Texte von Hugo Rupp

Die Ablehnung

 

Er nickte und versuchte, sich hart und gleichgültig zu geben, aber ich war sicher, dass er Angst hatte. Er würde es vielleicht nie zugeben oder gar verstehen, aber innerlich war er immer auf der Hut, immer wach und er beobachtete die Menschen in seinem Umkreis ständig in dem Versuch, zu berechnen, wer ihm helfen und wer ihn verletzen könnte. Was ist der schwache Punkt dieser Person, was will sie, was fürchtet sie?

Bruce D. Perry / Maia Szalavitz Das kälteste Herz, aus: Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde

Den Glauben anderer zerstören. Vom Glauben abbringen. Verbindungen kaputt machen. Intrigen spinnen. Bindungen zerschneiden. Den Glauben anderer für sich auslöschen und zerstören. Neidisch auf jede Art Beziehung, und eifersüchtig auf Verbindung.

Unscharfe Bilder. Mutter erscheint mir unentwegt unscharf im Traum. Sie wird nie deutlich und bleibt nicht in mir haften. Ihr Bild verkommt. Kein Bild von einer Bindung, die es niemals wirklich gab.

Nur minderwertig fühlte ich mich wirklich. Wenn ich mich minderwertig auch benahm. Wenn ich mich minderwertig machte. Wenn ich mir minderwertig selbst vorkam. Das fühlte sich für mich dann wirklich an. So war ich doch als Kind von Mutter auch behandelt worden. Als minderwertig, dreckig und selbst schuld dafür, und selbst für mein Gefühl der eignen Minderwertigkeit noch meiner Mutter zugetan. Verantwortlich für meine Minderwertigkeit, war immer nur ich selbst.

Und wenn mich jemand später mochte, war ich gleich alarmiert. Ich konnte damit nichts anfangen und war bedrückt und fühlte mich beleidigt, wenn jemand mir tatsächlich etwas Gutes tat. Wenn jemand etwas gutes mir tun wollte, war ich beleidigt, nicht angenehm berührt. Wenn jemand es tatsächlich mit mir gut meinte und mich vielleicht auch einmal zärtlich anfasste, dann zuckte ich zusammen und erschrak, verschreckt, und zog in mir Verachtung auf. Zuviel war später für mich jede Art von Zärtlichkeit. Als würde mich jemand mit Liebe, Zärtlichkeit nur immerzu missbrauchen. Und die, die mir tatsächlich weh getan hatten und mich missbraucht hatten, waren in Sicherheit und blieben ungeschoren.

Ich hatte gar nichts besseres verdient.

Ein Kind wie ich, das für die einfachsten Bedürfnisse und seine Wünsche nur verachtet und verurteilt und bestraft wurde, muss sich andauernd später nur verachten und bestrafen, wenn es Bedürfnisse verspürt und Wünsche äußert, nach Nähe und nach Liebe. Nach Außen kam nichts mehr in Frage davon. Die Mutter war zu keiner Nähe fähig, wie hätte ich da meine Wünsche länger äußern können.

Sie gab mir das Gefühl, sie hätte doch was besseres verdient. Nicht so etwas wie mich. Nur dreckig, stinkend und unfähig, mich mit mir selbst alleine zu beschäftigen.

Ausscheidungen waren für meine Mutter immer nur das Schlimmste. Sie hustete, sie schluckte und sie schimpfte. Es gab kein Mal, wo sie nicht angewidert von mir war.

Du dreckiges, vermaledeites Kind. Du kannst nur dreckig sein. Was anderes kannst du nicht sein.

Es war wirklich nichts Besonderes. Ich hing einfach so ab und diese zwei Mädchen kamen vorbei. Wir fingen an zu reden und dann luden sie mich in ihre Wohnung ein, um einen draufzumachen. Und als sie mich dann oben hatten, haben sie es sich anders überlegt. Das hat mich wütend gemacht.“ Das unterschied sich von seiner ursprünglichen Aussage und von den anderen Berichten. Es schien, dass er die Geschichte umso weniger brutal darstellte, je mehr Zeit seit dem Verbrechen vergangen war. Mit jedem Mal, da er sie erzählte, war er weniger und weniger verantwortlich für das, was geschehen war; anstelle der Mädchen wurde zunehmend er zum Opfer.

Es war ein Unfall. Ich wollte sie nur erschrecken. Aber die blöden Biester konnten den Mund nicht halten“, fuhr er fort.

Mein Magen rumorte. Reagiere nicht. Sei ruhig. Wenn er spürt, wie entsetzt und angewidert du dich fühlst, wird er nicht die Wahrheit sagen. Bleib ruhig. Ich nickte.

Sie waren laut?“, fragte ich so neutral wie möglich.

