Texte von Hugo Rupp

Die Abreibung

 

„Liebe“ zu den Eltern
Saturday 21 October 2006

Liebe Alice Miller!
Ich beziehe mich auf den Leserbrief „Nich jedes Kind liebt seine Eltern“ vom 19.Oktober. Er hat mich angerührt, weil ich gerade soeben schon wieder einen richtiggehende „Liebesanfall“ auf meine Eltern hatte. Das schwelt immer irgendwie mit in mir, und das hält mich auch vom Leben ab, dieses unterschwellig ablaufende. Denn mein schlechtes Gewissen und meine Sorgen darum, daß ich ihnen „das Herz brechen“ könnte durch mein teilweises Bewußtwerden über alles, was passiert ist und meinen Kontaktabbruch zu ihnen führen dazu, daß ich leblos daher lebe, mir nicht erlaube, lebendig und aktiv mein Leben zu leben, und auch nicht unter Menschen gehen kann, sozusagen als „Buße“. Es ist also eine immerwährende Ambivalenz in mir. Heute jedoch kamen wieder die überschwallenden Gefühle von „Liebe“ zu ihnen in mir hoch, ich habe das öfters. Ich stellte mein Telefon wieder an, das monatelang aus war, damit sie mich nicht erreichen können, weinte, und dachte an ihren Tod. Ich sagte mir, ich könne ihren Tod nicht überleben, wenn ich mich nicht vorher mit ihnen versöhne, da ich sonst ihr „Herz gebrochen“ habe. Ich dachte, dann würde ich nach ihrem Tod endgültig selbst „ausgehen“, bzw. mich sogar umbringen, weil es dann eh alles keinen Zweck mehr habe. Ich wollte ihnen alles verzeihen, in dem Sinne, daß alles Krankmachende und Schlimme von ihnen ausgehend, etwas „von außen“ ist, so als ob es ein Teufel von außen ist, denen wir alle unterliegen können, sie also nichts dafür können, spaltete es damit von ihnen ab, um sie lieben zu können. Oder ich sagte mir, ich bildete mir alles nur ein. Und solche Dinge. Aber: meine Knie zitterten, alles zitterte in mir, das war immer so, wenn ich Kontakt aufnahm. Ich nahm den Kontakt nicht auf, trotz inneren Treibens, denn sie könnten ja womöglich sterben, und ich müsse mich beeilen. Oft kriege ich in solchen Momenten Ausratser auf meinen Freund, er würde mich ablenken, „nachzudenken“, denn ich fühle mich unter Druck, denke, ich sei verrückt und bilde mir alles nur ein, denn ich müsse mich mit ihnen wieder versöhnen, sonst breche ich ihr Herz, also die Welt gehe damit unter. Mein Freund ist dann „schuld“, weil er mich ablenkt. Als ich eben den Leserbrief las, kapierte ich wieder, was das ist, tatsächlich die „Liebe“ des Kindes, das überleben muß..und konnte mein Telefon wieder abschalten..
Noch was: In solchen „Liebeszuständen“ meinen Eltern gegenüber denke ich dann, Sie, und das Ourchildforum, die Aussage vom inneren Kind, und das alles sei „böse“, ich will dann nichts davon wissen, es kommt mir dann vor wie eine „Verführung zum Bösen“. Oh man, immer dieses Hin und Her.
Mit freundlichen Grüßen, Ihre k

