Texte von Hugo Rupp

Der Hunger nach Bestrafung

 

Ich weinte bitterlich. Und meine Mutter sprach, hör endlich auf mit deiner Trenzerei. Ich kann das nicht mehr hören.

Gleichgültig sein, gefühllos tun. An jedem Tag nur immer wieder lügen. So tun, als wäre mir das gleichgültig, was sie mir angetan hatte.

Verzweifelt schrie ich in der Nacht.

Ist da denn niemand!?

Und sie hat immer dann gelacht und so gemacht: da ist niemand.

Ist da denn wirklich niemand?!

Und sie hat immer, nein, gesagt.

So habe ich gedacht, da ist tatsächlich niemand. Und lag dann wach, tief in der Nacht, stumm neben ihr und mir.

Da ist doch nichts! Da ist niemand! Schrei doch nicht so! Du weckst ja alle Leute auf. Da ist niemand! So sprach ich schließlich auch zu mir.

Wann immer ich um Hilfe bat, ob in der Nacht, oder am Tag, wurde ich übersehen und so von ihr bestraft. Ich rief und schrie, und meine Mutter sagte immer nur, da ist doch nichts, das bildest du dir doch nur ein.

Ich schrie, und sie bezichtigte mich einer Lüge.

So dachte ich, und davon bin ich immer wieder aufgewacht, von diesen Lügen um den Schlaf gebracht, weil doch noch etwas in mir war, von diesem allerersten Zorn. Ich wollte nicht alleine sein. Ich hasste das. Ich hasste nichts so sehr, wie ganz allein zu sein; nur ohne Regung sein zu müssen.

Woher die Eile in mir kam, mein Ausschau halten müssen, wenn sich jemand bewegte, wenn jemand bellte, hustete, gar schrie, wenn jemand sich nur lauthals unterhielt. Auf Zehenspitzen gehen, lernte ich; wie unter Wasser mich bewegen.

Vor was hat dieses Kind nur eine solche Angst?!

Wenn du noch nicht so gross wärst, würde ich Dir deinen Hosenboden jetzt versohlen.

Warum der Claus und ich die Frösche mit Baumgerten tatsächlich totgeschlagen hatten. Was in uns ausgebrochen ist, von dem wir scheinbar gar nichts wussten. Warum wir gleichgültig, mit lächelnden Gesichtern, auf Frösche eingedroschen hatten, auf unschuldige Kreaturen.

Sie schlug mich auf den Hintern, immer wieder. Die Finger meiner Mutter, die ihrer rechten Hand, die größten drei der rechten Hand, die mich so fasziniert hatten, wenn sie sich Nagellack auf ihre Fingernägel strich. Wie sorgfältig sie dabei vorging, unaufgeregt, entspannt. Die Finger zischten nur so über mein Gesäß, über die rechte Seite. Wo ich Jahrzehnte später einen solchen Schmerz verspürte. Von einem Peitschenhieb. Wo meine Sehne riss. Mit einem lauten Knall.

Musst du so nah an mein Gesicht herankommen?!

In einer der Testserien stellten Harlows Studenten eine Stoffmutter in eine Plexiglasbox in die Mitte des Offenen-Feld-Raumes. Das Affenbaby wollte zweifellos keine Mutter hinter Glas; es gab gurrende, einschmeichelnde Geräusche von sich, es tastete sich um die transparente Barriere herum, um eine Möglichkeit zu finden, die Mutter herauszuholen. Doch letztlich ließ es sich nieder, um wenigstens das Gesicht der Mutter sehen zu können. Alle Äffchen, die getestet wurden, begannen den Raum zu erforschen, und wenn sie etwas Interessantes fanden – ein kleines Rätselspiel zum Beispiel -, hoben sie es auf und brachten es zu der Box, so nah wie irgend möglich an die Mama heran. In anderen Tests konnten die Affen die Box öffnen, wenn sie herausfanden, wie sich eine Reihe von Schlössern öffnen ließ. Sie tüftelten und probierten endlos, so lange, bis sie jedes Schloss geöffnet hatten und ganz dicht an die Mutter rücken konnten. Sogar wenn die Stoffmutter-Fürsorge für die jungen Affen abgeschlossen war und sie in der Gesellschaft anderer jugendlicher Makaken kamen, taten sie alles, um die Mutter zu befreien. Offensichtlich waren die Äffchen „resistent gegen das Vergessen“, sagte Harlow.