Ja. Ich sagte ihnen, dass ich ihnen nicht wehtun würde, wenn sie nur einfach den Mund halten.“ Er ließ die Vergewaltigung aus. Er ließ weg, wie brutal er die Mädchen getreten hatte.

Ich fragte, ob ihre Schreie ihn in Wut versetzt hatten, ob das der Grund dafür gewesen war, dass er sie getreten hatte. Der Autopsiebericht hatte ergeben, dass die 13-Jährige ins Gesicht getreten worden war und jemand auf ihren Hals und ihren Brustkorb getreten hatte.

Na, ich habe sie nicht wirklich getreten. Ich bin nur gestolpert. Ich hatte einiges getrunken. So, jetzt wissen Sie es“, sagte er und hoffte, ich würde die Lücken füllen. Er sah auf, um zu sehen, ob ich ihm seine Lügen abkaufen würde. Es gab kaum eine Gefühlsregung in seinem Gesicht oder in seiner Stimme. Er beschrieb die Mordtaten, als würde er in der Schule ein Erdkundereferat halten. Die einzige Spur von Emotion, die er zeigte, war die Verachtung, dass seine Opfer ihn „dazu gebracht hatten“, sie zu töten; er war wütend darüber, dass sie ihn abgewehrt, ihm Widerstand entgegengebracht hatten.

Ich musste einfach besser, besser, besser und noch einmal besser werden. Ich musste immer etwas bessern. Sonst würde ich doch immer nichts, nur minderwertig sein und immer nur verdreckt und dreckig bleiben.

Ich falle in die Grube und die Raben fressen mich.

Der Hass der Mutter. Auf meine Kleinheit, Wehleidigkeit, dabei war ich nicht wehleidig. Der Hass auf meine kleinen Füße, Schenkel und den Kot, der mir an meinen Beinen so herunterlief. Die Windeln schnitten mich. Sie trocknete mich ab und schnitt mir mit dem Windeltuch in meine Seiten. Die Windeln, wie die Hose schneidet in mein Fleisch. In meine Seiten. Die Frösche, die wir schlugen. Wir peitschten Frösche tot. Ich peitschte und ich schlug in ihre Körper. In ihre Flügelbeine schnitt ich, wie Mutter ihre Flügelschere nahm und dann den Haxen für Vater vom ganzen Huhn wegnahm. Den Haxen abgeschnitten. Den hielt sie mir vors Auge. Mit ihrer Flügelschere, wenn ich jetzt nicht mein Maul hielte. Wenn ich nicht gleich mein Maul halte, dann wird sie mir auch meine Beine so abschneiden.

Verurteilung

Tatsächlich Vierteilung.

Gewalt macht Nähe unerträglich. Gewalt macht Nähe für ein Kind unmöglich, wenn es nach Nähe sucht. Ein Kind kann Nähe nicht ertragen, wenn es Gewalt damit verbinden lernt. Denn Nähe mit Gewalt wird so Betrug. Ein Kind wird um die Nähe auch betrogen, wenn es Gewalt ertragen muss. Denn Hass macht Nähe unerträglich. Unmöglich macht ein Hass, was Nähe schafft; Vertrauen, Trost und Zärtlichkeit; und Liebe. Gewalt verhindert eine Bindung.

Ich lag neben der Mutter und wurde für mein Bedürfnis nach ihr bestraft. Und so bestrafte ich, beurteilte ich später, verurteilte ich später dann, jedes Verlangen und Bedürfnis nach Nähe und nach Zärtlichkeit. Ich legte mich neben mein Bett und ließ die Freundinnen alleine im Bett liegen. Nur eine Armlänge entfernt. Doch langte ich sie nicht mehr an. Ich schlief dann ein und als ich wieder aufwachte, waren sie alle weg.

Verurteilung von Nähe.

Den Zug versäumen in den Träumen. Nähe nicht finden. Zugbindung aufheben. Keine Verbindung finden. Ich fand keine Verbindung mit der Mutter. Deswegen waren alle Züge, Flüge, in den Träumen plötzlich abgesagt. Oder ich fand den Bahnsteig nicht. Oder der Zug war vorher abgefahren. Oder ich rannte ohne Sinn und ohne Grund jemandem hinterher. Doch fand ich keinerlei Verbindung.

Mein Bein tut weg. Mein linker Fuß. Mein rechtes Bein im Schritt. Wie ich verzweifelt nach der Mutter linkisch suchte. Nur eine winzige Berührung wenigstens. Schon das war viel zu viel für sie und schon genug. Sie konnte meine Nähe nicht ertragen. Und später dachte ich, die Nähe wäre Selbstbetrug. Da konnte ich schon kein Bedürfnis mehr nach Nähe an mir selbst ertragen. Da waren die Bedürfnisse schon längst für mich Betrug. Gehörten auch verurteilt und betrogen.