AM: Sie schreiben oft, dass Sie vom Gefühl der Sehnsucht nach Ihren Eltern „überfallen“ werden und Ihnen gleichzeitig der Gedanke an die Begegnung Angst mache. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal über das Verhalten schizophrener Mütter zu ihren Säuglingen gelesen haben, z.B. bei dem Selbst-Psychologen Heinz Kohut, der den Begriff Selbst-Objekt gebrauchte. Es wurde bei diesen Müttern beobachtet, dass sie ihren ganz kleinen Kindern viel Zärtlichkeit geben können, sie umarmen, küssen, aber diese auch nach Belieben ablegen können und sich überhaupt um DESSEN Gefühle und Bedürfnisse nicht im Geringsten kümmern. Sie behandeln das Kind als ob es ein Teil von ihnen wäre oder ein Kuscheltierchen, aber nicht eine unabhängige Person mit einem eigenen Innenleben. Sie spielen mit ihm wie Kinder mit Puppen spielen. Ich stelle mir vor, dass sich das Kind einer solchen Mutter unter Umständen sein Leben lang nach den guten Momenten mit dieser Mutter sehnt, die es als „Liebe“ registriert hat, als die Mutter es so zärtlich streichelte.
Es ist ein schreckliches Schicksal. Denn diesem Kind wurde die Verantwortung für das Leben und das Wohlbefinden seiner Mutter aufgebürdet, es sollte nur für sie existieren. Es durfte nichts für sich genießen, nicht glücklich sein, nichts entwickeln in dieser Diskontinuität der Zuwendung, der einzige Sinn seines Lebens war das Leben der Mutter zu erhalten und ihr eine Stütze zu sein. Das war seine Mission, dafür wurde es von Geburt an programmiert. Und in der Einsamkeit wartete es auf die „guten Momente“
Wenn die erwachsene Tochter anfängt, dies zu durchschauen, bekommt sie Ängste um das Leben ihrer Mutter, die doch ohne ihr Kuscheltierchen sterben müsste. Es sind die Todesängste des Säuglings, die damals ganz und gar begründet waren, denn das Baby fühlte: „wenn ich nicht für sie da bin, wird sie sterben, dann habe ich keine Mutter und muss dann auch sterben. An mir hängt ihr Leben und daher auch meines. Aber dieses muss leer sein, darf keine Erfüllung finden, denn so will sie mich haben.“
Doch das darf nicht ewig bleiben. Das Leben der Mutter ist für die Erwachsene nicht mehr unverzichtbar. Wenn sie das verstanden hat, wird es ihr mit der Zeit langweilig sein, ihr Leben zum Dasein eines Kuscheltiers ihrer Mutter oder Ersatzmutter im Partner zu reduzieren. Sie wird versuchen, sich von der erstickenden und verdummenden Symbiose zu befreien, und dies wird ihr gelingen, sobald sie begriffen hat, dass sie zwar von Geburt an für die Rolle der Retterin ihrer Mutter bestimmt wurde, aber diese Rolle heute AUFGEBEN KANN und es heute in der Hand hat, sich ihren eigenen Bedürfnissen zuzuwenden. Und NIEMAND WIRD DARAN STERBEN MÜSSEN. Die heutige Realität ist ANDERS.

© 2014 Alice Miller – all rights reserved.

Schuld bindet Leid, Beschuldigung bindet das Leid an eine nie begangene Tat in einem Kind. Schuld ist der Grund, warum ich nicht mehr leiden hatte können. Weil ich mich schuldig fühlte, immer dann, wenn jemand anders litt wie ich. Fremdschämen kommt daher. Ich musste schließlich brav sein und verständnisvoll, wenn Vater litt, wenn meine Mutter leiden mir vorspielte. Wenn ich nur einmal für mich war, dann schaute Mutter böse. Dann wurde meine Mutter böse, wenn mich mein Leid ergriff.

Selbst schuld!

Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.

Ludwig Wittgenstein § 255, Philosophische Untersuchungen

Als gäbe es nur Schuld im Schmerz und Leid, und jede Art Empfindung sei selbst schuldbehaftet.

Dass ich nicht leiden soll, das habe ich begriffen. Allein sein soll ich, so wie sie. Und jedes Bild das Leiden zeigt, soll mir verhasst sein und verhasst auch bleiben.

Sie lobte mich, wenn ich was wegsteckte, so tat, als würde endlich nichts mehr sein. Als könnte wirklich niemand tot sein und für immer weg sein, sterben. Nur so ging es ihr gut. Die Oma starb, doch meiner Mutter ging es gut. Sie lachte, und die Oma starb. Red doch ein letztes Mal mit ihr! Sie würde sich so freuen.

Die Oma hatte auch ihr Leid verschluckt. Gelacht, bis man ihr dann den Arm abnahm. Gelacht, und voller Krebs, den Kopf gedreht, schon war sie weg. Da konnte ich nicht hingehen. Im Grunde freute sich die Mutter und die Oma nur, wenn ich die Trauer unterdrücken würde. Sie spielten mir was vor, und ich sollte es dann nachspielen.

Wie mir ein Zahn abbrach, da lachte sie, erzählte was von kleinen Booten und weißen Yachten, die heute erst gekentert seien, das hatte Onkel Herman ihr erzählt. Gekentert dort am Bodensee bei Sturm, und die Regatta ging ganz einfach weiter. Stell dir nur vor, da kentert so ein Boot vor dir und alle gehen über Bord und niemand weiß, ob die ertrunken sind, und die Regatta geht ganz einfach weiter. Das fällt mir endlich wieder ein. Die Ablenkung, die immer Schuld für mich enthielt. Die Ablenkung, die mich zur Schuld verführen sollte.

