Texte von Hugo Rupp

Der wunde Punkt

Hüte Dich Felice das Leben für banal zu halten, wenn banal einförmig, einfach kleinsinnig heißen soll, das Leben ist bloß schrecklich, das empfinde ich, wie kaum ein anderer. Oft – und im Innersten vielleicht ununterbrochen – zweifle ich daran ein Mensch zu sein.

Franz Kafka, Brief an Felice Bauer

Ich musste eine Rolle spielen, damit das nicht aufkam in mir, wie furchtbar das gewesen ist, mit Mutter ganz allein zu sein. Wie grausam das gewesen ist, für meine Mutter herzuhalten, für ihre nie realisierten Hoffnungen, als Sündenbock. Ich konnte sie nicht hoffnungsfroher machen.

In ihr zu sein. In ihr zu stecken. Mit ihr allein zu sein. Das war die reinste Hölle. In dieser Frau als Kind zu sein.

Wie nah ich Mutter kommen kann, hat sie bestimmt. Und ich, ich dachte dann, ich sei daran auch schuld, dass sie nie näher kommen wollte.

Endlich begreife ich die Ehrfurcht, als eine Möglichkeit, mich von der Wut zu trennen.

Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle.

Franz Kafka, Brief an Oskar Pollak

Und nur aus Ehrfurcht vor dem Bösen, weil keine Wut erlaubt gewesen ist, blieb ich ehrfürchtig vor der Hölle stehen. Wenn Vater seine Zähne zeigt und Mutter ihren Hass. Ehrfürchtig schaue ich, wie vor dem Nikolaus, der mich bestraft, indem er mich ermahnt, mir in die Augen schaut und dabei ganz genau so lächelt, wie Vater und wie Mutter, wenn sie mir predigen, wie schlecht ich sei, verkommen, dreckig und zu gar nichts nütze.

Was Ehrfurcht haben müssen zeigt.

Über dein Leben entscheide ich, nicht du!

Genau so habe ich mich später auch verhalten. Mit Schimpfen und Bestrafen. Geschieht dir recht. Und selber schuld.

Du tust, was ich dir sage.

Solange du die Beine unter meinem Tisch hast, bestimme ich!

Und keine Widerrede, sonst kannst du was erleben. Sonst ist hier gleich der Teufel los.

Du tust, was ich dir sage.

Nur meine Träume sprachen für mich selbst.

Er vor mir, alles grau, wir fahren Auto. Er in der Mitte, ganz allein, so wie bei einem Autoscooter. Alles ist grau. Ich sitze hinter ihm, er fährt. Er fährt durch dichten Nebel in der Nacht. Und ohne Licht. Da ist kein Licht und kein Verkehr. Nur Nebel auf der Autobahn. Und plötzlich merke ich, dass Vater fährt. Doch sehen kann ich ihn noch nicht. Er fährt frontal auf alles zu, was uns entgegenkommen kann. Endlich begreife ich und schreie los. Bremsen, bremsen. Ich schreie, wie ich noch nie im Traum geschrien habe. Ich schreie: Bremsen! Da dreht sich die Figur vor mir ganz langsam um. Die grauen Haare, graue Kleidung. Die graue Jacke, die er in der Werkstatt trug. Und Vater schaut mich an, der junge, ganz der junge Vater, auch seine Augen sind nur grau und schauen tot und leer. Mein Vater schaut mich an und blickt durch mich hindurch. Dann dreht er sich auch wieder um und fährt vollkommen unbeeindruckt weiter. Ich schreie: Bremsen! Dann fasse ich ihm ins Lenkrad, zieh das Auto nach rechts und wache auf.

Wovon ich träumend nicht zu sprechen wagte. Die unbewusste Angst, die Vater mit Gewalt und der andauernden Gewaltandrohung in mich brachte. Die hinter der Fassade, ohne den Sinn für Ehrfurcht lag.

Wer bist du denn!? Du bist doch nichts. Was hast du vorzuweisen. Du hast doch nichts. Wer sollte dich schon mögen!?

Mit Ehrfurcht floh ich vor Bedeutungslosigkeit.

