Texte von Hugo Rupp

Der Käfer

 

Wie ich meinen Kopf einzog. Wie ich mich so schämte, wenn ich mich auszog. Wie ich mich dabei verdrehte. Wie ich mich verzog. Wie ich immer wieder meinen Kopf einzog und mich duckte vor den Schlägen meines Vaters und den Blicken meiner Mutter. Wie ich mich einzog. Wie mein Bein dann länger wurde, wenn ich mich verzog. Wie ich mich auch drehte und verdrehte und nicht merkte, wie ich mich verzog. Wenn ich mich anzog. Dass ich kürzer, kleiner wurde, wenn ich mich belog. In mir zitternd wie ein Hund. Wie ich mich verprügeln lehrte, wenn ich mit mir log. Wenn ich mich beruhigt hatte, wenn ich mich belog. Wie ich immer wieder mich ermahnte. Wie ich mich erzog, niemals wieder etwas fühlen, was mich auch anzog. Zärtlichkeit vermeiden. Zärtlichkeit vermeiden. Immer gegen meine Mutter. Zärtlichkeit vermeiden. Wenn der Vater schreit. Zärtlichkeit vermeiden. Nicht berühren wollen. Nicht berührt werden. Nicht berühren, schimpfte meine Mutter in mir weiter. Bitte nicht berühren, schluckt mein Mund mir stolpernd vor. Bitte nicht berührt werden. Niemals jemals wieder. Niemals wieder rühren, Richtung ihrer Zähne. Niemals wieder ihre Nähe suchen. Wenn sie nach mir ruft.

Wenn sie mich in ihrer Nähe haben wollte, war ich alarmiert. Wenn ich vor ihr zuckte, lachte sie dann noch. So als wäre ich ein Feigling, so als wäre ich verschämt, so als wäre ich zu schüchtern, so als wäre ich ihr peinlich. So als wäre wieder etwas an mir. So als würde etwas an mir haften, was sich nicht gehört. Jetzt war ich ihr viel zu fremd. Plötzlich ist ihr Nähe lieber. Plötzlich war ich ihr nicht nah genug. Plötzlich war ich zu entfernt. So als wäre ich was kleines, schwarzes, schwaches. So als wäre ich gelähmt, als würden meine Beine nicht mehr mir gehören.

Dass ich hier die Qual beschreibe, was es alles war, was ich mir nicht merken konnte, dass das alles wirklich und tatsächlich einmal war. Wissen um die leeren Tage, Wochen, Monat und für Monat, immer nur vergessen, um mich aufzuhalten, Jahr für Jahr, gegen meinen Zorn. Gegen ein Bedürfnis, dass die Mutter niemals fühlte. Gegen meine Wunschvorstellung. Schreien ohne Ende. Nie mehr damit aufhören. Endlich einmal wieder schreien. Endlich nicht mehr enden. Endlich nicht mehr aufhören. Endlich nicht mehr lächeln. Endlich nicht mehr fröhlich sein. Wie es für mich war, ist es auch gewesen. Nicht für meine Mutter. Nicht für meinen Vater. Wie es ist für mich. Wie es ist gewesen. Endlich nicht mehr nachgeben. Nicht mehr Einsicht üben. Einer Qual begegnen, die nicht fassbar war für mich, weil sich niemand dafür interessierte. Ich war Mutters Kind. Ihre Puppe, ihre Puppe. Ich war Mutters Kind.

Wenn ich für mich weinte. Als ich noch so weinte. Dass ich für mich weinte, hat sie nicht ertragen. Hat mich niemals weinen hören können, ohne sich zu fragen, was ist jetzt schon wieder. Niemals ein Begreifen der Misere. Dass ein Kind noch weint. Dass ein Kind nur weinen kann.

Meine Schreie quälten meine Mutter, deshalb sollte Schreien endlich sein, sollte Schreien für sie endlich aus sein und gestorben, ein für allemal. Hörte ich für meine Mutter auf? Hörte ich für meine Mutter auf zu schreien? Sicher hörte ich für meine Mutter auf zu schreien. Weil ich schließlich dachte, dass mein Schreien eine Qual sein würde.

