Texte von Hugo Rupp

Der Lebensretter

 

Man zeigt mit dem Finger nicht auf Menschen, sagt er. Man zielt auch nicht auf Menschen, sagt er. In seiner Stimme schwingt jetzt Ärger.

Man zielt nicht einfach auf einen Menschen. Das tut man nicht, sagt er.

Mein Vater, mein Augenzeuge. Die Täter sind Augenzeugen. Sie sind als Mörder die letzten Augenzeugen.

Aber das ist doch nur Spaß, sagt sie.

Mutter meine Augenzeugin. Sie benennt den Spaß. Was einer ist.

Aber das ist doch nur ein Spiel, sagt sie. Da brauchst du dich doch nicht zu schrecken!

Sie sieht alles von außen, wie die Schmerzen in mich kommen, wie es passiert. Wenn Vater etwas tut, sieht sie es auch. Sie sieht alles. Sie ist mein Augenzeuge. Sie sieht es und dann sagt sie, dass alles nicht so schlimm ist. Sie weiß alles, was geschehen ist. Ich schaue sie an und weiß, dass sie alles gesehen hat, aber nichts von dem, was ich gesehen habe, hat sie gesehen. Sie sieht anders. Sie ist mein Augenzeuge, aber nichts was ich sehe, ist das, was sie sieht. Wenn es Mutter nicht gäbe, gäbe es keinen Augenzeugen und ich wäre vollkommen allein mit meinen Eindrücken. Oft sagt sie, wenn ich etwas erzähle, dass ich mir das nur einbilden würde, was ich mir alles einbilden würde, oder ausdenken. Ich kann mir nichts ausdenken, was es nicht gibt, denke ich.

Geh, du träumst doch, sagt sie.

Ich träume von den Bäumen fallen.

Ich erkenne, dass ich mich nicht retten kann. Ich träume, dass ich falle. Ich träume nicht die Phantasie. Mein Traum ist auch kein Spiel. Ich träume, nur hier kann ich mir zeigen, hier darf ich fühlen. Ich kann mich selbst nicht retten, und keiner rettet mich.

Geh das bildest du dir doch nur ein, sagt sie. Du träumst doch am helllichten Tag.

Er mag keine Träume. Vater hasst Träume. Er hasst alles, was nicht beherrschbar ist, und was er nicht anschreien kann. Deshalb stelle ich mir vor, dass Vater mich aufweckt und mich anschreit, mich so weckt, damit ich aufhöre zu träumen. Er will, dass ich nicht träume, dass ich nicht die Wahrheit kenne. Vater will, dass er die Wahrheit sagt, nur er.

Jetzt spielt er wieder mit seinen Figuren, sagt er und lacht.

Er weiß nicht, dass ich nicht spiele. Die Erwachsenen sagen Spiel dazu. Sie nennen es immer Spielen, wenn ich etwas mache. Zu allem sagen sie Spiel. Wenn ich die Figuren halte und sie sprechen, sagen sie nichts zum Spaß. Das ist kein Spiel. Ich weiß nicht, warum die Erwachsenen Spielen dazu sagen. Wenn ich nur in mir rede und rede und mir vorstelle zu gehen, weit weg, ist das kein Spiel. Ich spiele nie. Ich weiß nicht, was das ist. Der schwarze Hund, der mir gehört, sitzt immer gleich in einer Stellung und schaut in eine Richtung. Er schaut mich immer gleichermaßen an und weg. Er ändert nie seinen Blick. Ich drehe seinen Kopf nicht hin und her. Ich spiele nicht mit ihm. Mit meinem Stoffhund spielt niemand. Niemand berührt ihn. Er ist schön gekämmt, sauber, er bellt nicht, er tut nichts. Das meine ich, dass ich nicht spiele, solange der Hund nicht mit mir spielt. Ich spiele nie mit ihm. Er spielt doch auch nicht mit mir. Ich bin einsam, sage ich ihm nicht. Er muss das von sich aus wissen, solange er nicht erkennt, dass ich einsam bin, rede ich mit ihm kein Wort. Der Hund muss zu mir kommen, solange er das nicht tut, kann er da auf dem Brett hocken bleiben oder von mir aus, solange der Pfeffer wächst, oder wo der Pfeffer wächst.