Ehrfürchtig nahm ich Schuld um Schuld tatsächlich wahr. So wie ich später Ehrfurcht auch von anderen erwartet habe.

Hast du noch immer nicht genug!?

Hast du schon wieder Hunger?!

Bist du schon wieder wach?!

Bist du schon wieder nass?!

Kannst du nicht einmal ruhig sein und Ruhe geben!?

Bist du schon wieder krank?!

Hast du noch immer nicht genug?!

Warum ich später nicht ertragen kann, wenn mich wer übersieht, wenn jemand nicht auf meine Fragen reagiert, wenn jemand mich ganz einfach übergeht.

Beschuldigt wurde ich für jede Träne, jeden Seufzer, jeden Laut, als wären meine Laute giftig und selbst mein stilles Lächeln nicht gescheit.

Was grinst du denn so blöd?!

Bist du nicht ganz gescheit in deinem Kopf?! Ich glaube fast, wir haben hier die Nachgeburt aufgezogen.

Ehrfürchtig schaue ich zu ihnen auf.

Was die Berührungsängste zeigen. Ich habe Ehrfurcht vor Gewalt und schäme mich für meine Schmerzen. Ich habe Angst, dass Vater mich berührt. Ich habe Angst berührt zu werden.

Du bist zu weich. Dich darf man nicht hart anfassen. Gleich weinst du los. Gleich fängst du an zu schreien und zu weinen und dich aufzuregen.

Hast du was an den Ohren?!

Du glaubst doch selbst nicht, was du sagst!

Was schaust du denn so grantig?!

Ich strafte mich für meine Sorgen. Dann bügelte ich mein Gesicht für ihn und sie zurecht.

Endlich verstehe ich, dass ich mich mit den Schuldgefühlen abwerte. Mich so zur Unterwerfung und zur Ehrfurcht brachte. Wertlos gemacht, hab ich mich selbst verachtet. Und dabei dachte ich, niemand hat das gemacht.

Der Patient ändert sich erst, wenn er selbst die Verantwortung dafür übernimmt, daß er sich einmal dafür entschieden hat, sich der Macht zu unterwerfen. Denn genau diese Unterwerfung ist es, die sein autonomes Potential hat verkrüppeln lassen und die seine seelischen Deformationen bewirkte. Das ist auch meine Kritik an Alice Millers Sichtweise, obwohl ich ihr Werk für wichtig und bedeutsam halte. Sie argumentiert, als ob das Verständnis für die determinierenden Einflüsse bereits die Heilung bewirke. Tatsächlich führt das aber nur dazu, daß sich der Patient wollüstig im Spiegel des therapeutischen Verständnisses sonnt, ohne sich ändern zu müssen.

Arno Gruen Der Wahnsinn der Normalität

Dem Vater bin ich ohne Ehrfurcht nie begegnet.

Stell dich gerade hin.

Sei still, sonst kommt der Schwarze Mann!

Mein Schuldbewusstsein ist so ausgeprägt, dass ich das gar nicht merke, wie schief ich bin, wie schuldbewusst und ehrfürchtig ich meinem Vater gegenüber bin und auf der Stelle trete.

Du träumst ja schon am helllichten Tag!

Stell dich gerade hin!

Nur keine Fehler jetzt. Es geht bei jedem Spiel auch nur um Macht, um Ehrfurcht und Gehorsam; Aufmerksamkeit.

Pass auf, wo du hintrittst!

Pass auf, was du sagst!

Pass auf, was du jetzt machst.

Wie du schon wieder aussiehst.

Hast du nicht aufgepasst?!

Kannst du nicht einmal etwas richtig machen?!

Schau genau hin, mit welchem Bein du auftrittst!

Pass auf!

Ehrfürchtig kreide ich, wie meine Eltern mir das vorgemacht haben, die eignen Fehler und Vergehen, jetzt auch den anderen an.

Was weinst du denn schon wieder?!

Was schaust du denn so zuwider?!

Ja hast du ihn nicht gern!

Ja hast du deine Mutter gar nicht gern!?