Deborah Blum Die Entdeckung der Mutterliebe

Es waren ihre gleichgültigen Schritte, ihr gleichgültiger Klang und ihre gleichgültigen Fragen und ihre gleichgültigen Sätze, wie sie im Grunde gar nichts immer wieder sagte, rein gar nichts von sich gab. Die gleichgültigen Augen, mit denen sie mich ansah und ihre gleichgültige Zunge, mit der sie sich die Lippen ableckte. Und ihre gleichgültigen Züge im Gesicht und um den Mund, wie sie die Mundwinkel ein wenig anhob. Wenn sie mit ihren Fingern über mein Gesicht strich. Wie eine herzlose Maschine. Herzlos in ihrer Art. Das hatte mich erschreckt und alle meine Sinne angegriffen, weil es mir vorgekommen ist, ich wär nicht in die Welt, sondern ins Totenreich gekommen.

Sie quälte mich mit dem Vergessen.

Ich war doch nur beim Bäcker. Hast du dir eingebildet, dass ich nicht mehr zurückkomme!? Was du dir immer nur einbildest. Da könnten sich andere eine Scheibe davon abschneiden. So eine Phantasie. Nein wirklich.

Ich träume und ich schreie, und junge Amseln fliegen durch mich durch. Ich liege auf dem Boden und habe alle Viere ausgestreckt. Endlich begreife ich die Not. Ich liege nicht auf meinem Rücken. Ich liege auf dem Bauch. Die Vögel zwicken, und kommen durch die rechte Hand in mich und fliegen durch mich durch und sie verlassen meinen Körper, durch meine linke Hand wieder. Endlich begreife ich den mörderischen Lärm, warum die jungen Amseln schreien. Ich kriege keine Luft. Die Amseln schreien für mich. Aus Angst vor dem Ersticken. Die Mutter steckt mir nicht nur Essen in den Schlund, sie drückt mich auf den Boden. Sie drückt mich auf den Grund. Sie drückt mich mit der Nase in den Boden. Deswegen krieg ich keine Luft. Aus Angst vor dem Ersticken, endlich verstehe ich den Grund.

Jetzt sei ein braves Kind! Ich mache doch nur Spaß.

Boshaft und gleichgültig und scheinbar wohlmeinend.

Ich schau mir doch nur deine Wunde an. Hat es dich hingehauen?! Das kommt davon. Wenn man nicht hören will. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht so rennen?!

Vor lauter unterdrückter Wut biss ich mir Jahre lang die Zähne aus und gab mir selbst dafür noch Schuld. Bestrafte mich scheinbar mit meinen Zahnschmerzen. Als hätte ich mich schon bestraft gehabt, als kleines Kind mit meinem ersten Zahnen.

Ein New Yorker Journalist, der Madison wegen einer Fortsetzungsgeschichte über Ersatzmütter besuchte, beschrieb die etwa einhundert Affen mit wirklichem Entsetzen. Einige klammerten sich an die Stäbe ihrer Käfige und schrien auf die Zuschauer ein. Andere richteten sich übel zu, bissen sich in die Arme und rissen sich ihr Fell aus. „Viele boten ein nervenaufreibendes Bild krankhafter Apathie“, berichtete der Journalist. „Stunde um Stunde sitzen sie in merkwürdig verzerrten Positionen oder drängen sich in die Ecken ihrer Käfige zusammen, scheinen nichts zu sehen und nichts zu hören.“

Deborah Blum Die Entdeckung der Mutterliebe

Ist da denn wirklich wahr?!

