Texte von Hugo Rupp

Der Verräter

 

Dass mein Vater niemals mir half, wenn ich seine Hilfe brauchte, wusste ich tatsächlich nicht. Wenn ich ihn für meine Mutter brauchte, wenn ich sie umstimmen wollte. Dass mein Vater niemals sich für mich einsetzte, nur für mich, gegen ihre Stimme, habe ich tatsächlich nie erlebt. Wenn ich beide da hatte, waren sie für mich nicht da. Beide waren immer nur auf ihrer Seite, ihrer Seite, beiderseits, doch niemals auf meiner. Meine Illusion war immer, dass es doch Momente gab, dass es doch tatsächlich Augenblicke gab und so wirklich auch gegeben hat, wie ein einig sein, miteinander wenigstens für Augenblicke. Doch das ist nicht wahr. Das Kind, nannte mich mein Vater, das Kind und dann später auch Herr Sohn und auch einen Sprössling, wenn er sich bei ihr, meiner Mutter dann beschwerte und dein sauberer Herr Sohn, sagte er dann immer wieder, sauberer Herr Sohn, das war sein Begriff für mich. Dass er mich vor ihr beschämte damit, sich vor ihr hinstellte und sie noch beschuldigte, dass sie mich verzogen hätte. Mich verzogen? Dass sie ihren Kopf dann schüttelte, war nicht zu mir wenden, war nicht mir dann beistehen. Sie bestritt damit, dass sie mich verwöhnt hatte, dass sie mich verzogen hatte. Das bestritt sie mit dem Kopf. Nicht ich habe ihn verzogen. Nicht ich, sagte sie damit. Ich nicht, du vielleicht, ich nicht, das beschwor sie mit dem Kopf, wenn sie ihn dann lächelnd niederschlug und die Wut ein wenig zeigte. Wut bekam ich dann zu spüren, wenn mein Vater ging, dafür dass er sie geschimpft hatte, dass er mit ihr unzufrieden war, dass er sie beschämt hatte, war das für sie ganz alleine meine Schuld, weil ich etwas machte und getan hatte, das den Vater aufregte, was ihn wütend werden hatte lassen.

Er beschämte mich, wenn ich seine Hilfe nötig hatte, dann beschämte er. Er beschämte mein Gefühl, er beschämte mich, nicht so sehr die Mutter, er beschämte mein Empfinden, dass ich ihn damit beschmutzen würde, wenn ich mich ausziehen würde, dass ich ihn damit beschmutzen würde, wenn ich mich mit einem Jungen ausziehe, wenn wir nackt in Hobelspänen liegen und herum nur springen würden, dass es eine Freude für uns war, müsste sich mein Vater für mich schämen. In den Grund und Boden schämen, müsste er sich vor den Leuten, wenn das seine Runde machen würde, wenn sein Sohn sich nackt zeigt und auch sein Geschlecht. Dass er mir dann zeigen werde, wenn das noch einmal passiert, dass er mich kastrieren werde, wenn das nicht sofort aufhört. Sieben Jahre alt, ohne Hosen, ohne Hemden, ohne Socken, Unterhemd, nur die blanke Freude, Nacktheit, Haut und Haut, wie wir das erlebten und uns dabei wirklich freuten. Wie er das erfuhr, von der Mutter meines Freundes, der gleich gegenüber wohnte, dass wir uns nackt ausgezogen hätten, nackt auch uns betrachtet hätten und auch ausgelacht, wie wir uns gefreut hatten, dass das doch nicht möglich wäre, wenn zwei Jungen sich ausziehen, noch dazu allein, das sei nicht erlaubt, und in diesem Alter, noch so jung. Was wir uns nur dabei dachten, fragte meine Mutter, jedenfalls sei damit Schluss. Und auch mit der Freundschaft. Du gehst nicht mehr zu ihm rüber und er kommt nicht mehr zu dir. Damit ist jetzt erstmal Schluss.