Der Körper kennt keine Moral, am wenigsten die verlogene, er kennt nur die Wahrheit des Erlebten: den Schmerz, die Wut, den Zorn über so viel Unsinn der Erziehung. Nehmen sie seine Gefühle ernst, hören Sie seiner Geschichte zu.

Alice Miller

Ich konnte meinem Vater nicht die Stirn bieten. Ich konnte mich nicht wehren. Ich konnte ihm als Kind gar nichts entgegensetzen.

Warum ich immerzu einseitig ging und das nicht einmal merkte. Ich stand ihm niemals nah. Ich schaute ihn niemals gerade an.

Stell dich gerade hin.

Schau mich gefälligst an, wenn ich schon mit dir rede.

Ich konnte gar nicht seelenruhig stehen. Ich konnte gar nicht ohne Angst ihm gegenüber sein. Ich konnte gar nicht ohne Angst auftreten.

Sei still und führ dich nicht so auf!

Ich rettete mich selbst mit meiner Ehrfurcht vor dem Herrn.

Ich rettete mich vor der Angst.

Und vor dem Schwarzen Mann.

Ich rettete mich vor der Angst.

Mit meiner Ehrfurcht vor dem Vater.

Ich setzte mich mit Ehrfurcht an den Tisch und sagte auch kein Wort mehr gegen ihn.

Ich wurde ehrfürchtig für mich.

Erst vor der Mutter, dann vor meinem Vater.

Mit Ehrfurcht hielt ich sie zurück.

Mir so vom Leib, mit noch mehr Ehrfurcht.

Benimm dich jetzt gefälligst!

Verzweifelt habe ich danach gesucht, dass mich wer sucht, dass mich wer mitnimmt und abholt und mich nach Hause bringt, dass mich jemand besucht, mich nimmt und sich dann um mich kümmert und mich gern hat.

Ich wünschte mir so sehr, dass sich ein anderer um die Gefühle kümmern würde, die mich verletzten und scheinbar aussetzten; besonders in der Nacht.

In jeder Nacht nämlich, floh ich als Kind aus Ehrfurcht vor der Wut, dem Vater und der Mutter gegenüber.

Jetzt geh ich weg, jetzt lauf ich weg, jetzt werde ich für immer gehen und verschwinden.

Ich nahm mir immer wieder etwas vor, den Vater anzugreifen, anzuschreien, auszuschimpfen, auf ihn zu pfeifen, doch wirklich machte ich das nie. Dem Vater gegenüber stark zu sein und stark zu bleiben, ihm meine Meinung geigen. Ich war wie meine Mutter, ich tat nur so. Ich nahm mir immer wieder etwas vor. Ohne zu wissen, dass eine solche Ehrfurcht in mir war, beschloss ich immer wieder, nichts zu tun. Mit Lächeln beispielsweise, um mich selbst auszulachen und zu beschämen.

Du wirst schon sehen!

Warte nur ab!

Dann bin ich einfach weg!

Und niemand wird mich von euch finden!

Viele Jahre später erzählte Hitler einer seiner Sekretärinnen, er habe einmal in einem Abenteuerroman gelesen, es sei ein Zeichen von Mut, seinen Schmerz nicht zu zeigen. Und so “nahm ich mir vor, bei der nächsten Tracht Prügel keinen Laut von mir zu geben. Und als dies soweit war – ich weiß noch, meine Mutter stand draußen ängstlich an der Tür -, habe ich jeden Schlag mitgezählt. Die Mutter dachte, ich sei verrückt geworden, als ich ihr stolz strahlend berichtete: ” Zweiunddreißig Schläge hat mir der Vater gegeben! ” (Toland, S. 30).

Alice Miller Am Anfang war Erziehung

Spiel dich doch nicht so auf!

Ein Heuchler, der dem Heuchler Heuchelei vorwirft.

Ich zweifelte an dem Gefühl. Ich zweifelte an dem Gefühl des Schmerzes und der Wut. Ich zweifelte an dem Gefühl für mich, was für mich wahr war. Ich zweifelte an der Empfindung eines Schmerzes und meiner Wut. Ich dachte schließlich wirklich, dass ich als Kind gar keinen Grund gehabt hatte, um zu verzweifeln.