Leid sollte man verbieten, wenn jeder sich beklagen kann, sagt Vater. Du sollst mir nicht was vorweinen. Hörst du! Ich kann das nicht ertragen.

Wer weint niemals? Wer lässt sich nichts anmerken? Wer zeigt nicht einmal Angst? Die Marionetten. Erst wenn der Puppenspieler kommt, sie abnimmt und mit seinen Fingern hin und her macht und so zieht, dann geht was vor, dann kommt Bewegung und auch Leben in die Puppen. Augsburger Puppenkiste. Sie hingen da, der Pepi, Kater Mikesch, Paschik, Bobbesch, Maunzerle und Oma. Das also waren Brüder, Schwestern. Die handgeschnitzten Särge meiner eingesperrten Kinderseele.

Vom Klopfen meiner Klopfgeräusche aufgewacht, endlich die Angst davor befreit, mein auf der Hut sein und aufschrecken. Die scheue Wacht; hab Acht, nur immerzu hab Acht. Jetzt weiß ich auch, woher das kommt. Wenn meine Mutter zu mir kam. Vom Klopfen an den Kopf, vom Knöchel klopfen an ein Holz, von Holzschuhschritten bin ich aufgewacht. Wenn ich mich strecken will, bleibt ein Fuß still und ein Bein steif, hält ein Bein immer fest, ein Holzbein der Erinnerung, an meine frühste Heimstatt, Heim, das hab ich niemals abgelegt. Vom Marionettenstab ein Stück und ich spiel mit; jetzt bin ich endlich aufgewacht. Von meinem Geist wurde ich aufgeweckt. Die Mutter kommt, ihr Zeichen höre ich, jetzt kommt sie an, die Mutter aller Marionetten naht. Jetzt muss und darf ich wieder spielen lernen. Sie kommt, deswegen bin ich aufgewacht, jetzt darf ich wieder leben. Deswegen juckt mein Holzbein auch. Als Zeichen der Verbundenheit. Unter den Holzfüßen spür ich ein leichtes Beben und Erschütterung. Das könnte eine Rührung sein. Vom Boden, oder meiner Mutter? Was bin ich selbst? Ein Holzkopf oder Störenfried?

Was macht denn der?

Wie heißt denn die?

Womit verdient denn der sein Geld?

Wo wohnt denn die?

Was machen denn die Eltern von dem Mädchen?

Die Fragen meiner Eltern halfen nie, sie lenkten nicht nur ab, sie gaben eine Richtung vor, nur immer weiter weg von Freunden, neuen Freunden und Bekannten. Nur ja nicht weg aus ihrem Marionettenstaat. Bleib nur schön da. Bleibst du jetzt da!, sag ich. Zuhause ist es doch am schönsten.

Er würde es vielleicht nie zugeben oder gar verstehen, aber innerlich war er immer auf der Hut, immer wach und er beobachtete die Menschen in seinem Umkreis ständig in dem Versuch, zu berechnen, wer ihm helfen und wer ihn verletzen könnte. Was ist der schwache Punkt dieser Person, was will sie, was fürchtet sie?

Bruce D. Perry/Maia Szalavitz Der Junge der wie ein Hund gehalten wurde

Vom Leben einer Marionette. So stur und unnachgiebig jedem individuellen Leiden gegenüber. Und immer auf Distanz. Verbindung darf nicht sein. Sonst wird die Mutter böse und reißt an Fäden, wirft Puppe hin und lässt sie in der Ecke liegen. Verbindung auch zu andern Puppen darf nicht sein, denn das gefährdet ihre Puppenstube. Das bringt Unordnung in den Staat. Und wer muss dann für Ordnung wieder sorgen!? Der Vater mit der Bandsäge. Der nimmt die Puppe mit, geht damit in die Werkstatt, schmeißt seine Säge an und schneidet ein Teil ab. Das faule, sture Holz, das nicht mehr hören will. Der Vater schneidet einfach etwas ab.

Du Holzkopf, sagt er immer dann, kannst du dir nicht mal merken, was ich sage. Jetzt hör gefälligst auf. Er klopft mir an den Kopf und Mutter schreit dazu. Mit seinem rechten Zeigefinger, mit seinem Knöchel klopft er mir an Stirn und Nase und den Mund, damit ich endlich Ruhe gebe. Ich tat dann so, als würde ich das gar nicht merken.

