Texte von Hugo Rupp

Der Schleier

 

Die Achtung hat die Welt erfunden, um den leeren Raum zu verbergen, den die Liebe ausfüllen sollte.

Aus: Lew Tolstoi, Anna Karenina

Jetzt ist es vorbei, sagt er und ich stehe vor dem Spiegel im Schlafzimmer. Heute vormittag um zehn ist sie verschieden, sagt er, schaut mich an und lächelt. Etwas ist sofort verschwunden. Für den Vater ist etwas vorbei und für meine Mutter. Und in meinen Augen tanzen Flecken und nichts ist für mich vorbei. Schwindlig wird mir immer wieder. Tanzten Lichter um die leeren Stellen, seltsam graue Punkte vor den Augen, Schlieren wie von Schleiern, Spinnenfäden, winzig kleine Teile fester, dünner Rauch mit Russpartikeln. Meine Oma ist gestorben. Jetzt bin ich allein. Meine Oma ist gestorben. Jetzt bin ich allein. Was ich nicht mal sagte, wusste ich sofort. Deshalb drehte sich mein Kopf unaufhörlich um sich selbst. Meine Oma ist gestorben, die mir meinen Kopf kraulte, die mich in den Schlaf begleitet hat, ohne zu erschrecken. Meine Oma ist gestorben. Die einzige, die mich liebevoll berührt hatte. Wenn die Oma nicht mehr kommt, dann nimmt mich niemand mehr in Schutz. Niemand sagt was gegen meinen Vater. Niemand hält mehr meine Hand. Niemand sagt mehr etwas gegen seine Worte, niemand mehr was gegen ihr Geschrei. Sie machen ihm doch Angst. Wenn sie so was zu ihm sagen, sagte meine Oma. Mutter schrie ja immer. Ihre Schreie, ähnlich Möwen, Schreie ohne Sinn, Verstand. Machen ihm doch Angst damit, wenn sie ihm was davon sagen, sagte sie zu meiner Mutter. Wenn ich ihre Pfauenschreie hörte. Wie der Vater immer wieder schrie, wenn er etwas von mir wollte, und ich nichts verstand. Was mein Vater immer haben wollte, was ich nicht verstand.

Mutter machte sich für die Beerdigung einen Hut mit breiter Krempe. Sie war gelernte Modistin und hatte das Handwerk bei der Oma gelernt. Meine Mutter war Hutmacherin, wie die Oma auch. Mutter trug den neuen Hut, während meine Oma tot blieb und begraben wurde, trug sie ihren neuen Hut, den die Gäste so bewundert hätten, hat sie mir erzählt. Ich war nicht auf der Beerdigung. Mutter sagte was von schönen Kränzen und von einem Pfarrer, der sie auf den Hut hin angesprochen hätte. Auch der Pfarrer sei von ihrem Hut begeistert gewesen. Wie mein Vater dabei lächelte, war in mir verborgen. Wie er zuhörte, was die Mutter mir erzählte, dass es stilvoll war, dass es schön war, die Beerdigung der Oma, dass der Sarg, den mein Vater ausgesucht hatte, auch die Blicke neidvoll angezogen hätte.

Hast du gesehen, wie sie schauten, als sie deinen Sarg da sahen. Hast du ihre Blicke nicht gesehen, hast du nicht gesehen, wie sie neidisch waren noch und noch. Wie sie schmallippig auch wurden? Vater lächelt immer wieder. Als sie meinen Hut anschauten? Wie sie immer wieder tuschelten, so als hätten sie noch nie einen solchen Hut gesehen, sagt sie.

Vater mochte, wenn sie ihre Schönheit vorführte.

Jetzt wird alles schlimmer.

Vater war auf seinen Sarg stolz und auf seinen Anzug.

Hast du gesehen, wie sie schauten, sagt sie.

Hab ich, sagt mein Vater. Hab ich gleich gesehen.

Vater lächelt.

Deine Tante hat den Laden schon geschlossen, sagt sie. Sie verscherbelt alle Hüte. Deine Oma hätte sich geschämt. So etwas zu tun. Wie kann man das nur tun. Da würde ich sie lieber gleich verschenken.