Sitzt er wieder in seinem Zimmer und spielt, sagt er.

Er spielt nicht, denke ich, sage es aber nicht. Dann geht Vater. Wenn ich spielen könnte, ich kann es aber nicht. Ich weiß nicht, wie man spielt. Ich kenne kein Spiel, bei dem es nicht um bestimmen geht, wer das macht und das macht. Einmal hab ich einen Jungen hinausgeworfen, weil der mir andauernd Figuren geklaut hat. Jedes mal hat eine gefehlt. Beim fünften Mal hab ich ihn angeschrieen und nicht mehr sehen wollen. Das Bestimmen ist das Schlimmste, wie etwas sein muss. Ich hasse mich dafür, dass ich das auch tue und deshalb höre ich überhaupt damit auf, was die Erwachsenen Spiel nennen, weil ich selbst mich bestimmen muss, was ich tue, und nicht einfach etwas tun kann. Das muss so und so, nicht so und so sein, das will ich nie mehr hören, deshalb höre ich auch auf. Der Hund hat es gut, ihm ist das egal. Er ist mir aber auch egal.

Die Träume sind schrecklich, deshalb kann ich keinen erzählen, weil Vater mich dafür auslachen und dann beschimpfen würde, dass ich mich wegen eines Traums erschrecke. Ist doch nur ein Traum! Er meint, dass Träume keinen Sinn haben, weil sie niemand sehen kann und deshalb ungefährlich sind. Keiner sagt mir, wie sie in mich kommen, ohne dass ich etwas tue. Sie verfolgen mich wie Vater, und die Mutter lacht dazu. Träume sind wie heiße Eisen, die mich auch verbrennen, und doch sieht man nichts davon. Wenn ich mir den Finger blutig schneide und dann nichts am andern Tag dann sehe, weiß ich nicht, ob ich, wer denn überhaupt meinen Finger abgeschnitten hat. Wenn er doch noch dran ist, zweifle ich am Schmerz, aber habe eine Idee, wie mir das Gerede von den Fingerkuppenabschneiden und dem Umbringen und dem Abschlachten und dem Töten und Erwürgen und dem ganzen Zeug das Vater sagt und Mutter lacht dazu und Kiefer mahlt, mich aufregt, in mir tobt. Ich bin froh, dass der Finger hält, dass ich nichts davon getragen habe. Ich bin froh, dass ich heil aus den Träumen herauskomme. Das ist aber auch kein Spiel. Träumen ist nicht spielen. Wenn im Traum ein Kind weint und von hinten zu sehen ist, weiß ich, dass ich das bin. Wenn ich ein Kind sehe, das vor mir davon geht, allein in der Nacht, eine unbeleuchtete Straße entlang, im Sommer. Ich weiß, dass ich das bin, weil ich seine Augen niemals sehe. Ich sehe nur den Rücken, weil das Kind vor mir geht. Ich bin der einzige Augenzeuge, der einzige, der diesem Kind folgen kann, der einzige, der dieses Kind sehen kann und es mit seinem Blick bezeugt. Dieser Blick ist der einzige Schutz. In Wirklichkeit und nicht im Traum. Ich wusste doch, dass das kein Spiel ist. Weil ich einmal von einer Mauer gefallen bin, und die Freunde die dabei waren, sind sofort davon gerannt, und wie ich auf dem Boden liege und mir alles weh tut und ich nicht weinen wollte, weil ich das so gelernt hatte, und weil ich doch weinen wollte aus Hass, dass die alle wieder abgehauen sind, voller Wut und doch tut mir mein Becken weh und ich beiße auf die Zähne, kommt von hinten ein Mann, den ich vom Sehen kenne, den Vater nicht mag, und der beugt sich zu mir hinunter. Er schaut mich an und fragt mich mit freundlichen Augen, ob ich mir weh getan hätte. Ich schüttle den Kopf. Aber er sieht, dass mir alles weh tut. Aber er sagt das nicht. Er schaut mich an, und ich schüttle den Kopf und eine Träne kommt und ich will etwas sagen, aber ich kann nichts sagen, und der Mann sagt auch nichts weiter, nur ob er mir aufhelfen darf.

Kann ich dir aufhelfen, sagt er.