– 71 –

Dieppe

und wieder das letzte Verebben

das tote Geschiebe

die Umkehr und dann die Schritte

nach den alten Lichtern

– 87 –

ich bin der Sandstreifen der sich

zwischen dem Geschiebe und der Düne hinzieht

der Sommerregen regnet auf mein Leben

auf mich mein Leben das mich flieht mir folgt

und enden wird am Tag seines Beginns

teurer Augenblick ich sehe dich

in dem weichenden Nebelvorhang

wo ich nicht mehr die langen treibenden Schwellen zu betreten brauche

und leben werde solange eine Tür

sich öffnet und wieder schließt

– 89 –

was würde ich tun ohne diese Welt ohne Gesicht ohne Fragen

wo Sein nur einen Augenblick dauert wo jeder Augenblick

ins Leere fließt und ins Vergessen gewesen zu sein

ohne diese Welle wo am Ende

Körper und Schatten zusammen verschlungen werden

was würde ich tun ohne diese Stille Schlund der Seufzer

die wütend nach Hilfe nach Liebe lechzen

ohne diesen Himmel der sich erhebt

über dem Staub seines Ballasts

was würde ich tun ich würde wie gestern wie heute tun

durch mein Bullauge schauend ob ich nicht allein bin

beim Irren und Schweifen fern von allem Leben

in einem Puppenraum

ohne Stimme inmitten der Stimmen

die mit mir eingesperrt

– 91 –

ich möchte daß meine Liebe stürbe

daß es regnet auf den Friedhof

und in die Gassen wo ich gehe

jene beweinend die mich zu lieben glaubte

Aus: Samuel Beckett, Gedichte, sonderreihe dtv, 1976

Ohne Zorn und Widerstand absterben. Immer nur absterben müssen. Für die Mutter herhalten.

Vermutlich drohten Ihnen schwere Strafen, wenn Sie die unbewussten Manipulationen Ihrer Mutter durchschaut hätten. Sie selber durfte ja nicht sehen, wie zerstörerisch sie sich Ihnen gegenüber verhielt, und diese Blindheit haben Sie vermutlich von ihr übernommen.

Alice Miller, aus einer Antwort auf einen Leserbrief, vom 27. Januar 2007

Wie ich selbst mich dabei fühle, wenn sie nicht von meiner Seite weicht, später dann, und immer wieder später, wenn sie nicht von mir ablässt, immer wieder mich gestreichelt, mit den Händen einer Irren, immer wieder so gestreichelt, immer wieder angefasst, so als wäre ich aus Plastik, nicht aus menschlichen Gefühlen. So als wäre ich ein Geist, so als wäre ich nicht wirklich, hast du Mutter mich dann angefasst. Für dich sollte ich dich lieben. Immer fester hast du mich berieben, immer fester zugedrückt, angefasst und zugepackt, immer fester in die Tiefe, immer fester in mein Fleisch. Wie ich das gehasst habe, wie ich widerlich mich später damit fand, wie mich das verhasst hatte. Wie du mich gestreichelt hast. Wie du meine Zartheit ausgenutzt hast, wie du meine Leichtigkeit missbraucht hast, meine Zärtlichkeit und meine Liebe. Wie ich immer nur erschrak, immer wieder nur erschrecken konnte, in der Nähe deiner Hände, deiner Augen, und dem Mund, wenn du mir erzählen wolltest. Hab es doch nur gut gemeint. Wie ein Feuer, das nicht brennt. Wie ein Hunger das erkennt. Wenn du meine Lippen dann befeuchtest. Meine Lippen sind verbrannt. Scheinbar wissen meine Hände noch Jahrzehnte später, was ich für dich war, was ich scheinbar nicht vergessen habe. Was den einen Finger kostete, den ich mir dann brach, wie ich immer wieder meinte, dass ich mir den Finger brach, den gehackten, den verletzten, den mit Stumpf und Stiel. Lyrische Vergebung. Meine Mutter schändete mein Leben. Sie verletzte meinen Willen. Sie verletzte meinen Stand. Sie verletzte meine Wünsche. Sie verletzte meine Scham. Sie verletzte meine Zukunft, meine Gegenwart und jede Nähe. Sie verletzte meine Scham. Sie verletzte meinen Ton. Sie verletzte meine Schale. Sie verletzte mein Gewand. Sie verletzte mich, sie verletzte auch mein Zittern, das ich schließlich nicht mehr fand. Nichts war mir geblieben, außer dem Verstand. Mutter nicht mehr trauen, das war in mir fest geschrieben, ohne dass ich das verstand. Dir nie mehr vertrauen, sagte mein Verstand, immer wieder in der Frühe, Abends, ganz besonders in der Nacht. Mutter kann ich nicht vertrauen. Das war mein Verstand. Qualvoll ohne Wissen, was ich nicht verstand. Dass ich etwas wusste, das ich nicht verstand. Dass ich von was wusste, das ich nicht verstand. Mutter nicht vertrauen. Heute weiß ich, dass mein Kind verstand, immer schon verstanden hatte, was man mit mir machte, nur nicht mein Verstand. Was ich nicht begreifen konnte, war, dass sie selbst das nie verstand, wie sich mir die Haut aufstellte, wie ich förmlich widerstand. Dass ich meine Fingernägel dafür kaute, dass ich das für mich erfand, meine Nägel abzubeißen, weil sie das nicht mochte.