Mein Traum vom See. Mein Alptraum, der jetzt 37 Jahre alt ist. Erschrocken bin ich davon aufgewacht und wollte nicht mehr weiterschlafen, aus Angst, aus reiner Todesangst heraus. Unfähig etwas anderes zu tun, im Angesicht des Todes und des Schreckens und des Untergangs, als boshaft und gleichgültig zu sein. Sie hatte mir das beigebracht, nur immer mit dem Schlimmsten rechnen. Mutter. Die Frau vom See. Sie hat mich einfach übersehen, mich einfach ignoriert. Sie hat mich ignoriert und damit immerzu bestraft. Das habe ich von ihr gelernt, zu übersehen und zu ignorieren. Ich ignorierte mit Erschrecken schließlich, jedes Gefühl in mir. Was meine unterdrückte Wut in Wirklichkeit vollbrachte. Den Hass, den ich auf meine Mutter hatte, zu ersticken.

Warum bist du so böse?!

Wie viel an Hass ich in mir finde, in diesem ungeliebten Kind, das ich mal war. Wie viel an Hass sich in uns ungeliebten Kindern aufbaut, wenn wir nicht wütend werden können. Was unterdrückte Wut anrichten kann.

Was sich für mich in meiner Mutter Seele immer wieder für mich spiegelte, nur Feindschaft gegenüber den Gefühlen. Dem Leben gegenüber an sich feindlich; nicht liebend.

Freu dich nur nicht zu früh!

Mich nicht zu freuen, lernte ich.

Misch dich nicht ein!

Und still zu sein und stets zu schweigen, wenn ich in Not bin, lernte ich.

Sei still, sonst kannst du was erleben!

Ein ungeliebtes Kind, wie ich, lernt zu verschweigen, aus Angst vor dem Unglück.

Sei still, sonst kommt der Schwarze Mann!

Ein ungeliebtes Kind, wie ich, hat Angst vor jeder Zukunft.

Du wirst noch einmal an mich denken!

Ein ungeliebtes Kind, wie ich, kann nicht wegrennen.

Ich will nie wieder etwas von dir hören. Hörst du!

Mutter bestrafte, was ich ihr gegenüber war, ein ungeliebtes Kind. Wenn ich mit Tränen in den Augen vor ihr stand.

Reiß dich gefälligst jetzt zusammen!

So lernte ich bestrafen.

Mich ungeliebtes Kind. Wie sie. Für die Lebendigkeit, mit der ich mich beschwert hatte. Mit aller Macht, das ungeliebte Kind mit seiner Liebe und seinem Hass ablehnen und bekämpfen.

Das bildest du dir doch nur ein!

Vergiss nicht, dass es besser ist, Opfer zu sein als Henker.

Anton Chechov

Ich nahm Gefühle widersprüchlich wahr, als wären sie verfeindet, unter sich. Als würden sich Gefühle untereinander spinnefeind sein. Als würden sie sich streiten, sich schlecht betragen und mich verklagen. Als wollten sie mich anklagen.

Wenn ich das Leben liebte, lehnte mich meine Mutter ab.

Hör endlich auf mit deiner Grinserei und setz dich jetzt gefälligst hin. Du führst dich auf wie diese Schwachsinnigen, die sie in Attel in den Käfig sperren. Damit sie sich nicht wehtun und selbst verletzen.

Nur übersehen und belächelt werden, wenn seine Seele brennt, kann so ein Kind wie mich zum Henker machen, wenn niemand das erkennt, was Strafen einem Kind bedeuten und wie lebendig dieser Schmerz in einem brennt, um sich zu äußern, zu verbreiten; was man den blinden Hass gewöhnlich nennt, ist die Verleugnung aller Leiden, Schmerzen. Verleugnen, was mir wehgetan hatte. Verleugnen, wer mir als Kind so wehgetan hatte.

Ob Freudentränen, oder vor Schmerz geweinte, sie hat sie alle ausgelacht; und vor mir ausgerichtet, umgebracht. Endlich begreife ich, dass ich mich schwach fühlte, als Schwächling meiner selbst, als jemand, der sich selber schwächte, wenn er etwas empfand und weiterhin empfinden würde.

AM: Ja, Traurigkeit und Wut sind schmerzhaft, aber sind wegweisend und nicht gefährlich.