Ich gebe ihm die Hand und er zieht mich hoch. Da stehe ich und schaue auf meiner Hose nach Flecken und putze sie mit der Hand und am Hintern auch. Er steht da und schaut mir zu.

Ich weiß nicht, ob ich gehen soll oder noch etwas stehen bleiben. Schließlich sage ich danke und gehe. Ich gehe geradeaus an der Mauer entlang. Ich drehe mich nicht um.

Der Schmerz, keinen Zeugen zu haben für seinen Schmerz und seine Wut, macht ein Kind auf die Dauer verrückt. Nicht nur verzweifelt, die Ignoranz gegenüber jedem Schmerz und jeder Wut, das Zürnen, wütend, zornig sein, und wegschauen, wegreden und weg wischen, aus den Augen reiben und dem Mundwinkel, und was auch immer mit dem Schmerz in den Augen der Eltern geschehen und passieren soll, damit der Schmerz, die Wut so schnell wie möglich verschwindet, am besten für sie unsichtbar bleibt, macht das Kind an sich verrückt. Weil es etwas gibt, das keiner sehen und spüren will, das alle nur verleugnen. Es macht ein Kind verrückt, dass es etwas gibt, das alle anderen verleugnen.

Der Schmerz ist die Wut des Körpers. Die Wut ist der Schmerz der Seele. Wer den Schmerz unterdrückt, unterdrückt die Wut. Die Wut ist untrennbar an den Schmerz gebunden. Es gibt Schmerz ohne Wut und Wut ohne Schmerz nicht. Wer Seele und Körper trennt, trennt Wut und Schmerz und verleugnet Wut und Schmerz gleichermaßen, auch als einziges Gegenmittel des Kindes gegen sein Unheil.

Wie ich fürchten musste, dass immer alles zerstört wird.

Hab ich es dir nicht gleich gesagt, sagt sie.

Vater hat keine Zeit, er nimmt mich nicht mit. Er hat es versprochen, dass er mich mitnimmt. Heute ist schließlich Sonntag. Sonntag um 10 Uhr darf ich mit ihm spazieren gehen, an seiner Hand. Bevor ich wütend werde, sagt sie: Ich hab dir immer schon gesagt, freu dich nicht zu früh.

Es gibt nur mehr Unheil und Scheitern. Freude, die zerstört werden muss, notgedrungen, weil es so ist. Weil das so ist, wie sie es sagt. Dass alles so ist, wie sie es sagt, ist die schlimmstmögliche Vorstellung, dass Mutters Welt tatsächlich ist. Dass alles sinnlos ist und das Unheil nur darauf wartet zu geschehen.

Was ist Unheil?

Dass etwas kaputt geht, ohne dass ich etwas dagegen tun kann.

Wie tun?

Es verhindern.

Du erwartest das Unheil?

Ja. Mutter hat es prophezeit. Sie hat es immer im voraus gesehen. Sie hat gesagt, warte, freu dich nicht zu früh. Warte, hat sie gesagt. Ich konnte es nicht erwarten.

Du konntest es wieder nicht erwarten, sagt sie. Siehst du, sagt sie, hast du dich wieder zu früh gefreut.

Mutter hatte Recht. Sie hat im Unglück immer recht. Mit dem Unglück kennt sie sich wirklich aus. Dass es eintrifft und auch kommt. Sie lächelt dann und schaut mich an, als würde sie sagen, na habe ich nicht recht gehabt. Das sagt sie aber nicht. Sie überlässt die Folgerung immer mir. Mutter hat recht, sie hat recht behalten. Sie hat das Unheil prophezeit und jetzt ist es eingetroffen.

Das ist das normalste von der Welt, sagt sie. Da kann man nichts machen.

Aber, sage ich.

Reg dich nicht auf. Das nützt doch nichts, sagt sie. Mach dich doch nicht verrückt. Das nützt doch alles nichts. Da kann man halt nichts machen. Vielleicht beim nächsten Mal.

Es gibt für das Kind irgendwann kein nächstes Mal mehr. Es hasst das nächste Mal, weil es das nächste Scheitern bedeuten kann, weil es das nächste Unglück bedeuten kann, weil es immer nur Schmerz und nichts anderes ist. Weil der Schmerz nur Schmerz und nichts anderes ist. Wenn ich wünsche, dass ich im Grunde, denkt das Kind, den Schmerz mir selbst zufüge, indem ich mir etwas wünsche, tue ich mir doch nur immer wieder selbst weh, immer wieder selbst weh und nur weil ich etwas haben mag. Das Wünschen ist nichts anderes, als dass ich mir doch immer wieder selbst weh tue.