Ihren Schleier habe ich gesehen über all die Jahre. Ihren Schleier im Gesicht. Stand so vor dem Spiegel, ganz in Schwarz. Das war also dieser Morgen, als die Mutter sich für die Beerdigung zurechtmachte. Als sie sich für die Beerdigung selbst präparierte. Wie sie da stand und den Hut aufsetzte. Wie sie ihren Schleier dann festband. Dass ich das am Abend vorher ganz genau beobachtet hatte, wie sie da am Tisch saß und den Hut auf einem Holzkopf machte. Wie sie mit dem Bügeleisen immer wieder dämpfte, bis die Form gelang. Wie sie immer wieder nähte und dabei versank, wie sie selig schien und blickte. Ihren Hut sehe ich nach 45 Jahren endlich wieder, wie sie sich damit verbarg. Wie sich Mutter damit freute, wie sie ihr Gesicht damit verbarg. Wie sie immer wieder mit der Nadel flickte, bis sie endlich Ruhe fand. Wie sie eine Pfauenfeder dann hochhielt.

Soll ich die zu meinem Hut auch tragen? Soll ich, fragt sie. Soll ich, was meinst du?

Damals konnte ich es nicht mehr fassen, was die Mutter mir aufführte. Ihren Schleier trug sie als Verband, für die Blindheit ihrer Seele, die nicht Trauer fühlen konnte, die auch nichts damit verband, wie ich da saß, vor mich hinstarrte, was ich damals nicht verstand, wie sie mich alleine lassen konnten, mit dem Tod der Großmutter.

Dass die Eitelkeit verband, was ich nie verstehen hatte können. Dass die Eitelkeit beide an sich band. Beide gleichermaßen, dass nie was davon verschwand. Dass im Grunde alles daran abprallte, was sich nicht damit verband. Dass nichts ohne Eitelkeit geschehen konnte, dass sie immer da war, als ein Schutzschild, ein Verband gegen alle frühen Wunden und Verletzungen. Dass im Grunde jede Frage von mir an den Wunden meiner Eltern kratzen konnte. Wie die Eitelkeit meine Welt verband. Dass ich ihre Schreie lernte. Wie die Schreie eines Pfaus. Dass ich ihre Eitelkeit anlegte, wie ich das verband, auch im Angesicht des Todes, eines Unfalls später, nur auf meine Kleidung achtend, dass sich nichts mit mir verband, nichts von mir von Leid und Schmerz ergriffen werden konnte. Dass sich nichts mit dem Gefühl verband. Dass ich nichts, was auch passierte, mit Gefühl verband. Dass sich Schleier über meine Augen zogen, als der Rauch verschwand. Wie der Rauch der Toten, der Ermordeten, über Birkenau verschwand. Wie die Blindheit in die Seele kam. Als die Totenglocke für die Oma dumpf ertönte, saß ich in der Schule. Niemand wusste was davon, dass ich furchtbar einsam war, wie ein Kind nur sein kann, ohne einen Zeugen für sich.

Verletzte Eitelkeit, unsichtbare Wunde. Jago ist ein Zeuge dafür. Immer nur verletzte Liebe. Wie der Vater und die Mutter immer nur ein Kind verletzten, wenn sie Liebe nicht erkannten, muss ein solches Kind später Liebe auch verletzen. Fühlt ein solches Kind sich von jeder Nähe immer wieder gleichsam ausgeschlossen und auch angegriffen. Seine Liebe wurde so verletzt, dass es das gelernt hat, Liebe zu verletzen, jede Form von Nähe zu zerstören. Jedes Leid wird weggeschlagen. Jede Äußerung von Liebe ist ein Angriff auf die nie geschlossene Wunde, auf die nie erwiderte Liebe und die nie empfangene in der Not.