Alice Miller, Antwort auf Leserbrief, Endlich fühlen können, Friday 06 November 2009, © 2019 Alice Miller

Weil ich allein, gar nicht allein sein kann als Kind. Sonst falle ich in einen Graben. Dann fressen mich die Raben. Und mich die Schmerzen auf. Dann macht es Plumps und ich bin in dem Sumpf.

AM … Um das Lebendige, Aufrichtige in anderen Menschen wahrzunehmen, muss man das Verlogene, Falsche und Grausame in unserer Kindheit durchschaut haben. Dann ist es, als hätten wir die gesunden, beschützenden Instinkte wiedergewonnen, die man uns in der Kindheit verboten hat zu spüren.

Alice Miller, Antwort auf Leserbrief, Selbstachtung, Friday 12 December 2008, © 2019 Alice Miller

Ich merkte nicht, dass meine Mutter gar nichts fühlte. Sie log. Sie machte mir doch unaufhörlich etwas vor. Ich dachte wirklich, sie sei unschuldig. Die Unschuld in Person. Dass meine Mutter sich nicht schuldig fühlte, dass sie sich nicht mal schämte, bedeutet nicht, dass sie unschuldig war, sondern, dass sie gar nichts empfand, rein gar nichts fühlen konnte.

Die Musik, die Schönheit ist in uns und nirgends sonst auf der unempfindlichen, uns umgebenden Welt.

Louis – Ferdinand Céline Leben und Werk des Philipp Ignaz Semmelweis

Wisch dir den Rotz nicht auf die Hose.

Dann steckte sie mir mein Hemd unter den Hosenbund und wischte mir mit ihrer Spucke auf dem Zeigefinger über Gesicht und Mundwinkel.

So, jetzt bist du wieder vorzeigbar!

Sie kostümierte nicht nur meine Tränen, sondern verklärte und verschleierte ununterbrochen, wie ekelhaft, brutal und wie abscheulich sie tatsächlich zu mir war.

Da muss man sich ja schämen, wie du dich aufführst. Wie du dich wegen jedem Scheissdreck dermaßen aufregen kannst.

Was stellten wir mit diesen Frösche an?! So tun, als würden wir nichts Böses denken.

Pass auf, wohin du trittst!

Pass endlich auf!

Siehst du, jetzt bist du hingefallen.

Das Böse, das auf leisen Sohlen kommt, fängt achtlos, scheinbar arglos an.

Du brauchst vor mir doch keine Angst zu haben!

Gerade dann, wenn ich lebendig bin, gerade dann, wenn es mir gutgeht, schlägt meine Mutter und das Böse zu.

Sag schon, was fehlt dir denn?!

Sie spielte immer nur die Arglose. Dann spielte sie die Interessierte.

Was hast du denn?! Ich tu Dir nichts. Ich hab Dir nichts getan.

Ich konnte ihre Absicht nicht erkennen, nicht ihre feindselige Art. Ich konnte nur arglos und wehrlos sein. Ich konnte ihre Heimtücke nicht sehen. Endlich begreife ich die Unschuld und das Böse. Endlich begreife ich die Absicht, die man nur selbst in sich erkennen kann, oder gar nicht.

Ich konnte gar nicht wissen, was das ist und was das war. Ich wusste gar nicht, was ich lernte. Ich konnte nicht erkennen, dass ich was Falsches und was Schädliches für mich und andere gelernt hatte. Ich konnte, wehrlos und unschuldig, die Heimtücke, ihre hinterlistige Art, nur immer wieder lernen und einatmen. Denn ich empfand nur immer wieder Schrecken, der scheinbar aus dem Dunkeln kam und meiner Phantasie, auch scheinbar meiner Einsamkeit entsprungen war.

Wie ich mich selbst dann später damit quälte.

Da ist doch nichts! Das bildest du dir doch nur ein!

Ich würde das an deiner Stelle endlich lassen!

Mir Angst zu machen, war ihre heimtückischste Waffe. Angstmacherei, mit der sie meine Lebensfreude immer wieder stahl und später dann vergiftet hat. Mit der sie mich herausgefordert hatte, von Anfang an, nur ja nichts gegen sie zu sagen und zu machen. Nur keine Wut.

Ich würde mir das zweimal überlegen.