Hab ich dir das nicht gleich gesagt, sagt sie.

Aber ich wollte doch…, sage ich.

Ja, du siehst doch was dabei heraus kommt, sagt sie und lächelt.

Sie bestätigt mich. Sie ist mein Zeuge. Sie ist mein Augenzeuge des Unheils. Sie bestätigt, dass es falsch ist, sich etwas zu wünschen, sich in etwas zu verlieben, sich in einen Menschen zu verlieben, weil alles doch scheitert, gerade wie sie es vorher gesagt hat. Mutter ist eine Prophetin. Sie sagt das Unglück in jedem Vorhaben voraus. Am besten ist, nichts zu wünschen und auch nichts zu tun. Es gibt keine Gegenwehr, keine Möglichkeit gegen das Scheitern und das Unglück und das Unheil zu kämpfen. Es gibt nur Mutters Art, das zu begreifen, dass ich mich nicht zu früh freuen soll, dass ich mich eigentlich überhaupt nicht mehr freuen sollte, das wäre das allerbeste. Jedes Freuen auf etwas Neues, auf Veränderung bringt nur wieder nur Enttäuschung und Ärger.

Da brauchst du dich jetzt nicht zu ärgern. Ich habe es dir gleich von Anfang an gesagt, sagt sie.

Sie sagt auch schon voraus, dass das und das nichts wird. Sie ist eine Seherin. Sie weiß was geschieht, wenn man sich zuviel im Voraus freut, oder wenn man wie sie sagt, zuviel will.

Ich gehe einen Hügel hinunter und sie sagt, ich solle nicht so rennen, und ich laufe, und dann falle ich hin. Es ist wirklich so, dass Mutter Sachen voraussehen kann. Sie lächelt dann immer wissend, zur Bestätigung. Dass ich ihr in die Augen schaue und dann nicke. Sie sagt nichts, aber weiß, dass ich in ihren Augen ihre Sätze, die sie mir immer und immer wieder sagt, bestätige. Mutter ist mein Unglückszeuge. Sie erkennt jedes Unglück. Sie freut sich sogar darauf. Sie ist mein Augenzeuge, dass es Unglück gibt, und dass man das Unglück nur vermeiden kann, indem man sich duckt und blind stellt und schaut, als wäre nichts gewesen. Das ist die einzige Art, die ich von ihr gelernt habe. Schauen und leise atmen. Wenn das Unglück eintritt, nichts als leise sein und nichts sagen. Stumm ergriffen sein und dann wieder reden, wie zuvor. Nichts an sich erkennen. Nichts an einen anderen dann sagen. Nichts, nichts überhaupt mehr dazu sagen. Wenn das Unglück ist, braucht man nichts zu sagen.

Mich schwindelt dann immer, und ich würde gerne etwas sagen, aber das nützt ja nichts. Es ist wie beim Stehlen fast erwischt zu werden, das ist so ein Gefühl, wenn man etwas stiehlt und an der Kasse steht, und die Verkäuferin schaut einen an, und im nächsten Moment denkst du, jetzt sieht sie, dass du Kaugummi gestohlen hast. Und dann lächelt sie und du bist durch. Das ist kein gutes Gefühl, das Unglück zu besiegen. Mit Stehlen kannst du das Unglück besiegen. Du kannst etwas tun, was eigentlich von Mutter prophezeit wird, dass du erwischt wirst, aber du versuchst es trotzdem. Einmal, dann nicht mehr. Es ist dir zuviel Herzklopfen. Aber du hast das Unheil besiegt.

Da kann man jetzt auch nichts machen, sagt sie. Das ist nun mal passiert.

Die Mutter von Freunden, denen ich meine Lieblingscomics geliehen habe, hat die Hefte gefunden und alle weggeschmissen, weil ihre Kinder keine Comics lesen dürfen. Ich bin zu den Aschentonnen hin, aber die waren leer. Ich bin öfters hin und habe den Deckel auf und zu gemacht. Ich stand da und wusste nicht, was ich tun sollte.