Deswegen warf ich mir und allen anderen auch ständig etwas vor.

Es ging darum, mir etwas vorzuwerfen, um abzulenken von der Wut.

Zum ersten Mal begreife ich, dass meine Wut kein Vorwurf war. Sondern ein Ausdruck von Gewalt. Ein Ausdruck für mich Kind, um mich zu wehren, gegen die elterliche Macht und ihre übermächtige Gewaltausübung und Androhung.

Ich mach dir keinen Vorwurf.

Mein Leben lang habe ich versucht, mir keinen Vorwurf mehr zu machen. Mit Vorwürfen habe ich versucht, mir keinen mehr zu machen.

Dein Vater macht sich ernsthaft um dich Sorgen!

Das waren keine Sorgen. Das waren wieder nur Vorwürfe. Versuche, mir Vorwürfe zu machen. Mit Vorwürfen kannte sich meine Mutter aus. Mit Vorwürfen konnte ich schließlich auch umgehen.

Was wirfst du uns denn vor?!

Und was erwartest du von uns?!

Dass wir uns bei dir entschuldigen?!

Wie abwertend das ist, wenn jemand nur weggeht. Wie Mutter mich alleine ließ, mit meinen Schmerzen und Gefühlen.

Ja hustest du schon wieder!

Und als ich von der Mauer fiel, aufs Steißbein und nicht schrie, und alle, die dabei waren, nur weggelaufen sind, hab ich mich selbst verflucht. Mit Vorwürfen hab ich die Schmerzen zugedeckt und meine Wut, dass immer alle weggegangen sind, wenn ich jemanden doch gebraucht hätte.

Verdammt, kannst du nicht einmal richtig aufpassen.

Das hast du nun davon.

Jetzt musst du selber schauen, wo du bleibst!

Ich war nicht wert, dass man mir hilft. Ich bin es nicht wert gewesen, dass man mir hilft. Ich bin nicht wert, dass man mich liebt. Ich bin das gar nicht wert, dass Mutter mich aufhebt und einmal tröstet. Ich bin das gar nicht wert. Ich bin nicht wert, dass mich auch jemand mag. Ich bin, wie Vater sagt, keinen Schuss Pulver wert. Ich bin das nicht mal wert, dass er mich schlägt. Ich bin nichts wert, deswegen schlägt er mich nicht einmal mehr.

Ja hörst du mir nicht zu?! Ich hab dir doch gesagt, ich habe das doch gar nicht so gemeint!

Dein Vater meint es doch nicht böse!

Ich kam nicht raus mit meinen Schuldgefühlen. Ich konnte meine Schuldgefühle gar nicht fühlen. Ich wusste außer Ehrfurcht nichts mehr. Ich spürte doch gar nicht, wie schuldig ich mich einst gefühlt hatte, wenn Vater nur noch lachte, und Mutter lächelte und mit ihm einer Meinung war, wie lächerlich ich sei, wie klein und unbedeutend, mit meinen Tränen und meiner Wut.

Das nützt dir gar nichts. Da kannst du lange weinen. Hier kann dich niemand hören!

Sie wollte mich nicht hören.

Hörst du nicht richtig zu!?

Endlich begreife ich, dass ich mich schuldig fühlte, solange ich ehrfürchtig, vor meiner eignen Hölle stand. Wie ehrfürchtig vor meiner eignen Einsamkeit.

Jetzt hör doch endlich auf, das ist doch nicht zum Aushalten!

Ich rannte ja im Schlaf in meinen Träumen nur herum, ich war andauernd nur am Rennen und am mich fort bewegen und abhauen. Ich dachte immer nur, ich würde fliehen, fliehen wollen. Ich war im Schlaf stets unterwegs.

Ich suchte Zugehörigkeit.

Hör endlich auf mir hinterherzurennen!

So hat mich Mutter immer angeschrien, wenn ich es nicht mehr ausgehalten habe.

Hör endlich auf mir nachzurennen.