Der springende Punkt sei, setzte er mir auseinander, was ein Mensch an Selbstverantwortung tragen könne, in dem Bezug sei kein Mensch dem andern gleich.

Jakob Wassermann Der Fall Mauritius

Jetzt weiß ich wieder, wie das wirklich war, als ich den Jungen rausgeworfen habe, wie ich so wütend war. Sie hat mich immer wieder aufgehetzt. Sie hat mich immer wieder neu ermahnt. Der würde mir doch immer einen Indianer stehlen, und noch einen, und noch einen. Das würde nur so weiter und so weitergehen, sagte sie. Sie räumte meine Mantschgerln weg. Sie räumte immer wieder weg und zählte dabei meine Indianer, Männer, Cowboys, durch. Und immer wieder fehlte einer. Ich wusste das, ich spielte schließlich mit. Wir spielten Überfall. Wir spielten miteinander, mein erster Freund, der zu mir kam, der doch zuhause keine Indianer hatte. Wir spielten immer nur mit meinen Mantschgerln.

Wie meine Mutter noch Jahrzehnte später voll Freude das erzählt hatte, wie sie von meiner Wut begeistert war; wie sehr ihr das gefallen hatte.

Und später mit den Schussern, wie oft sie mir das Spielen und die Freunde madig machte. Das war doch immer so, dass sie mich nach dem Spielzeug fragte, ob ich etwas verloren, ob mir jemand was abgenommen und gestohlen hätte.

Wie viele Schusser hast du noch? Lass sehen, wie viel jetzt wieder fehlen. Mach auf! Mach endlich deine Hand jetzt auf! Hörst du, sagt sie und starrt mich an. Da fehlen ja die ganzen Sechser! Sie funkelt mich mit ihren Augen an. Wo sind denn deine Sechser hin!?

Verloren, sage ich.

Wenn du die Schusser nur verlierst, dann brauch ich dir auch keine neuen kaufen. Streng dich gefälligst an!

Der beste Schusserscheiber hatte sie mir abgewonnen. Der Kuller Klaus, der später alle seine Sechser aus dem Fenster warf und einfach so wieder verschenkte. Ich habe das Erlebnis nie vergessen, denn einmal sah ich doch, was jemand tun kann, einfach so, einfach etwas verschenken und sich darüber freuen. Ich sehe ihn noch ganz genau, wie er die Schusser aus den Waschmitteleimern schüttet, zwei Stockwerk tief sind sie gefallen und gefallen und aufgekracht, als würde es Bleikugeln regnen. Was war das für ein Fest und Augenblick. Der Kuller Klaus verschenkt einfach die Sechser, die ganzen Schusser weg, und freut sich dabei riesig.

Ich weiß gar nicht, was dich so freut, wenn jemand alle seine Schusser aus dem Fenster wirft? Was ist denn daran toll? Kannst du mir sagen, warum dich so was freut, wenn jemand seine Sachen einfach wegwirft, sagt Vater streng, und Mutter pflichtet bei.

Ich hatte keine Antwort. Ich schwor mir aber augenblicklich, nie mehr was über Freude zu erwähnen. Ich nahm mir auch fest vor, nie mehr was davon vorzutragen. Ich wollte nie mehr wieder, egal von wem, was über falsche Freude hören. Die Mutter und der Vater waren armselig. Sie gönnten niemand eine Freude. Und andere Erwachsene, die waren auch so streng. Mir war, als würde das verboten sein, wie polizeilich untersagt. Niemand hat diese Gegenwart der Eltern hinterfragt. Die Unterdrückung guter Lebensgeister war total. Es kam gar keine Freude vor, nur Schadenfreude über andere. Es kam gar keine Freude auf. Sie war bei mir zuhause abwesend und nicht erwünscht. Für Freude musste man sich schämen.

Wer aber Freude unterdrückt, der unterdrückt auch immer damit Wut; in sich und jedem anderen. Weil die Zerstörung meiner Freude auch immer Wut zum Vorschein hätte bringen können. Wie viel an Wut ich auf die Mutter und den Vater hatte, realisiere ich erst jetzt. Denn mit der frei gewordenen Freude, wird auch die Wut wieder lebendig, auf jene, die mir die Freude stahlen.

