.

Ich weiß es nicht. Sie drücken, aber sind nicht mehr so eng.

Du musst doch wissen, ob sie dich drücken!, sagt sie.

Am besten, du gehst jetzt einmal hin und her, damit du merkst, ob sie dir passen, sagt die Verkäuferin.

Ich stehe auf und gehe hin und her. Der eine Schuh drückt, der andere nicht. Ich merke, dass Mutter sich bald ärgern wird. Sie will hier weg.

Ich sage, passt und lächle. Der eine Fuß tut vorne am Schuh was. Ich sage nichts. Die Verkäuferin schaut mich, dann meine Mutter an.

Passen dir deine Schuhe, fragt sie.

Ich nicke. Sie passen nicht. Das kann ich aber nicht sagen, weil Mutter gehen will.

Die Schuhe passen dir, sag schon !? sagt sie.

Wenn ich nein sage, dann reißt sie mich aus dem Laden und schimpft mich zuhause aus. Sie stellt mich dann hin und sagt mir, dass ich sie blamieren würde.

Ich muss schließlich noch was kochen, sagt sie.

Zuhause muss ich die Schuhe anziehen und sie Vater zeigen.

Und passen, fragt er.

Ich nicke. Ich stelle mich gerade hin, und Vater bückt sich und drückt mir auf die großen Zehen. Er lächelt.

Da ist noch Luft, sagt er.

Die Schuhe drücken mich an der Ferse und an einer Seite. Der kleine Zeh. Ich ziehe diesen Zeh dann an. Ich versuche unterschiedlich so zu gehen, dass ich vergesse, wenn der Schuh mich drückt.

Freust du dich nicht, fragt er.

Ich nicke zweimal.

Nicht jeder hat so schöne Schuhe!

Ich versuche so zu gehen, dass es nicht auffällt, wenn ich beim Gehen Schmerzen habe. Wenn ich stehe, dann so, dass ich das Bein mit dem zu engen Schuh leicht hebe. Manchmal drehe ich den Fuß nach innen und stelle ihn verdreht mit der Spitze auf den Boden und drücke dagegen. Oder ich stelle ihn auf die Ferse und hebe vorne an, wie beim Fersengang.

Ich kann nicht sagen, dass mir der Fuß weh tut. Ich kann bei Schlägen auch nicht sagen, dass sie mir weh tun. Das kann ich, wenn sie mich schimpfen und verfluchen, auch nicht tun. Ich will mich daran gewöhnen. Ich kann nicht sagen: Das tut mir weh. Ihr tut mir weh!

Es ist für mich erst heute fassbar, dass meine Angst und Furcht nur immer die vor meinen Eltern und ihren Strafen war. Dass ich mich schrecklich fürchtete als Kind, sie könnten mich bestrafen, wie sie es immer schon, von Anfang an getan hatten.

Ich konnte nicht verstehen, warum ich leiden musste, für meine Wünsche und Gefühle, warum ich sie nicht straflos haben durfte. Als gäbe es ein falsch und richtig Fühlen.

Ich konnte meinen Schmerz als Kind nicht fassen. Da ist mein Zittern wieder. Vater steht da und will von mir nichts wissen. Sie lachten über meine Not. Ich fühlte meine Not als Schuldigkeit. Nichts was ich jemals meiner Mutter gab und schenkte, war für sie gut genug. Ich schämte mich dafür, für mein Versagen, dass ich als Kind vollkommen wertlos war für sie. Sie lachten über mich und meine Art Geschenke. Sie lachten über mich und was mein Körper konnte.

Ich schämte mich für meine Zärtlichkeit. Und meine Zunge, meine Augen, meine Arme und meine Finger, meine Zehen, mein ganzer Körper stellte immerzu die gleiche Frage. Sie ließen mich mit meiner Liebe unerwidert. Ich schämte mich zu lieben.

Sie lachten über meinen Körper. Sie lachten über die Funktionen meines Körpers. Sie lachten über meine Nacktheit. Sie lachten über mein Geschlecht. Sie lachten über mich als Junge. Sie lachten über meine Ausscheidungen. Sie lachten über alles was mein Körper war und selbstverständlich tat und forderte, wie er sich zeigte und empfand. Sie lachten über mein Bedürfnis, über meine Zuneigung. Sie lachten über meine Liebe.

Sie lächelten auch über meine Zärtlichkeit, als ich der Mutter einmal eine Brosche schenkte. Sie konnte das nicht fassen, dass ich ihr etwas schenken wollte. Sie lachte über meine Zuneigung. Sie lachte meine Freude aus. Ich konnte das nie ändern. Nichts was ich an mir, in mir hatte, war für sie wertvoll.