Dass mir mein Leben Angst machte, das schaffte meine Mutter.

Jetzt bist du still! Endlich gibst du jetzt Ruhe.

Ihr tu ich weh, das dachte ich. Und später dachte ich, ich hätte meiner Mutter wehtun wollen. Als würde ich dem Schwarzen Mann wehtun. Als würde ich ihm wehtun können, indem ich ihn vertreibe. Als würde ich das Böse abwehren. Als könnte ich das Böse wirklich abwehren. So nahm ich sie nicht wahr. Ich konnte mir und ihr nicht sagen, wie ich das Böse an mir hasste.

Ich konnte ihr nicht böse sein, weil ich die Botschaft nicht verstand.

Ich tu Dir nichts!

Deswegen hatten wir die Frösche totgeschlagen.

Was bildest du dir ein?!

Endlich begreife ich, man kann nur heimtückisch und böse sein, wenn man Böses gewohnt ist.

Und wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?!

Niemand!

Und wenn er aber kommt?!

Dann laufen wir davon!

Böse an sich, das waren später immer nur die anderen.

Dir wird dein blödes Lachen noch vergehen!

Ihr ohne Widerrede zuzuhören, das war die reinste Folter. Sie machte mich verrückt vor Angst, mit ihren Drohungen, Verwünschungen und Lügen. Sie redete mich krank.

Mit Schuld und wieder Schuld. Mit Schuld und immer wieder neuer Schuld, ununterbrochen aufgehetzt zu werden, und nichts dagegen tun zu können.

Hör endlich auf mit deiner Schreierei.

Ich hab das doch nicht absichtlich getan. Was wirst du denn gleich wieder böse!

Endlich begreife ich. Die Wut ist unabhängig von der Absicht. Die Wut auf ihr Verhalten, ist immer gut für mich gewesen. Endlich begreife ich. Auch wenn sie mir nicht absichtlich so wehgetan hatte, ist meine Wut begründet, und ihre Schuld. Auch ohne eine böse Absicht, hat meine Mutter sich schuldig gemacht. Weil sie sich unentwegt an mir vergriffen hat. An mir und meiner Seele. Auch ohne eine Absicht. Endlich begreife ich den Zorn. Und meinen Hass. Sie übernahm für nichts selbst die Verantwortung.

Ich mach das doch nicht absichtlich! Ich hab dir doch nicht absichtlich so wehgetan! Führ dich doch nicht so auf!

Was war denn die Beschuldigung?

Böse an sich, als Kind zu sein. Was Böses an sich selbst zu machen. Was Böses aus sich selbst zu machen. Was Böses an mir selbst zu sein, das schob mir meine Mutter zu. Das schob mir meine Mutter immer wieder zu.

Wie kann man nur so böse sein?!

Wenn ich zu schreien und zu weinen anfing.

Wie kann man nur so böse sein?!

Böse an sich, auf meinen Schmerz und die Gefühle und Bedürfnisse. Selbst krank gemacht. Selbst meine Freude machte krank und schuldig.

Hast du schon wieder Hunger!?

Im Grunde dachte ich, dass alles an mir böse sei. Dass Wut mich noch mehr böse macht, auch in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann. Ich dachte immer nur, sie macht mich krank. Und dass ich Fieber davon habe. Und Hunger, und, und, und; und davon bin ich aufgewacht. Weil ich im Fieber wirklich dachte. Ich bin ein böses Kind, das bringt mich um den Schlaf und den Verstand; nur deshalb suche ich im Fieber nach meinem Kopf und meinen Beinen.

Was hast du denn schon wieder!? Das ist ja zum Lachen.

Ich konnte mich ja nicht mehr richtig äußern. Ich konnte mich ja nicht mal richtig schämen.

Was wirst du denn jetzt rot!? Hast du schon wieder etwas ausgefressen!?

Ist da denn wirklich niemand!?