Wenn ein Kind eine reaktive Bindungsstörung hat, geht der Mangel an Beziehung und Bindung in beide Richtungen.

Bruce D. Perry/Maia Szalavitz Der Junge der wie ein Hund gehalten wurde

Wir haben das doch nicht gewusst, sagt meine Mutter Jahre, Jahre, Jahre später.

Ihr wolltet das auch gar nicht wissen. Ihr wolltet nichts von euch erfahren. Das ist das schlimmste, was man einem Kind für seine Zukunft antun kann. So tun, als könnte man nichts ändern, nur ertragen. Nur die Erfahrung eigner Schädlichkeit, wie schändlich man selbst war, kann ein Herz weiterbilden, damit man das nicht ewig wiederholt, was einen doch so quälte und verrückt gemacht hatte.

Denn Mangel an Gefühl und Liebe, schafft Mangel an Einsicht; an sich und jedem anderen. Man muss schon so wie ich, so lang verrückt gewesen sein, wie meine Eltern, um die Verrücktheit nicht zu sehen und zu spüren und zu merken. Wo soll denn da noch Liebe herkommen, in dieser Art Verbindung? Wie soll denn da Liebe entstehen, wenn nicht einmal sich freuen geht. Wenn nur die Erwähnung von Freude, den Vater wütend machen kann und Mutter feindselig und böse!?

Denn wer in einem Kind die Liebe hemmt und Zärtlichkeit nur unterdrückt, nur Freude hemmt und einem Kind die Freude nehmen will, macht Liebe überhaupt und ohne Schuldgefühl für dieses Kind in Zukunft so unmöglich. Wer seine Liebe hemmt, zerstört die Unschuld in sich selbst.

Das schlimme daran ist, dass ich dann später als Erwachsener, nach „Liebe“ ohne Unschuld Ausschau hielt. Dass ich Unschuld und Liebe, Zärtlichkeit, gar nicht mehr wollte. Ich hätte eine Frau, die ungebunden, frei gewesen wäre, niemals im Traum selbst angerührt.

Es ging nämlich bei meinen Eltern nie um Liebe, das lernte ich, ohne zu wissen, was ich da Falsches für mein Leben lernte. Es ging um die Verachtung jeder Liebe, und zur Versicherung mit Schuld behaftet sein. Ein Echo aus der frühen Kindheit. Es ging nur um Verachtung; Verachtung meiner Liebe, Verachtung meiner Schmerzen und einer Wut, die doch bei jeder Art Liebesverlust frei wird. Empfinden aber konnte ich das nicht. Denn es ging nicht um Liebe. Es ging um den Verlust von Unschuld und die Verachtung der begleitenden Gefühle. Es ging um die Verachtung jeder Zugehörigkeit und Bindung, die ausschließlich auf Sympathie und Liebe gründete.

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Friedrich Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, Aph. 146)

Er stellte mir ein Bein. Ich lief, und Vater stellte mir ein Bein. So unscheinbar und klein, dass ich es gar nicht kommen sah. Ich taumelte, geriet aus meinem Takt und purzelte, als würden meine Beine leer durchgehen und grub mich dann ein wenig mit der Sandalenspitze in den Rasen ein, dann stellte es mich auf und ich fiel hin und auf die Grasnarbe, am Rand der Aschenbahn, mit meinem rechten Knie und auf die rechte Seite. Als wäre nichts gewesen schaute mein Vater lächelnd zu, wie ich nicht weinte und nicht wütend wurde. Wie ich das unter einem Bild begrub, das mich und Vater zeigt, wie er mir Starten beibrachte, am Rand der Aschenbahn und Peter K. schaut auf dem Spielfeld stehend zu. Das musste ich mir sinnbildlich ausreden, was ich tatsächlich jeden Tag mit meinem Vater und der Mutter wirklich doch erlebt hatte. Sie stellten mir ein Bein und nannten es Erziehung. Sie machten meine Lebensfreude hin und nannten das Erziehung und Gehorsam. Sie machten mir das Leben schwer und nannten das dann auch noch Liebe; denn Untertanengeist muss immerzu erziehen, er ist für gar nichts anderes bereit. Vom Untertanengeist beherrscht. Sich Untertanen suchen müssen, um zu erziehen.

Erziehung abzulegen und zu erkennen, dass ich mir selbst und anderen damit doch schadete, war ohne die Erfahrung der eigenen Erbärmlichkeit und Niedertracht nicht möglich.