Deshalb machte mich die Arroganz, das Getue und Gehabe anderer so furchtbar wütend und verrückt, wenn ich jemandem begegnete und selbstherrlich, die Selbstherrlichkeit selbst empfand, selbst eitel, ohne das zu wissen, die Eitelkeit auch augenblicklich selbst erkannte und angeekelt war und voll Verachtung, dass ich am liebsten aus der Haut gefahren wäre, so furchtbar wütend machte mich die Arroganz und selbstherrliches Gebaren. Noch schlimmer war für mich, wenn ich ein Paar sah, das sich zuliebe voller Abscheu war, herablassend und Abscheu zeigte gegenüber jedem anderen Aussehen und Verhalten. Wie das Verhalten meiner Eltern mir und jedem andern gegenüber, doch wusste und erkannte ich das nicht. Kein Kind kann sich mit seiner Blindheit wehren. Kein Kind kann an die Blindheit seiner Eltern rühren. Ein Kind kann sich erblindet auch nicht wehren. Es kann den blinden Fleck in seinem Auge nicht erkennen, solange es nicht einen Zeugen dafür hat, der diese Ausweglosigkeit im Grunde widerspiegelt, indem er vor der Eitelkeit selbst kapituliert, indem er sich darin erkennt und nicht das Kind dabei verlässt. Kein Kind kann sich mit seiner Liebe schmücken. Gerade deshalb wird es ja verfolgt. Kein Kind kann sich mit seiner Liebe retten; vor seinem Untergang und der Verfolgung seiner Liebe. Ein Kind kann seine Blendung nicht abwehren.

Die blinden Flecken nahmen zu. Sie wurden immer mehr. Und ich erkannte mich dabei nicht mehr. Ich konnte mich selbst nicht mehr sehen. Denn jedes Gegenüber trug schließlich meine Flecken. Dass das die eignen Augen ausmachten, das konnte ich nicht wissen.

Ich lachte schließlich meine Trauer aus. Ich nahm mich nicht mehr ernst. Ich lachte meine Not selbst aus, mit dem Verhalten meiner Eltern. Und ich verschwand mit meinem Unglück und der Verzweiflung eines Kindes, hinter dem Schleier der Verachtung, aus Not und dem Bedürfnis eines Kindes nach der Liebe.

Ich wachte mitten in der Nacht nach dem Begräbnis meiner Oma auf. Ich hielt die Augen fest geschlossen, mir war, als wäre jemand hier im Raum und würde näherkommen. Ich rührte mich kein bisschen und atmete ganz flach. Ich fürchtete mich schrecklich davor, von diesem Mann berührt zu werden. Ich hatte Angst. Der schwarze Mann und meine Angst vor ihm, war plötzlich wieder da. Die Oma war mein guter Geist gewesen, mein Schutzgeist für den Schlaf. Mit ihrem Tod und ihrem nie mehr wieder kommen, war dieser Schutz vorbei. Der schwarze Mann war wieder da, er kam aus meinen Träumen wieder. Er kam in meinen Raum. Ich wusste nicht als Kind, dass es den schwarzen Mann nie wirklich gab.

Ein Kind kann nicht ermessen, was seine Angst betrifft und wirklich existiert. Es kann die Phantasie nicht wirklich von der Wirklichkeit auch unterscheiden und dann tatsächlich sich auch davon trennen. Ich konnte meine Angst nicht von der Angst der Mutter trennen.

Die Dame mit dem Schleier. Die Frau in Schwarz. Ich konnte mich von meiner Phantasie nicht trennen, von meiner ganz realen Angst vor einem schwarzen Mann, solange niemand meine Angst, die eines Kindes vor der Mutter wirklich ernst genommen hatte.

Die Eitelkeit bekämpft, missachtet und verachtet jede Regung, die sich nicht beherrschen lässt.

Ich war so traurig und so wütend wie noch nie und wusste nichts davon. Weil niemand was daheim von meiner Wut und Trauer wissen wollte. Die Eltern lachten über Omas Tod. Sie lachten über mein Verhalten. Ich schaute immer wieder weg, wenn sie was über die Beerdigung erzählten. Als könnte ich die Eltern nicht mehr hören und ihren Blick auf mich nicht länger mehr ertragen.

Die Eitelkeit verachtet jene Wut, die einen Schmerz an sich erkennt, der nicht zu ändern ist. Der mit der Wut vergeht, doch immer wiederkehrt, im Angesicht des Todes und der Vergänglichkeit.

Ich war nicht auf die Oma wütend. Ich war auf jeden wütend, der ihren Tod nicht anerkennen konnte und den Verlust für mich. Ich war auf ihren Tod selbst wütend, auf diese unabänderliche Tatsache. Ich war auf ihren Tod nicht vorbereitet. Ich hatte mich doch immer nur mit Tod und Einsamkeit beherrschen lassen; beherrschen lernen müssen.