Ich musste mir einreden lassen, dass ich gar keinen Grund zur Wut und zum mich ärgern hatte. Ich merkte gar nicht mehr, wie ich der Spiegel meiner Mutter war, wie ich versuchte anderen die Wut auf Dauer wegzunehmen. Wie ich versuchte anderen die Liebe wegzunehmen, indem ich Frauen meiner Freunde nahm, und sie dann gleich wieder verließ. Ich lockte Leute an, dann schickte ich sie weg. Ich schlug sie vor den Kopf und wünschte sie zum Teufel. Und dabei merkte ich gar nicht, dass ich mich selbst dabei verließ. So blind war meine Wut, die Ehrfurcht vor mir selbst, aus Angst wieder berührt zu werden von Mutters Hass.

Hör endlich auf, mir ewig nachzurennen!

Für was ich mich als kleines Kind so schämte. Für ein Gefühl der Liebe und der Wut. Ich schämte mich für meine eigene Liebe. Weil ich ihr hinterherrannte.

Wie siehst du denn aus?!

Ich bin niemals darauf gekommen.

Für dich muss man sich schämen!

Mit Schuld und Scham.

Wenn Mutter in den Kindergarten kommt und mich abholt. Warum ich sie niemals erwartet habe, auch nicht am Tor. Warum ich mich nicht auf sie freute. Sie hat sogleich gefragt, ob ich mich gut benommen hätte. Ob ich auch brav gewesen sei.

Ich schämte mich für mein Auftreten. Ob ich zum Baden ging, mich umzog, oder ankleidete. Ob ich allein zur Schule ging, oder neben jemandem her. Ob ich im Kindergarten war, oder nach Hause ging. Ob ich jemanden traf, und mich nur unterhielt. Ich schämte mich. Deswegen machte ich den Kasperl in der Schule, aus dieser Not heraus.

Ich schämte mich vor meinen Äußerungen. Ich schämte mich für jeden kleinen Fehler. Deswegen soff ich mich halbtot, um mich nicht andauernd mehr so zu schämen.

Warum ich mit den Fäusten in den Hosentaschen stand und mein Gesicht verzog, wenn mich wer ansprach oder mir was sagen wollte.

Ich schämte mich fürs Lachen und fürs Schreiben und fürs Singen. Ich schämte mich fürs Laufen und fürs Springen.

Mund zu! Und streck nicht immer deine Zunge raus. Du willst doch nicht behindert aussehen. Oder wie der Mang Beppi?!

Ich schämte mich für mich. Ich musste mich für jemand schämen.

Warum ich meine Wut verbarg.

Das hast du nun davon!

Sie zog mich immer wieder zu sich runter mit ihren Schuld und Schamgefühlen.

Musst du mit deinen Dreckfingern, mir auf die Bluse tatschen?! Pass doch gefälligst auf!

Siehst du, was du gemacht hast, jetzt ist nicht nur dein Vater wach, sondern das ganze Haus. Jetzt hast du alle aufgeweckt mit deiner Schreierei. Siehst du die Lichter hinter all den Fenstern gegenüber?! Die sind nur wegen dir jetzt wach. Die hätten alle gern länger geschlafen.

Tatsächlich hat sie so getan, als wäre mir, dem kleinen Kind, das Wohlergehen anderer vollkommen gleichgültig. Als wäre ich ein asoziales und gemeines Wesen, mit meinen Tränen, meiner Wut. Als würde ich die anderen damit aufstacheln und erschrecken.

Als wäre ich an ihrem Schicksal schuld.

Wenn du so weiter schreist, dann holt noch jemand wegen dir die Polizei. Dann holen die dich ab und stecken dich in ein Gefängnis. Möchtest du das?!

Ich war ein böses Kind, deswegen sollte ich mich schämen. Die Lichter in der Straße waren der Beweis. Ich hatte alle aufgeweckt. Nun waren alle wach, nur wegen mir. Ich wartete darauf, dass sich die Menschen rächten.

Du kannst es deinem Vater nicht verdenken, dass er weggeht, ohne sich von dir zu verabschieden. Wenn du ihn immer wieder aufweckst und nicht schlafen lässt, dann wird er irgendwann auch einmal böse.

Als hätte ich nicht nur was falsch gemacht, sondern als könnte ich nur Falsches und Fehler machen, solange ich so weinte und so schrie.