Da bleibst!

Verschwind!

Ich will dich nicht mehr sehen!

Hau endlich ab!

Du bleibst gefälligst hier!

Halt jetzt dein Maul!

Erwartungen, was ich von meinen Eltern immerzu erfahren habe, das habe ich dann auch erwartet. Was ich erlebt hatte, so wie die Eltern zu mir waren, so wurden die Erwartungen in mir. Was ich von allen Menschen später dann erwartet habe. Und das, was ich erwartete, bekam auch jeder so von mir. Was ich als Kind erwarten hatte müssen, tatsächlich jeden Tag, das konnte jeder andere von mir dann später auch bekommen.

Die meisten der Beteiligten traten oft bei meinen Kontrollgängen durch die Vernichtungsstellen an mich heran, um ihre Bedrückung, ihre Eindrücke an mich loszuwerden, um durch mich beruhigt zu werden. Aus ihren vertraulichen Gesprächen hörte ich immer und immer wieder die Frage heraus: Ist das notwendig, was wir da machen müssen? Ist das notwendig, daß Hunderttausende Frauen und Kinder vernichtet werden müssen? Und ich, der ich mir unzählige Male im tiefsten Innern selbst die Frage gestellt, mußte sie mit dem Führer-Befehl abspeisen, damit vertrösten. Mußte ihnen sagen, daß diese Vernichtung des Judentums notwendig sei, um Deutschland, um unsere Nachkommen für alle Zeit von den zähesten Widersachern zu befreien. Wohl stand für uns alle der Führer-Befehl unverrückbar fest, auch daß die SS ihn durchführen mußte. Doch in allen nagten Zweifel. Und ich selbst durfte auf keinen Fall meine gleichen Zweifel bekennen. Ich mußte mich, um die Beteiligten zum psychischen Durchhalten zu zwingen, felsenfest von der Notwendigkeit der Durchführung dieses grausam-harten Befehls überzeugt zeigen. Alle sahen auf mich. Welchen Eindruck machten solche Szenen, wie oben geschildert, auf mich, wie reagierte ich darauf. Daraufhin wurde ich genau beobachtet, jede Äußerung meinerseits durchgesprochen. Ich mußte mich sehr zusammenreißen, um nicht einmal in der Erregung über eben Erlebtes meine inneren Zweifel und Bedrückungen erkennen zu lassen. Kalt und herzlos mußte ich scheinen, bei Vorgängen, die jedem noch menschlich Empfindenden das Herz im Leibe umdrehen ließen. Ich durfte mich noch nicht einmal abwenden, wenn allzumenschliche Regungen in mir hochstiegen. Mußte kalt zusehen, wie die Mütter mit den lachenden oder weinenden Kindern in die Gaskammern gingen. […] Ich mußte dies alles tun – weil ich derjenige war, auf den alle sahen, weil ich allen zeigen mußte, daß ich nicht nur die Befehle erteilte, die Anordnungen traf, sondern auch bereit war, selbst überall dabeizusein, wie ich es von den von mir dazu Kommandierten verlangen mußte.

Rudolf Höß, von Mai 1940 bis November 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz

Der Junge auf dem Spielfeld, Peter K.. Endlich wird dieses Bild, Vorbild in mir, fühlbar und wahr.

Nur ja nicht wütend werden, sage ich. Nur ja nichts sagen und nicht Vater aufregen. Nur ja nicht fragen, was das war. Warum er mir ein Bein stellte. Nur ruhig und besonnen sein. Nur ja nicht klagen jetzt!

Deshalb steht Peter da, so nah und doch mit fernem Licht im Rücken. Als würde die Vergangenheit sich selbst jetzt endlich anzünden. Mit letztem Licht, mit einer Sonne, die jetzt untergeht. Er sagt nichts und er lächelt ein klein wenig. Er spart sich jeden Kommentar. Der Peter, der sich nie beschwert hatte. Der Peter hat trainiert und quälte sich und ließ sich von Erwachsenen so quälen. Der Peter als Vorbild.

Nur ja nicht weinen, sage ich. Sonst krieg ich doch noch eine Abreibung. Nur schön die Luft anhalten und nicht weinen. Und noch einmal von vorn. Jetzt heißt es, sich von neuem hinzustellen und zu beweisen. Den Letzten beißen doch die Hunde. Nur nicht zu langsam und nicht trödeln. Und keine Löcher in den Himmel starren!