Doch vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Einmal fiel einem Aufseher der Käfig auf, und er fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenutzt stehenlasse; niemand wußte es, bis sich einer mit Hilfe der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man rührte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hungerkünstler darin. »Du hungerst noch immer?« fragte der Aufseher, »wann wirst du denn endlich aufhören?« »Verzeiht mir alle«, flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. »Gewiß«, sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, »wir verzeihen dir.« »Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hungern bewundert«, sagte der Hungerkünstler. »Wir bewundern es auch«, sagte der Aufseher entgegenkommend. »Ihr solltet es aber nicht bewundern«, sagte der Hungerkünstler. »Nun, dann bewundern wir es also nicht«, sagte der Aufseher, »warum sollen wir es denn nicht bewundern?« »Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders«, sagte der Hungerkünstler. »Da sieh mal einer«, sagte der Aufseher, »warum kannst du denn nicht anders?« »Weil ich«, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.« Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, daß er weiterhungere.

Franz Kafka Ein Hungerkünstler

Die Schuldgefühle waren meine Nahrung. In meiner Einsamkeit ernährte ich mich nur von Ihnen. Weil es von meiner Mutter sonst nichts gab. Das war zum Haare raufen und ausreißen. Es gab ja sonst nichts. Es gab, als Nahrung für die Seele, von ihr nur Schuldgefühle; es konnte von ihr gar nichts anderes geben. Es war an meiner Mutter gar nichts anderes dran. Sie konnte mir nur Schuldgefühle geben. Wenn ich die Augen niederschlug und nichts mehr sagte. Wenn ich ganz ohne Regung war und wie ein Opferlamm. Nicht einmal, wenn ich winselte. Wenn ich nach nichts mehr klang. Wenn ich mucksmäuschenstill war, nicht einmal dann hörte sie auf mich zu beschuldigen. Ich konnte mit meiner Schuldigkeit nichts tun. Sie hört nicht auf mich zu beschämen.

Siehst du, jetzt hast du selbst genug von deiner Trenzerei.

Für meine Mutter sollte ich mich nur von Schuld ernähren.

Was bildest du dir ein?!

So dachte ich schließlich, ich würde das verdienen. Das wäre meine Schuld. Dass ich nur Hass verdienen würde.

Was bist du für ein böses Kind!

Was führst du dich so auf?! Du hast doch alles, was du brauchst!

Endlich verstehe ich sie richtig. Ich hatte doch nur Schuld verdient. So sah sie mich auch an, mit ihren fürchterlichen Augen.

Bleib stehen, jetzt sofort! Sonst wird dich noch der Teufel holen!

Ich hasste später die, die keine Schuldgefühle hatten. Ich hasste die, die einfach etwas taten. Ich hasste die, die mir nicht aus dem Wege gingen. Ich hasste alle Menschen, Kreaturen, die sich tatsächlich so benahmen, als wüssten sie nichts von der Schuld und ihren Schuldgefühlen.

Ich würde das an deiner Stelle jetzt nicht tun?!

Endlich begreife ich, dass ich sie immer nur in Schutz genommen habe, mit meinem Schuldgefühl. Endlich begreife ich, dass ich nicht mich, sondern den Wahnsinn meiner Mutter mit meinen Schuldgefühlen schützte.

Woher hast du nur diese Energie?! Das ist doch nicht zum Aushalten. Kannst du nicht einmal durchschlafen!? Das ist doch nicht zu fassen. Kannst du mich nicht einmal in Ruhe lassen?! Kannst du nicht einmal Ruhe geben?! Lass mich doch einfach wenigstens einmal in Ruhe essen. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Oder?! Kannst du nicht einmal damit aufhören?! Musst du andauernd etwas anstellen?! Lass deine Schwester jetzt sofort in Ruhe. Siehst du denn nicht, dass sie mit dir nichts zu tun haben will?! Siehst du denn nicht, dass sie auch ihre Ruhe braucht?! Musst du mich immer nur was fragen?! Hast du noch immer nicht genug!? Wie kann man nur so eifersüchtig sein und neidisch!? Auf so ein kleines Kind. Wie kann man nur so böse sein. Was bildest du dir ein. Meinst du vielleicht, dass deine Schwester mehr bekommt. Nur haben, haben, haben. Nichts anderes fällt dir ein.

Welche ich liebhabe, die strafe und züchtige ich. So sei nun fleißig und tue Buße!