Weil man meinem Vater etwas über mich gesagt hatte, etwas über seinen Sohn, wurde Vater wütend, weil er meinte, dass man ihn bezichtigt hätte, schlechter Vater, Mensch zu sein, wenn der Sohn das machen würde, nackt mit einem andern Jungen spielen, deshalb wurde er so wütend. Nicht für mich. Nicht für mich als Kind, gegen mich war er so wütend. Er verteidigte im Grunde diese Frau, die mich als Urheber, Initiator einer Sauerei, für sie eine Art Vergehen, vor ihm nun beschuldigt hatte. Er verteidigte dabei die anderen und verriet mich voll und ganz. Er ließ mich da stehen. Er beschämte mich und bestrafte mich. Er bestand darauf, dass ich meine Freundschaft kündigte mit dem Jungen gegenüber. Niemals wieder wolle er was diesbezüglich hören. Künftig werde er genauer darauf achten, wen ich mir als Freund aussuche. Künftig würde er auch darauf achten.

Die Erlaubnis wen zu mögen, die Erlaubnis wen zu treffen, traf fortan mein Vater. Was und wer für mich in Frage kam und was nicht in Frage kam, was für ihn unmöglich, ausgeschlossen und tabu, das war ausgeschlossen. Freundschaft schließen, ohne Frage, gab es nicht für ihn. Freundschaft ohne Frage schließen, soll es nicht mehr geben für mich. Wer ist das? Und was machen diese Eltern? Woher kommen die? Wer sind seine Eltern? Woher kommen die?

Er verriet im Grunde alles, was Zuneigung ist. Er verriet sich dabei selbst, was ich, als ich Kind war, nicht begriff, was ich auch nicht ahnte, was ich überhaupt niemals begriff, dass er Freundschaft einfach kündigte, dass ich nicht begriff, was kein Kind begreifen kann, dass die Freundschaft plötzlich endet, aus, vorbei! Jetzt, bestimmt mein Vater. Dieser Zeitpunkt, dass er das beschloss, dass er mich damit verriet und auch seine Sicht, was für ihn selbst Freundschaft war, wusste ich sehr lange nicht. Dass er gar nicht weiß, was Zuneigung ist, dass er das zerstört. Dass er Zuneigung zerstören musste, automatisch, gleich, wenn etwas in ihm seine Scham berührt hatte, wenn er sich selbst schämen musste, wie er sagte, für mich, ließ er mich zurück. Schickte er mich weg und verriet mich augenblicklich. Freundschaft weckte automatisch Furcht, dass sie auch sogleich wieder enden könnte.

Und ich konnte sie beenden, ohne eine Ahnung Jahre und Jahrzehnte später, woher ich das Wissen hatte; aufzustehen und zu gehen, kein Wort weiter sagen. Nichts mehr weiter voneinander hören, gleich aufhören und beenden; scheinbar schmerzlos.

Weil ich keine Chance hatte. Keine Wut auf ihn. Er zerschneidet Bande, er zerschneidet, wie und was er will. Er zerschlägt die Tassen. Er zersägt. Er bestimmt die Art und Weise, was sich stets gehört. Dass es mich, wie jedes Kind, das jemand verliert, damals nur zerriss, interessierte niemand.

Schweigen lernte ich und mich immer tiefer bücken, wenn ich mich empfand, wenn ich etwas noch empfand, schaute ich gleich weg, wenn ich etwas mochte, schaute ich gleich weg, wenn ich Zuneigung empfand, drehte ich mich weg. Schande fühlte ich in mir, Schande über mein Empfinden. Schande ist das Wort, das ich immer für mich suchte, was ich für die Eltern war, eine Schande für ihr Leben. Ich war plötzlich eine Schande. Jahre und Jahrzehnte lang lag das Wort in mir, unverändert durch die Scham. Nichts hat sich daran verändert, weil ja nichts nach außen drang. Vater hatte mich verurteilt, meine Freundschaft hingerichtet, Schande war ich für ihn, eine Schande für die anderen. Ich verschlang mich mit der Schande. Nur mit meinen Augen konnte ich noch etwas davon ahnen, was ich einst verloren, was sie mir verraten und genommen hatten. Freundschaft ohne wenn und aber. Wer sich schämt und mit einer Schande lebt, ohne das zu wissen, dreht sich immer nach dem Schatten, sucht nach einem Gegenüber, sucht nach Augen, die ihn festnageln und ganz schrecklich auch fixieren. Sucht nach diesem Augenblick, wie die Augen dieses Menschen schauten, wie in meinem Fall der Vater, als er mich, ein Kind, ebenso damit verschlang, wie er meine Augen schändete, wie er mich verschlang, mit infamen Unterstellungen, die ich nicht einmal verstand. Ich empfand mich selbst als Schande; und das ist vielleicht das schlimmste, was einem Kind passieren kann, denn es kann sich selbst nicht von der Schande wieder lösen, wenn es nicht erfährt, dass sich kein Kind schämen muss, wenn es was begehrt.