Wenn du so weiter machst, dann platzt dir irgendwann dein Schädel!

Mein Schuldgefühl hat mir gesagt, dass ich bestraft würde, nicht nur von ihr, sondern von jedermann, vom Schwarzen Mann, auch von Passanten, einfach so und nebenbei, solange ich die Mutter nicht verschonen würde mit meiner Wut und Schreierei.

Sie hat mich schlecht gemacht, wenn ich sie brauchte. Dass meine Schuldgefühle daher kamen, weil ich das niemals glauben wollte. Dass meine Schuldgefühle später, nur dann daher kommen, die Strasse lang und aus der Luft, nur immer dann in mir aufkommen, aus heiterem Himmel, wie ein Geisterfahrer oder der Schwarze Mann, unheilschwangeren Wolken gleich, wenn ich nicht glauben will und kann, was ich vor allem fühlte und empfand, dass meine Mutter wirklich niemals da gewesen ist, wenn ich sie brauchte.

Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

Der Prozeß Franz Kafka

Ich sollte meinen Zorn für mich behalten. Ich sollte ihn nicht herzeigen, mir selbst nicht mehr und keinem anderen. Mich schämen sollte ich, und das bedeutete, die Wut auf meine Mutter muss jetzt sterben.

Ich wollte meinen Zorn zuhause lassen. Geh nicht mit Zorn ins Bett. Und schlaf nicht zornig ein. Wach nur nicht auf mit Zorn und Wut, das macht sie ja verrückt. Geh nicht mit Zorn auf deine Mutter in den Kindergarten. Das dachte ich. Lass deine Wut zurück. Begegne nicht den anderen mit deinem Zorn. Sonst wirst du dich nur schämen. Wenn du so zornig bist, dann wirst du dich nur wieder dafür schämen.

Lass deinen Zorn zurück!

Lass deinen Zorn zuhause.

Ich konnte ja nicht wissen, dass nur mein Zorn mich von der Angst vor ihr befreit. Und dass ich überall damit hingehen kann. Dass ich das Haus der Kindheit erst verlassen kann, in dem ich als Kind schrecklich litt, wenn ich den Zorn auf meine Mutter fühle, an jedem Ort, zu jeder Zeit, völlig egal vor wem. Dass erst mein Zorn mich von dem Zwang befreit, mich selbst und andere ununterbrochen zu beschämen.

Sie wischte mir die Augen aus.

So gehst du mir nicht aus dem Haus.

Sie wusch mir mein Gesicht und meine Augen aus.

Hat er geweint?!

Er hat was von der Seife abbekommen. In seine Augen.

Das ist doch nicht so schlimm. Das hört gleich wieder auf.

Deswegen muss man doch nicht weinen.

Die Mütter waren sich da einig. Wer weint, hat keinen wahren Grund dazu.

Zeig keinen Zorn. Zeig ihn nicht her. Sie werden dich dafür bestrafen. Zeig deinen Zorn nicht her, sonst musst du dich nur wieder schämen. Endlich verstehe ich, warum ich mir den Vorhang vor dem Fenster, vor mein Gesicht gezogen habe, am Boden sitzend, irgendetwas in der Hand. Und Mutter hat gelacht. Ich habe mich vor ihr und meinem Zorn versteckt.

Jetzt bist du wieder in den Dreck getreten?!

Die Frau am See. Mein Traum.

Wie sie mit blinder Wut mich anschreit. Endlich seh ich den Zorn in Mutters Augen. Und den kriegt sie von mir zurück. Das, was ich niemals zeigen durfte, das war mein Zorn. Mein Zorn auf sie. Mit dem ich ihr niemals begegnen sollte, ich mit dem Zorn auf meine Mutter. Die mich verlassen konnte, mit einem Lächeln, einem Schrei, mit dem Gesicht des Teufels und der Fratze eines Monsters. Vor meinem Zorn fürchtete ich mich, wie vor dem Schwarzen Mann.

Pass auf, vor deinem Zorn. So sprach die Angst in mir. Angst machte mir das unaufhörlich vor. Pass auf, auf deinen Zorn. So nämlich hörte sich das an. Was Ehrfurcht schließlich wurde.