Wenn ein Kind nach Möglichkeiten sucht, nicht gemocht zu werden, wechselt es damit auch den Verstand. Es versucht den Missbrauch aufzuhalten, deshalb spaltet es auch den Verstand. Sich nicht selbst verstehen können, mindert den Verstand und den Schmerz, sich nicht zu helfen wissen. Hilflos sein, immer wieder hilflos sein zu müssen, mindert den Verstand. Wissen wird so aufgegeben, Körperwissen, wie im Sand. Wie die Sandfiguren, die vom Wasser weggewaschen. Wie ein Kind aus Sand, wie es sich so anfühlt, wenn die Zeit vergeht, wenn ein Kind sich fürchtet, weil nichts übrig bleibt von der Form und Fassung, von der Anmut seines Körpers, von der Unschuld seiner Haut, wenn es da liegt, neben diesem groben Körper; neben meiner Mutter Hand.

Muss ich alles nur erdulden? Muss ich alles mir verderben? Was du mir antust, muss ich alles das ertragen? Nichts war in mir fähig, ohne Zorn zu antworten. Nichts in einem Kind ist zur Achtung fähig, wenn die Eltern jede Antwort ächten und bestrafen, die für sie gar nicht in Frage kommt. Das kommt nicht in Frage, sagt der Vater immer wieder. Das kommt nicht in Frage, sagt die Mutter immer wieder. Das kommt nicht in Frage. Dass sie meine Wut damit verhindert hatten, kam mir gar nicht in den Sinn. Dass man Zorn und Wut verhindert, wenn man seine Fragen nicht mehr stellt.

In der Fluchtbewegung, meiner unentwegten Flucht vor den Gefühlen. Vor Gefühlen meiner Mutter gegenüber. Floh ich ja geradezu aus Angst, vor dem Zorn auf meine Mutter. Mit der Fluchtbewegung eines Körpers, der sich immerzu verirrt, gibt das Zittern endlich einen Sinn, hoffnungslos in mir herum zu irren. Wie ich mich als kleines Kind tatsächlich fühlte. An der Mutter kleben, haften, die mir schadet und sich dann verstellt.

Was ist eine Mutter wert, die ihr Kind missbraucht? Was verdient denn eine solche Mutter?

Alles, nur nicht Liebe.

und wieder das letzte Verebben

das tote Geschiebe

die Umkehr und dann die Schritte

Aus Angst wurde ich Käfer. Aus Angst wird meine Atmung klein und dünn und flach, wenn ich die Mutter kommen höre. Aus mir wird jetzt ein Käferlein. Die Fühler ausgestreckt, erwarte ich die Mutter. So klein macht mich die Angst in mir, dass ich mich nicht mehr rühre. Am liebsten würde ich verschwinden. Ich bin aber ihr Käferlein. Die Luft wird immer dünner, heißer in mir drin. Als steckte ich in einem Panzer. Wenn mich die Mutter auf den Rücken dreht. Ich zapple erst, dann höre ich mein Zappeln auf. Ich komme nicht vom Fleck. Ich darf mich jetzt nicht rühren. Ein süßer Käfer mag das gern, was seine Mutter mit ihm anstellt und so macht, mit ihren flinken Händen. Wie Scherenhände, Webstuhlfinger, schießen sie über mich. Als würde sie mich lebend einspinnen. Das mag die Mutter gern. Ich bin auch Nahrung noch für später. Ein süßer Käfer ist ein Kind, der seiner Mutter nie was übel nimmt.