Ich wartete auf Zuneigung. Ich spielte ohne Tiere. Ich spielte mich verstecken. Nicht mehr allein zu sein mit mir. Die Not, die mir zum Vorwurf wird. Dass ich den Eltern meine Not nur vor die Füße werfe, und sie zum Handeln zwinge. Ich wartete auf meine Liebe.

Ein Kind, das auf Liebe warten muss, das wartet auf die Strafe. Es wartet auf ein weniger, das für mich gleichbedeutend mit der Liebe, ein weniger an Strafen war. Das weniger an Strafen kriegen, ist ein Ersatz für Liebe. Ich wartete dann später, wenn ich mich verliebte, wie automatisch auf die Strafe. Die Strafe für die Liebe, verlassen sein, verlassen werden.

Angst war in allem was ich tat. Sie war in jedem Tun und Lassen. Als Angst vor jedem nächsten Schritt. Den Vater nicht enttäuschen. Die Mutter nicht verärgern. Angst vor Beschämung ohne Ende.

Die Angst etwas zu ändern, von dem was für mich schmerzhaft ist, entspringt der Angst vor meinen Eltern. Niemals darf ich was ändern, niemals etwas verändern. Er mag nicht, wenn ich nicht gehorche. Sie will nicht, wenn ich mich selbst wehre.

Ich schämte mich allein.

Ich durfte meine Scham nicht zeigen. Sie wollten meine Scham nicht ein Mal sehen. Ich sollte mich damit verziehen, verschwinden damit in ein Zimmer, in einem Raum allein, mit mir und meiner Scham dann bleiben. Vor meiner Scham und mir allein, so wertlos und so wehrlos bin ich also. Den Ausdruck meiner Scham, den Ausdruck des Gefühls, den sollte ich verstecken. Ich sollte meine Angst und meine Scham und meine Angst vor Scham und wieder Scham ausschließlich nur für mich behalten. So währt die Angst und Scham dann ewig. So kann die Scham dann lebenslänglich wirken, die Angst davor, weil niemals Scham wirklich gefühlt wurde.

Die Eltern waren meine Standgerichte und meine Richter und die Vollstrecker ihrer Urteile. Ich überlebte in der Einsamkeit und lernte dieses Wissen anzuwenden. Mein Wissen war, nicht fühlen und nicht fühlen dürfen, Gefühle niemals zeigen. Ich lernte jeden Tag nur neue Einsamkeit, nur wieder nichts von mir herzeigen. Die Angst vor Strafe und Beschämung war ohne eine Äußerung und Gegenwehr.

Nur da war ich zu Hause, nur dort war meine Heimat später, wo ich nichts fühlen durfte, nur dort fühlte ich mich heimisch. Ich fühlte mich nur ohne Scham auf Friedhöfen, in Leichenhallen. In toten Gegenden.

Ich soll mich schämen, wenn ich Angst habe.

Ich soll mich schämen, weil ich schuldig bin.

Ich soll mich schämen, weil ich ängstlich bin und mich vor meinen Eltern fürchte.

Ich soll gefälligst keine Angst haben.

Ich soll mich nicht mehr schämen.

Ich soll gehorchen und nichts fühlen.

Ich soll mich niemals wehren.

Ich soll mich schämen, weil ich Angst habe.

Ich soll die Strafen fürchten.

So gibt es keine Wut. So kann es keine geben. So gibt es nichts, nur Ängstlichkeit und keinen Mut. Nichts durfte mich bewegen, nichts was die Eltern mit mir machten, darf sichtbar Spuren hinterlassen. Nichts durfte sichtbar sein und werden. Niemals die Taten meiner Eltern, niemals auch mein Gefühl dabei.

Gefühle machen sichtbar.

Ich atmete und ging auf allen Vieren durch die Wüste. Die Strafe lachte immerzu. Ich war ihr Sündenbock. Ich hörte ihre Worte. Sie gingen neben mir. Unüberhörbar für mich selbst, vollkommen unverständlich für den Sand und Pflanzen und auch Steine. Die Steine hörten mir nicht zu. Die Tiere hörten mir nicht zu. Sie spürten keine Worte. Sie wollten sich vor mir nicht schämen und nicht schützen. Sie schauten unverschämt in meine Augen, als wäre ich der letzte Dreck. Die Wut kam plötzlich, unüberhörbar war sie da. Brach aus mit einem Mal. Da hatte keiner von den Fröschen eine Ahnung. Sie saßen da und quakten. Sie saßen da und sonnten sich. Ich nahm eine lange Weidengerte. Ich stand am Fluss, im Seitenarm, am Altwasser, ganz nah bei diesen müden Fröschen und schlug mit einem Mal auf diese Frösche ein.