Ich musste meine Mutter vor mir retten.

Ich sollte meinen Zorn beherrschen lernen.

Sei jetzt gefälligst still!

Wie ungeheuerlich das für mich war. Wie ich tatsächlich glaubte, ich wär das Ungeheuer und das Böse.

Die Mutter dachte, ich sei verrückt geworden, als ich ihr stolz strahlend berichtete: ” Zweiunddreißig Schläge hat mir der Vater gegeben! ” (Toland, S. 30).

Alice Miller Am Anfang war Erziehung

Welch eine Angst, welch eine Ehrfurcht, welch eine Lüge, ich müsste meine Mutter achten und ehren und somit vor mir schützen. Ich müsste sie vor einem kleinen Kind und meiner Wut und meinem Zorn in Schutz nehmen. Welch eine Überlebensstrategie, des Geistes und des Körpers und der Seele, um zu überleben, bei einem Ungeheuer. Aus Ehrfurcht vor mir selbst und meiner Fähigkeit den Zorn zu unterdrücken. Welch eine ungeheuerliche Leistung und wie fatal für so ein Kind wie mich.

Endlich begreife ich, dass mein Zorn mir gehört und wo er hingehört. Endlich begreife ich, dass nur mein Zorn mich aus dem toten Winkel bringt. Dass nur mein Zorn die Wunde schließt.

Ich muss nicht länger meine Mutter vor mir und dem Vater retten. Indem ich meinen Zorn vor ihr nämlich verschloss, hab ich nicht nur mich selbst, sondern die ganze Wut in mir verraten, auch die auf ihresgleichen und den Vater, und auch auf seinesgleichen.

Und ich verstand gar nicht, dass Zorn nur mein Gefühl beschreibt und nicht, dass ich mich ein für allemal danach auch richten muss. Nach dem Gefühl. Erst mit dem Zorn auf sie, bin ich kein Abbild mehr von ihr und ihren unterdrückten Wünschen und Gefühlen, Hoffnungen. Und dass ich nicht mehr böse werden muss, wenn ich etwas nicht gleich begreife und erledige. Dass ich etwas vergessen und verpassen kann. Weil meine Angst vor meiner Mutter weg ist, wenn ich begreife, dass nicht mein Zorn mich schreckte; sondern nur immer wieder sie.

Der wunde Punkt

Ich konnte gar nicht zornig sein, solange ich mich vor ihr fürchtete, solange ich Ehrfurcht empfand. Mich würgte schließlich, wenn ich schrie. Mit Ehrfurcht machte ich mir selber vor, ich würde gar nicht zornig sein. Solange ich nicht meinen Zorn auf meine Mutter richten konnte, konnte ich auch nicht auf meinen Vater zornig sein. Solang habe ich auch nicht begriffen, dass ich mich deswegen so hin und hergerissen fühlte. Ich wich ja nicht nur meinem Zorn tatsächlich aus, sondern auch dem der Mutter und des Vaters. Solange ich den Zorn der Mutter und des Vaters nicht ertragen konnte, verhinderte ich meinen Zorn. Der mich befreit von Ehrfurcht und Verbundenheit.

Ich muss mir nie mehr vormachen, ich hätte keine Wut, ich hätte keinen Zorn, ich hätte keinen Grund zur Weißglut, zur Verachtung und Verzweiflung.

Du musst nicht traurig sein, du hast doch alles, was du brauchst!

Nie mehr muss ich mir einreden, dass es noch jemand gibt, der mehr weiß über mich und meine Wünsche, Träume. Ich muss niemanden mehr belehren und überzeugen und bekehren.

Endlich verstehe ich, was ich empfand: Nur unterdrückter Zorn ist gut. Nur wenn ich Zorn verhindern würde, wird meine Mutter gut und Vater mich auch wieder mögen. Nur wenn ich Zorn aus unsrer Welt schaffte, dann würde er nicht mehr entstehen, dann müsste ich mich auch nie wieder schämen. Dann wär der Zorn endlich vorbei. Und niemand würde mich mehr auslachen. Das Drama aber war, ich hatte falsch gedacht.