Texte von Hugo Rupp

Der Märtyrer

 

Die Zensur ist die schändlichere von zwei Schwestern. Die ältere heißt Inquisition. Die Zensur ist das lebendige Eingeständnis der Herrschenden, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy Freiheit in Krähwinkel

Sie redet nicht mit mir. Sie schaut mich an, ich rede, und sie schaut mich an, als würde sie von dem, was ich ihr sage, nichts verstehen. Sie schweigt mich an. Sie sagt jetzt nichts.

Sie schreit: Ich will jetzt nichts mehr hören!

Sie will nichts von mir hören.

Der Vater schreit: Ist jetzt endlich Schluss!

Er will nichts von mir hören.

Das Schweigen ist nicht immer schon in mir gewesen. Mein Schweigen kam von außerhalb. Im Kind ist kein Verschweigen angelegt. Dass Schweigen Gold sein soll. Dass Gold in einem Kind schon sei, das ist nicht wahr.

Warum soll ein Kind schweigen?!

Warum soll ein Kind schweigen können!?

Sei still, schimpft sie.

Halt deinen Mund, schreit er.

Sie tun etwas, was ich nicht kann. Ich muss das für sie lernen, sonst schweigen sie und schimpfen noch viel mehr mit mir. Sie schimpfen und sie schreien und sie schweigen. Sie fluchen und sie wettern gegen alles, jeden. Verfluchen und verdonnern Schmerz und sich aufregen; wütend sein und wütend werden.

Wer kann sich denn da aufregen! Da regt man sich nicht auf. Deswegen!?

Sei still!

Sie hatten doch das letzte Wort. Mit ihrer Doppelung, mit ihrer Koppelung, mit ihrem Fluch. Die Schmerzen und das Schweigen. Beides verschweigen. Das Schweigen noch verschweigen. Ihr Schweigen musste ich verschweigen. So werden Täter unsichtbar.

Schweigen als unsichtbarer Fluch, als unsichtbares Erbe. Als Kind gequält mit Schweigen. Ich wartete und wusste nicht warum. Ich weinte und ich wusste nicht warum. Ich wusste nicht, warum ich das nicht wissen konnte. Ich wartete auf Wissen und die Erlösung für mein schweigen müssen.

Dass ich im Kern tatsächlich niemals eine Frage an meine Eltern stellen konnte, erschreckt mich sehr. Denn nichts, was ich als Kind und lange später äußerte, war eine Äußerung von mir.

Ich redete, als Kind, im Grunde immer mit mir selbst. Und später als die Eltern. Ich redete im Grunde immer nur mit mir als Kind. Ich redete nur immer auf mich ein. Es gab zwar andre Menschen, doch waren das doch immer nur Statisten meines Ichs, und Doppelgänger, Ähnliche, nur Widergänger meiner selbst, mir immer nur verwandte Seelen. So habe ich mich selbst behandelt, wie alle anderen, wie meine Eltern mich behandelt haben. Das Ungeheuer war tatsächlich ich, begabter Imitator und Tyrann. Doch immer meine Eltern. Ihr Schweigen war in mir. Es war in mir, Verschweigen meiner Seele, als Schweigen über alles, was mir je zustieß und was mich schrecklich wütend hätte machen können. Mein Schweigen war in mir, als mein Verschweigen meiner Angst vor meinen Eltern.

Je lauter ich von Grauen redete, je lauter ich Entsetzen mir vorstellte, je lauter ich mit meinen Worten andere mahnte und ermahnte, je intensiver ich vermeintlich Anteil nahm, je mehr verschwieg ich selbst für mich. Ich predigte, doch dabei schwieg mein Herz. Ich redete, doch meine Seele schwieg, ich tat das für die Eltern.

Das Schweigen lernen müssen, ist der schlimmste Schmerz. Denn er bedeutet sich verstecken müssen. Lebendig zu begraben. Im eignen Körper eingesperrt, lebendig, innerlich zu brennen. Beraubt der Möglichkeit, sich selbst zu äußern und zu leben. Das schweigen und verschweigen lernen müssen, bedeutet, seinen Schmerz, der Wahrheit gegenüber, zu vermeiden. Die Wahrheit kann nicht mehr entstehen. Ich konnte plötzlich nicht mehr atmen, weil meine Worte mir im Halse stecken blieben. Die ungesagten Worte, das was mein Schweigen ausmachte, die haben mich verhindert, die haben meinen Atem abgewürgt. Das über mich, die Kindheit schweigen, bedeutet über meine Eltern schweigen müssen. Mein Schweigen steckte tief in meinem Hals. Wie hohes Fieber.