Ich schlug so lange zu, bis alle tot waren. Ich hörte nicht eher auf, bevor nicht alle tot da lagen. Dann schlug ich auf die toten Frösche ein und ich verlachte sie, dass sie nicht abgehauen waren. Dass ich sie einfach schlagen konnte wie ich wollte. Sie gaben keinen Laut von sich. Sie wehrten sich nicht mal. Sie hüpften auch nicht weg. Sie blieben einfach in der Sonne liegen, in grauem Schlamm fast eingetaucht. Sie hüpften nicht mal weg. Schön dumm, das waren sie für mich. Zu dumm zum Weglaufen. Ich machte mich noch über diese toten Tiere lustig. Zu dumm zum Weglaufen. Was waren das für blöde Viecher. Was lebten diese Tiere überhaupt, die blöden, dummen Tiere. Ich freute mich, ich konnte es nicht fassen, dass niemand mich deswegen ansah und zur Rede stellte und bestrafte. Dann schmiss ich meine Gerte hin und ging nach Hause. Ich war tatsächlich glücklich ohne Scham.

Wer seine Angst, beschämt zu werden fühlt, kann seine Wut begreifen. Denn Angst vor Scham verdeckt die Wut. Weil Scham, versteckte Scham, das Überleben sicherte, versteckte Scham, versteckte Angst. Weil nur verstecken Überleben sicherte. Doch diese Scham versteckt das Kind, und dieses Kind versteckt die Scham. Bis an sein Lebensende, wenn es nicht fühlend lernt, dass seine Angst als Kind nur Überleben war, und doch zum Leben nicht mal taugte. Denn leben heißt nicht, sterben können oder müssen. Das ist das Überleben müssen. Das Leben ist das Fließende und frei, wenn die Gefühle kommen, gehen, auch wenn sie noch so schrecklich sind und sich so schrecklich anfühlen. Gefühlt vergehen sie. Denn Einsamkeit, das Nichts, ist doch im Grunde nichts anderes als Abwesenheit von Gefühlen. Nichts fühlen, nicht fühlen dürfen. Nicht fühlen, ist für ein Kind zuerst nicht fühlen dürfen.

So wurde Not, je öfter ich sie äußerte, zu einem Vorwurf gegen mich. Sie schickten mich weg und lachten über mich. Sie glaubten meiner Not und meinen Äußerungen nicht. Sie sagten mir damit, ich würde doch nur lügen und ihnen etwas vormachen. Ich würde meine Not nur vortäuschen. Ich würde sie anschwindeln. Ich würde meine Not erfinden. Sie redeten von ihrem Schmerz, und meiner war dagegen nichts. Als wäre ich mit meiner Not ein Lügner und ein Schwindler. Und die Beschämung eine Strafe, für die Gerechtigkeit, weil ich doch meinen Eltern völlig zu Unrecht meine Not und meinen Schmerz, mein Leid vorwerfe und vorzeigen würde. Als wäre meine Einsamkeit, wenn sie mich wegschickten, die einzige gerechte Strafe. Ich musste denken, ich verrate meine Eltern, wenn ich meine Not vor anderen preisgebe und mich beschwere. Dass meine Eltern mich in meiner Not allein gelassen und verraten haben, das konnte ich als Kind nicht einmal ahnen.

Meine Not wurde zu einem Makel, den sie mir gaben und vorhielten. Ich sollte mich für meine Tränen schämen. Ein Kind, das sich nicht wehren darf, kann sich nicht helfen. Ein solches Kind, das seine Not nicht zeigen kann, darf sich nicht einmal lieben. Das Schlimmste ist, dass so ein Kind auf die Erlaubnis wartet, sich selbst zu fühlen und zu lieben. Dass so ein Kind auf seine Liebe wartet. Solange es den Schmerz und seine Wut nicht fühlen kann, kämpft es vergeblich gegen sich und seine Sündenböcke.

Ein solch beschämtes Kind kann sich nicht freuen. Denn wer die Not in einem Kind beschämt, verspottet jede noch so kleine Äußerung von Selbstachtung, Respekt und Liebe. Wer seine Not als reine Phantasie erleben muss, hört auf für sich zu sorgen und zu fühlen.