Ein Gefühl der Schande sagt, dass du tun kannst, was du willst, niemand wird dir helfen, und vor allem sagst du dir, jeder kann mit dir anstellen, was er gerade will. Was ihm einfällt, was er will, niemand wird dir dabei helfen. Denn du hast gar keinen Freund. Keinen einzigen. Niemand der dir helfen wird, weil du eine Schande bist. Was dir auch geschieht, niemand wird dir helfen. Bist du ganz allein. Mach mir keine Schande, sagt der Vater unentwegt. Mach mir keine Schande. So wie er das mit dir macht, machst du das auch wieder. So wie er dich schändet. So behandelst du dann später andere. Nur nicht seine Schande sein. Ihm nacharten. Nur nicht Vater schaden. Nur nicht deinem Vater schaden, dann ist alles gut. Nur solange du den Vater ehrst, wirst du keine Schande bringen, nur solange du ihm nachgerätst, wirst du ihm zur Ehre reichen. Nur nicht ihn entehren. Nichts von ihm verraten. Niemals Vater bloßstellen, sonst wird deine Schande wieder sichtbar sein. Furchtbar soll das sein. Wieder so allein zu werden, wie ein kleines Kind. Nie mehr so allein, ohne einen Vater.

Deshalb fühlte ich mich vogelfrei, weil mein Vater mich angriff, wie er eben wollte. Deshalb waren alle anderen dann später vogelfrei, weil ich das auch tun und sein konnte, wie mein Vater, vogelfrei. Denn solange ich den Vater ehren musste, war für mich im Grunde jeder angreifbar, ohne Rechte, ein Verräter.

Niemals hätte ich als Kind geahnt, dass mein Vater eifersüchtig war. Dass er auf mich neidisch werden konnte, weil ich wirklich Freundschaft haben und auch geben und verschenken hatte können. Dass die Mutter eifersüchtig war, wusste ich.

Dass mein Vater eifersüchtig war, wird jetzt erstmals für mich sichtbar, und erfahrbar auch sein Neid. Dass er neidisch auf mich war und so eifersüchtig, auch auf diesen andern Jungen, auf die Freundschaft und die Zärtlichkeit, auf das freundlich sein und mögen, ohne eine Frage. Dass man sich auch freuen kann und sich mögen, ohne ein Misstrauen, dass man sich auch mag ohne die Gewalt, dass es zwischen Jungen Spiele geben kann, ohne schinden und sich schlagen, ohne Rangordnung und Konkurrenzgehabe, dass es Freunde geben kann, die sich gleichermaßen achten und beachten.

Die Zerstörung meiner Freundschaft durch den Vater, zeigte mir das Gegenteil. Wie die Mütter sich dabei verhielten, zeigte wieder nur Gewalt. Wieder nur die Eifersucht, wieder nur den Neid, wieder nur Abneigung, da wir ihren Trost doch nötig hatten. Unsre Freundschaft zeigte deutlich, dass wir danach ausgehungert waren. Dass es Freundschaft und Vertrauen geben kann, war für meinen Vater unerträglich. Alles was er selbst an Liebe je verloren hatte, ohne Scham und Schande, unschuldig in ihm gewesen ist, was er alles aufgegeben hatte, war für ihn jetzt plötzlich wieder da, trotzdem ohne Ahnung fühlbar. Unsre Freude weckte seinen Hass, seine unentdeckten Schmerzen, weckten nun Verachtung. Alles in der Kindheit immer unschuldig verloren. Immer nur verlieren müssen. Immer nur daran gewöhnt werden. Immer nur mit Schmerzen lernen, immer nur die Freude unterdrücken müssen und gar keine Chance, dem zu widersprechen. Unschuldig verloren.

Was ich einst verloren hatte, wurde mir jetzt klar. Dass ich Freude, Freundschaft, Liebe, geben hatte können, wurde mir jetzt klar, dass ich diese Fähigkeit, ohne wenn und aber, wie ein jedes Kind besessen hatte, wird mir jetzt erst richtig klar. Was Zuneigung ohne Reue, was Zuneigung ohne Scham, was Zuneigung, ohne Schande zu ertragen müssen, war. Dass Zuneigung unschuldig mit im Kind geboren wird, ohne wenn und aber.