Sie kommt nicht, wenn ich nach ihr schreie, wenn ich nur rufe, immer wieder rufe, wenn ich nach meiner Mutter schrie, voll Wut, weil ich sie nötig hatte. Sie kommt nur, wenn ich schweige. Wie soll ein Kind das nur verstehen, wenn seine Mutter es nicht hören will in seiner Not, wenn seine Wut, in seiner Einsamkeit entstanden, wenn eine Mutter das niemals versteht, dass ein Kind seine Mutter nötig hat, weshalb es wütend wird. Wie soll ein Kind das nur verstehen, dass seine Mutter nur dann kommt, wenn es nicht schreit, wenn es nur weiter schweigt und seinen Zorn nur unterdrückt und seine Weißglut sich in seinen Rachen steckt und seinen Hals mit seiner Angst und seinem Hass verstopft, damit die Mutter wenigstens noch nach ihm schaut. Die Mutter soll nicht ewig schweigen.

Wie soll ein Kind das nur verstehen, dass seine Mutter nur dann kommt, wenn es aufhört, zu sprechen, erst wieder kommt, wenn es aufhört sich mitzuteilen? Ich musste meine Wut verschweigen.

Ich musste aufhören zu weinen, wenn sie sich tot stellte, so wie die Mutter mir das immer wieder vormachte und exerzierte. Wie sollte ich verstehen, dass meine Mutter mich tot mehr mag, als so lebendig. Ich konnte das niemals verstehen, dass sie nicht kam, wenn ich sie nötig hatte… Sie kommt nicht, wenn ich reden will, wenn ich mich unterhalten will, dann kommt sie nicht, sie kommt, wenn ich nichts will, wenn ich tief schlafe, wenn ich ruhig bin, dann kommt sie erst… Ich muss mich tot stellen, sonst kommt sie nicht.

Ein Kind wie ich, das über Schmerzen so gezwungen wird, sich zu verstellen und zu unterdrücken, verlangt dann später als Erwachsener, das gleiche immer wieder, nur so zu sein, wie tot. Ich unterdrückte jede Äußerung in mir und jedem anderen, von Wut und jeden Drang nach Selbstbestimmung, Autonomie und jedes Suchen auch nach Liebe. Ich unterstützte niemals Liebe. Das hatte ich gelernt. Ich durfte mich nicht einmal freuen, nicht einmal unter Tränen freuen über mich und meine Mutter, wenn sie dann wirklich kam. Ich durfte mich dann nicht erlösend fühlen. Ich durfte mich mit meinem Fühlen nicht erlösen. Ich durfte mich nicht einmal auf die Mutter freuen. Ich durfte mich nicht einmal freuen, nachdem sie doch gekommen war. Kein Zeichen der Erlösung, sie wollte das nicht sehen. Ich musste mich auch dann noch tot stellen und satt, zufrieden spielen. Ich schaute schließlich satt, wenn ich noch Hunger hatte. Ich schaute brav und demütig, ich war ein Hungerkünstler. Ich schaute und ich rief nicht mehr nach ihr, ich hatte aufgehört mit Zorn und Wut und Hass in meiner Stimme. Ich war stattdessen demütig und unterwürfig, klein, ich war ein totes Kind, weil sie mich abgetötet hatte. Ich zeigte Demut, Unterwürfigkeit, die Tugend eines Märtyrers, der nichts zeigt, außer der Bereitschaft zu stummem Leiden und Erdulden. Verstummt, das Schweigen meiner Seele darstellend, war ich als Kind der Mutter und dem Vater lieb. Tot war ich meinen Eltern lieber; als mit Gefühl lebendig.

Ich wurde mir ein stummer Zeuge.

Ich hatte nicht die Fähigkeit mich selbst zu trösten und konnte mir das selbst auch nicht erklären, warum ich mich, egal was auch geschah, alleine ließ und mich beschimpfte und beschuldigte. Wenn ich in Not war oder elend, ich merkte nie, woher das kam, mich selbst in Not verlassen, darüber auch hinwegsehen, eventuell darüber lachen, zu sagen, nicht so schlimm, als wäre nichts gewesen. Ich wusste nie, warum ich für mich trostlos war, warum ich mich nicht trösten konnte.

Ich hatte keinen Grund. Es gab in mir dafür gar keinen Spiegel. Ich konnte mich verlassen. Das konnte ich. Nicht bei mir sein, das konnte ich. Ich konnte mich ermahnen und mir gut zureden, doch endlich still zu sein, doch endlich jetzt zu schweigen.

Mich tot stellen, das durfte ich, das hatte ich gelernt, das konnte ich. Ich konnte mich nicht trösten, weil ich niemals getröstet worden war.

Was willst du denn!?

Was schreist du denn schon wieder!?

Ich konnte darauf nichts erwidern. Ich wusste nicht als Kind, was mir so schmerzlich fehlte. Ich hatte dafür kein Bewusstsein. Mir fehlte der Vergleich, ein Beispiel für die Liebe.