Da nützt ja alles nichts, die sind nun einmal weg, sagt sie. Das nächste Mal musst du halt besser aufpassen. Ich kann dir da nicht helfen. Dein Vater wird sich da auch nicht einmischen, sagt sie.

Mutter ist mein Augenzeuge. Sie weiß alle meine Kinderkrankheiten. Sie kennt Vater, was er tut, wie er ist. Sie ist meine Zeugin. Bei allem was passiert, was mir geschieht oder zustößt, bei jedem Weh, hat sie eine Bemerkung, die mir gilt, dass ich ihr zuhöre, wie sie spricht, dass nichts etwas dagegen nützt, dass alles so ist, wie es halt ist.

Da nützt jetzt alles schreien und weinen nichts, sagt sie.

Sie ist meine Augenzeugin, sie lehrt mich nichts zu äußern. Sie lehrt mich still zu sein und mich zu stillen, mich selbst in meinem Unglück selbst zu stillen. Dass ich nur still sein soll, das wusste ich als Kind nie. Ich wusste nicht, dass ich nur still sein sollte, mich nicht rühren. Ich wusste nur, dass jede Aufregung, wenn mir etwas weh tat, oder mir geschah, was mir weh getan hatte, unvermeidlich war, im Nachhinein, auch folgerichtig, dass ich nun Schmerzen hatte.

Ich habe es dir doch gleich gesagt, schling nicht so runter, jetzt hast du dir wieder so große Brocken in den Mund gesteckt, dass du beinahe daran erstickt wärst, sagt sie und lächelt.

Es gab für mich, mit ihr als Kind, vor dem Unglück kein Entrinnen, denn überall wo ich mit ihr war, wartete das Unglück schon auf mich. Denn irgendwas geschah doch immer, für das sie mich mit ihrem Satz beschwor, dass sie sich das doch gleich gedacht hätte, dass dies und das und jenes nun geschehen würde.

Hab ich es nicht gleich gesagt!, sagt sie.

Sie bekundet mein Unglück und Unheil, und ich kann nichts dagegen tun. Das Unheil kommt. Ich warte. Das Leben kann nur das Warten auf das Unheil sein. Das Leben kann nur das Warten auf den Tod sein.

Dann ist alles vorbei, sagt sie.

Solange du auf das hörst, was deine Mutter dir sagt, kann dir nichts passieren, sagt Vater.

Vater bestätigt, dass Mutter das Unglück beherrscht, dass sie weiß, wie man nichts tut, damit das Unglück mehr wird, dass man am besten nichts tut als Warten und still sein. Ich bin still. Ich bleibe still. Ich trete auch nicht laut auf, wenn ich in der Wohnung gehe, nur draußen gehe ich etwas fester, aber letztendlich gehe ich leicht, so dass ich weniger schnell fallen kann. Nicht hinfallen, ich weiß schon, wie das geht, immer nur aufpassen, dass ich nicht hinfalle und mir die Hose schmutzig mache, denn das Unglück wartet auf mich, egal an welcher Ecke. Wenn Vater von hinten kommt und mich in den Hals zwickt, weiß ich nicht, ob das ein Unglück ist. Es ist Vater. Dass ich dem nichts entgegensetzen kann, ist mein Schicksal. Es gibt keine Möglichkeit außer nicht mehr etwas spüren. Nichts mehr spüren ist das beste, weil dann nichts mehr einem weh tut. So weh wie früher, tut es eh schon lange nicht mehr. Weil ich mir auch keine Gedanken mache über das wehtun, weil es Ärzte gibt, die das beseitigen. Jeder Arzt beseitigt Schmerzen, und seitdem ich Mutter im Krankenhaus gesehen habe, wie sie im Bett lag und lächelte, selig lächelte, wirklich selig, weiß ich, dass alles nichts mit Gefühlen zu tun hat. Dass es vollkommen egal ist, wie ich mich fühle, weil nie irgendetwas zusammenpasst, weil egal, wie ich mich fühle, die anderen meistens das genaue Gegenteil von dem behaupten, was gerade in mir ist, wie ich das sehe.