Schau dir nur diesen Käfer an. Sein eines Bein hängt ihm ja weg. Da muss jemand auf ihn getreten sein. Das kommt, wenn man nicht aufpasst. Hörst du. Das kommt davon, wenn man nicht schaut, wo man hintritt. Hörst du. Jetzt fehlt dem Käfer dieses Bein. Ein süßes kleines Kerlchen, sagt sie und hält ihn fest in ihrer Hand. Ein süßes Käferlein. Schau, wie der krabbelt. Das wird ihm aber nicht gelingen, sagt sie und lächelt weiter. Doch das wird nicht mehr lang so bleiben. Fehlt dir erst mal ein Bein, dann wird bald schlimmeres passieren. Ein Vogel oder eine Heuschrecke. Wer weiß, wie lange dieser Käfer noch am Leben bleibt. Wenn er sich gut verstecken kann, im Gras oder dort bei den Bäumen. Vielleicht dort unter den Holunderbüschen, dann kann er noch ein wenig weiter leben, sagt sie.

Ein Käfer hustet nicht. Der weint nicht und der lässt sich nichts anmerken. Nicht einmal, wenn man ihm ein Bein, den Flügel, oder seine Fühler bricht. Der schreit nicht und der sagt auch nichts dergleichen. Der bleibt ganz einfach still. Der lässt sich nichts anmerken. Der Käfer hat nicht aufgepasst, das dachte ich. Er ist ja klein. Wer klein ist, muss aufpassen. Dass niemand auf ihn tritt. Ein Käfer kann froh sein, wenn man ihn nicht zertritt, sagt sie.

Wie dieser Käfer, war ich klein.

Die Zeiten in der Nacht, wenn ich Jahrzehnte später noch von irgendwelchen Schritten, Klopfgeräuschen aufgescheucht, geweckt wurde. Das waren ihre Zeiten. Wenn meine Mutter zu mir kam. Ohne zu wissen, dass ich auf die Mutter immer schon ängstlich reagiert hatte.

Ein Kind kann das, was ich hier sage, nicht verraten. Es würde eher vor der Wahrheit sterben, oder sich seiner Mutter anverwandeln. Zum „Muttersöhnchen“ beispielsweise werden, damit sein Zorn und seine Wut, unkenntlich bleiben. Ein süßer kleiner Fratz werden. Mit dem Begriff des „Muttersöhnchens“, wird ein missbrauchtes Kind nachträglich noch beschädigt, und seine Mutter, die Misshandlerin, kann so ganz unbesorgt und unbeschadet in ihrer sogenannten Mutterliebe baden.

Ich kann mich an den Titel dieses Films nicht mehr erinnern, es ging um das Orchester in Auschwitz, das aufspielen musste, wenn die Menschen in die Gaskammern getrieben wurden. Eine Szene ist mir aber im Gedächtnis geblieben: Es gab in diesem Film eine KZ-Aufseherin, die sich sozusagen in einen kleinen jüdischen Jungen verliebt hatte, ihn herzte, ihm besondere Essensrationen zukommen ließ, mit ihm spielte. Eines Tages wird auch dieses Kind geholt, um ermordet zu werden. Die Aufseherin ist verzweifelt, bricht in Tränen aus, im Film wird eine geradezu pervers rührende Abschiedsszene gezeigt. Aber nun, die Frau trägt ihr Los zunächst heroisch, Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Ich erinnere mich gut, dass ich diese Szenen widerlich fand. Ich saß mit dem Rücken zu meinen Eltern. Hinter mir schluchzte meine Mutter, sie erlitt einen ihrer turnusmäßigen kleineren Nervenzusammenbrüche: Mein Gott, die arme Frau; nein, nein, nein, wie kann man ihr nur dieses goldige kleine Kerlchen wegnehmen; das hätt‘ ich nicht überlebt; ich hätte mich umgebracht, so ein süßer kleiner Spatz. Sie schluchzte noch eine Weile und dann räsonierte sie: Also dass man auch die Kinder umgebracht hat, das ist doch schrecklich. Wie kann man nur, das ist wirklich nicht die Möglichkeit. Ich könnte ja noch verstehen, wenn sie die Mädchen umgebracht hätten, Mädchen habe ich nie leiden können. Ich wollte auch nie ein Mädchen haben. Aber dass sie auch die Jungen umgebracht haben …, so goldige kleine Kerlchen, furchtbar, furchtbar; und diese arme Frau, diese arme, arme Frau, mein Gott. Was sagst du dazu? Mein Vater hätte sich niemals erlauben dürfen, ihr auf diese Frage nicht zu antworten und so gab er die Meinung zum Besten, die er gegenüber jeglichem Geschehen auf der Welt hegte: Tja, na ja, tja.
Ich erinnere mich genau, wie ich in meinem Sessel buchstäblich vereiste; ich ahnte, dass meine Eltern irre waren und schlichtweg grauenhafte Antisemiten. Erst viele Jahre später konnte ich mir vorstellen und klar machen, was dies für mich als Kind bedeutet hatte. Wie fühlt sich ein kleines Kind, das bei Leuten aufwachsen muss, die den Antisemitismus, den Geist der Nazis, die gesamte braune Gülle wie ein Schwamm in sich aufgesogen hatten? In einem mühsamen und quälenden Prozess erlaubte ich mir, mich an den Sadismus meiner Mutter zu erinnern, an die von ihr mit Lust zelebrierten Strafrituale, wie wir, mein Bruder und ich, uns aufzustellen und „stramm“ zu stehen hatten, um die Schläge, die „Abreibung“, „die Tracht“ in „Empfang“ zu nehmen. Wie meine Mutter sich aufblähte, protzte, prahlte und ihre Reden schwang. Wie sie jeden Krümel auf dem Teppich zum Vorwand nahm, um nach dem Täter zu fahnden und das Vergehen zu ahnden. Wie sie mich als „Jude“, „Halbjude“ und „Stück Scheiße“ beschimpfte. Ich erinnerte mich an die gnadenlose Verachtung, mit der mich mein Vater von Anfang an bedacht hatte. In seinen Augen war ich, das Kind in seiner Angst, „verzärtelt, verweichlicht, weibisch“, ein „Muttersöhnchen“ und eine „Memme“, obwohl gerade er der Schlappschwanz, die Lusche in der Familie gewesen war. Ich konnte Schritt für Schritt deutlich sehen, wie meine Eltern Jagd machten auf alles, was ihnen an mir nicht passte, was ihnen irgendwie „anders“ erschien, sie deshalb bedrohte und mit Neid erfüllte, besonders meine Begabung, meine Phantasie, meine Intelligenz, mein Geschlecht. All das musste vernichtet werden, ausgerottet, oder, wie meine Mutter zu sagen pflegte: Das treibe ich dir aus mit Stumpf und Stiel.