Ich wusste nicht in meiner Einsamkeit, dass etwas anderes als Einsamkeit noch existiert. Ich hatte keine Möglichkeit das selbst herauszufinden. Da war niemand, der sich mit mir verstand.

Auf der Suche nach irgendeinem Anzeichen von Reue stellte ich ihm schließlich eine Frage, die einfach hätte sein sollen.

Wenn Sie nun auf all dies zurückblicken, was hätten Sie anders machen wollen?“, sagte ich und erwartete, dass er wenigstens ein paar Allgemeinplätze darüber verlieren würde, seinen Zorn zu kontrollieren und Menschen keinen Schaden zuzufügen.

Er schien eine Minute lang nachzudenken und antwortete dann: „Ich weiß nicht. Vielleicht die Stiefel wegschmeißen?“

Die Stiefel wegschmeißen?“

Ja. Es waren die Schuhabdrucke und das Blut an den Stiefeln, durch die sie mich gekriegt haben.“

Bruce D. Perry / Maia Szalavitz Das kälteste Herz, aus: Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde

Zerstören müssen, was Menschen im Vertrauen hält. Und je verzweifelter ein Kind nach Bindung sucht und immer nur dafür verurteilt wird, beschämt und so bestraft, selbst daran schuld zu sein, für sein natürliches Bedürfnis, um so verzweifelter wird dieses Kind ohne ein Zeugnis und ein Wissen, Verbindungen und Glück und Liebe dann umbringen und zerstören müssen. Verbindungen zerstören, hat so ein Kind wie ich gelernt. Bindung verhindern und zerstören, das habe ich von meiner Mutter mitbekommen.

Verurteilt zur Distanz, zur Bindungslosigkeit und zum Distanz üben.

Als wäre nichts von meiner Mühe je umsonst gewesen. Was ich Jahrzehnte lang versucht hatte. Es war alles umsonst, sinnlos, absurd und wirklich ohne einen Funken Hoffnung. Vollkommen zwecklos schon vom ersten Anfang an. Nichts konnte ich verbinden und verbessern. Nichts konnte ich verhindern. Wie jedes Wort, wie jeder Ton und Laut, wie laut, wie leise und wie anteilnehmend zu den Eltern hin, nur immer von mir in die Leere ging. Wie jedes Wort und jeder Laut, den ich an ihre Haut, an meine Eltern richtete, mich niemals wirklich näher brachte. Dass nichts geholfen hat und nie was helfen hatte können. Nähe zu meinen Eltern war nicht möglich. Weder der Hass, noch Wut, noch Zorn, noch irgendetwas anderes brachte mich einen Millimeter weiter. Egal ob meine Mutter tot, lebendig oder gar in einem Zwischenreich, nichts überbrückt den Abgrund zwischen unsren Leben. Nichts gibt der Kindheit, die keine Bindung an die Eltern hatte, nachträglich eine. Die Wut für meine Eltern endet hier.

Jetzt weiß ich, was mich an den Äußerungen über die nicht weggeworfenen Stiefel so verstört hatte. So sind die Äußerungen meiner Mutter auch gewesen. So kalt und logisch, unpersönlich. Bezüglich meiner Not als Kind, bezüglicher jeder Not. Das waren Schutzbehauptungen und Ausflüchte.

Wie meine Mutter sagte: Du hast dermaßen laut geschrien. Da musste ich doch alle Türen und die Fenster schließen. Was hätten denn die Nachbarn da gesagt, wenn sie den ganzen Tag von dem Geschrei belästigt worden wären. Das regt doch schließlich jeden auf, wenn jemand unablässig nur so schreit! Mir blieb doch gar nichts andres übrig, als alle Fenster, alle Türen zu. Wir hatten keine Jalousien.

Wie kaltherzig die Mutter wirklich zu mir war. Ich zitterte als Kind tatsächlich wegen ihr. Nicht weil es draußen kalt war oder Winter.

Ich wache auf um 5 Uhr früh. Die Zeit in der mein Vater seinen Blinddarmdurchbruch hatte und mich und jede Welt verschrie, und meine Mutter dabei sachlich blieb. Von meiner Mutter lernte ich die Kälte. Von ihr war ich entsetzt, von ihrem kalten Herz so mitgenommen, als ich da stand und nur mehr zittern konnte. Erst jetzt verstehe ich. Das kalte Herz der Mutter ist nicht meines. Ich muss mich nicht mehr um sie kümmern. Ich muss mich nicht mehr an ein kaltes Herz anbinden und anklammern und noch so tun, als würde mir das helfen können.