Ich gehe den Hügel wieder hinunter, jetzt im Schnee und lasse mich fallen, mit dem Gesicht voraus. Es tut nicht etwa weh. Der Schnee ist einen Meter hoch und ich fühle den Schnee im Gesicht und greife mit den Fingern in den Schnee. In den Augen meiner Eltern ist dies eine törichte und sinnlose Geste. Beim Spielen dreckig machen. Das ist aber kein Spiel. Wie sich freuen, kein Spiel ist. Wie Leben auch kein Spiel ist. Weil Unglück kein Spiel ist und Unheil auch nicht.

Es ist mir nie als Kind aufgefallen, was an den Schmerzen fehlt, was abgeht. Mein Körper wusste es, ich wusste es nicht. Mein Körper wollte immer hin und es zeigen. Er wollte immer etwas zeigen, von dem ich nichts wissen durfte, weil sie mich beim ersten Anzeichen des Schmerzenslautes bereits ablenkte, sie und er dann auch. Die Wut ist nie entwichen. Sie musste in mir bleiben alle Kinderjahre, meine schöne, gute und gesunde Wut, über meine Eltern und die Schmerzen, musste sich verstecken, durfte nie ans Licht, durfte nicht einmal in meine eignen Augen dringen, wo sie Mutter hätte sehen können, wo sie auch sah, eben jene Vorboten, eben jene Vorfreude, meines Körpers, der sich heilen wollte, nur mit Wut der Welt, die mir feindlich war, endlich zu begegnen. Sie als Zeuge meines Schmerzes, verhinderte die Wut, indem sie meinen Schmerz ablenkte, mich von meinem Schmerz weglenkte, mich das Kind verhinderte, wenn ich nur mit meinen Mitteln, eben meinem Unglück nun begegnen wollte, weil mein Körper meines Wissens nach, diesem was ihn schmerzte, doch begegnen wollte. Sie verhinderte die Wut und mit ihr das freie Leben und die Freude mit dazu. Ohne die Wut des Kindes, gibt es für das Kind nur Unheil und drohendes Unheil. Ein Kind, dessen Wut unterdrückt worden ist, muss, solange seine Wut unterdrückt bleibt, auf das Unheil warten, es wartet ein Leben lang auf das Unglück in allen Lebenszeichen, weil es ihm erscheint, als wären Lebenszeichen und seine Lebensgeister nur die Vorboten seines Unglücks. Erst mit der kindlichen Wut, die immer schon in ihm war, erkennt das Kind, dass es kein Unglück magisch anzieht oder dazu verdammt ist, unglücklich zu sein. Mit der Wut erkennt das Kind, dass es ganz im Gegenteil zum Unglück verdammt worden ist. Und dass es eben doch das letzte Wort haben darf und kann, wenn es um seine Schmerzen geht und um sein Glück. Nur mit Wut kann ein Kind einen Schmerz beruhigen. Nur mit Wut kann ein Kind sich besser kennen lernen und die Welt für sich erkunden. Nur mit Wut kann der Sinn des eignen Schmerzes für das Kind verständlich werden. Nur so kann es auch verstehen, dass die Wut und auch sein Schmerz niemals schuldbeladen sind. Dass der Schmerz auch keine Strafe ist und die Wut auch keine. Dass die Schmerzen die es hat, keine Strafe sind. Dass die Wut nicht Schmerz vergrößert. Dass das Unheil nicht durch Wut entsteht. Dass die Wut die Angst und die Furcht vor dem Schmerz beseitigt. Dass das drohende Unheil, mein Kinderglaube, an die Welt der Unheil verkündenden Mutter gebunden ist. Dass die Wut diese imaginäre Verbundenheit, die eine Verdammnis für das Kind gewesen ist, als Lüge, Illusion, Scheinwahrheit entlarvt. Der Schmerz verliert endlich durch die Wut seine Maskierung; seine vermeintliche Schuldhaftigkeit, selbst Schuld zu sein, auch an jedem Unglück. Mit der Wut hört das ehemalige Kind endlich auf, für die anderen ein Kind zu spielen und ihr Kind zu sein. Das Kind verliert durch seine Wut den Irrglauben, dass es für sich selbst nichts ist und nichts kann, und ganz besonders, nichts an seinen Schmerzen ändern kann. Das Kind verliert den Irrglauben, dass es sich selbst niemals heilen und helfen kann.