Aus: Auf der Suche nach der eigenen Geschichte: Der Schriftsteller Jurek Becker, von Thomas Gruner

Genauso wie bei Thomas Gruner, war bei mir die Stimmung auch zu Hause. Wenn meine Mutter theatralisch wurde, sich sichtlich auch empörte und ereiferte. Das Falsche und die Heuchelei, fällt mir jetzt richtig ein. Wenn ich vor meiner Mutter weinte und Rotz aufzog und dann nicht richtig atmen konnte und meine Atmung pfiff und wie ein Igel wurde, dann sagte Mutter immer nur: Was grunzt du wie ein Schwein!?

Wie Thomas Gruners Mutter sich empörte. Weil man ihr Spielzeug weggenommen hatte. Das Spielzeug einer KZ-Aufseherin. Ein Kind, das nach belieben ausgebeutet worden war. Und die Empörung einer Mutter. Als würde eine KZ-Aufseherin tatsächlich wissen, was Gefühle sind. Als würde so jemand Gefühle für jemanden aufbringen und auch noch hegen können.

Warum nur diese Heuchelei?

Mitleid mit einer Mutter haben, verhindert doch wie nichts die Wut, den abgrundtiefen Hass und einen Zorn, der alles zu zerschneiden in der Lage ist, was vorher sich verbunden fühlte.

Der Zorn auf einen Menschen, meine Mutter, die ausschließlich mit meinem Fühlen und Empfinden spielte und so mein Leben immer nur aufs Spiel setzte. So wie die Mutter Thomas Gruners sich empört hatte, so zornig konnte meine Mutter werden, wenn ich nicht länger mit ihr spielen wollte, wenn ich nicht länger ihr Verhalten und Benehmen, die Sucht nach Aufmerksamkeit ertragen konnte und müde wurde und mich noch traute, vor ihr zu gähnen. Empörung, Zorn und Wut, kam immer dann bei ihr zum Vorschein, wenn ich nicht wie sie wollte. Ein Kind will aber nie misshandelt und missbraucht werden. Jetzt wird mir klar, was diese theatralische Aufregung für ein Kind bedeutet: Hass gegenüber allen Äußerungen und den Gefühlen eines Kindes. Hass entsteht aus Gleichgültigkeit gegenüber Kinderleiden. Gleichgültigkeit wird Hass. Wer hier noch an Vergebung denkt, dem ist nicht mehr zu helfen. Der goldige Junge, das goldene Kind, ist die Erfindung des Erwachsenen, der so mit seinem Blick ein Kind ausbeutet und missbraucht.