Die Bibel Offenbarung 3:19

Weil ich ihr niemals als Kind ausgekommen bin, musste ich glauben, ich müsste schuldig sein, erst richtig schuldig werden, damit mich meine Mutter endlich lieben kann. Ich dachte wirklich, nur schuldig würde sie mich, nur schuldig könnte sie mich lieben. Nur schuldig würde sie mich lieben können. Nur wenn ich mich bestrafen und bestrafen lassen lernte.

Das bildest du dir doch nur ein?!

Der unsichtbare Schmerz, der sich durch meinen ganzen Körper brennt.

In einem dunklen Raum, voll Möbeln, abgelegtem und verbrauchtem Zeug. Ein Raum voll Utensilien, für die Gerichtsbarkeit. Und hinter Glas ein frisch geschlüpfter Vogel. Futter ist da und Wasser ist da. Unangetastet. Mein Traum von der Bestrafung.

Die ganze Welt, ein Strafgericht, weil ich sie dazu mache.

Da ist doch nichts.

Alles war Schuld. Alles war meine Schuld. Weil alles eine Schuld sein sollte, wie ich ihr gegenüber war.

Da ist doch nichts?!

Nur wenn man keine Seele hat. Nur wenn man keine haben darf. Und wenn man keine haben soll. Dann ist da nichts. Dann lernt man unterdrücken und verleugnen, mit der Beschuldigung, den Schmerz, in Not ein ungeliebtes Kind zu sein. Solange man sich selbst dafür beschuldigt; und damit seinen Schmerz und die damit verbundene Wut verleugnet.

Endlich begreife ich, warum ich meine Mutter fürchtete, weil sie tatsächlich nichts, was ich empfand, selbst fühlen konnte. Mir war, als blickte ich in einen leeren Spiegel. Und das war schließlich meine Wahrheit, vor der ich so erschrocken bin, dass ich darin verschwand.

Als Kind war ich auf meine Mutter angewiesen. Ich musste mir von ihr etwas erhoffen und erwünschen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste mir von ihr Liebe erhoffen. Ich konnte mir von niemand sonst Liebe und Trost wünschen.

Ich hatte irgendwann auch keine Lust mehr, was zu spielen oder zu lernen, denn alles, was ich in mir sprach, begann dann irgendwann damit, pass auf, dass nichts passiert.

Das brachten wir den Fröschen bei, indem wir sie totschlugen, dass sie sich schämen sollten, den Claus und mich soweit gebracht zu haben. Die Schuld sei ganz auf ihrer, und nicht auf unserer Seite.

Ja glaubst du denn, das macht mir Spaß. Dir immer wieder hinterherzulaufen?! Dich zu bestrafen!? Glaubst du vielleicht, ich mach das gerne?!

Ich nahm ihr ihre Lügen ab.

Schreihals!

Sie reagierte niemals anders auf mein Sehnen. So blieben meine Schreie und mein verzweifeltes Bemühen in mir ungehört. Deswegen dachte ich, ich sei selbst schuld an meiner Einsamkeit. Und alles würde so gehören, weil ich nur einsam bin, weil ich doch schuld gewesen war; schon immer, an irgendwas. Weil niemals eine Antwort kam.

Und das ist nun der Dank!?

Endlich begreife ich, dass ich ihr niemals etwas schuldig blieb. Dass ich nur schuldig bleiben sollte. Endlich begreife ich, dass ich als Kind ihr gar nichts schuldig war. Ich dachte immer nur, ich müsste meine Tränen und meine Wut und meine Liebe mit meiner Einsamkeit bezahlen. Dass ich die Einsamkeit verdient gehabt hätte. Dass ich nur mit der Einsamkeit die Schuld bei ihr bezahlen könnte. Ich könnte meine Schuld nur mit der Einsamkeit bezahlen. Ich müsste einsam sein, nur unglücklich, allein und ohne Lebensfreude, wegen der Schuld.

Jetzt rennst du mir schon wieder nach. Was rennst du mir denn immer wieder hinterher?! Das ist doch nicht zu fassen.

Ich konnte gar nicht anders, wenn mich jemand behandelt hat, als wäre ich nur Luft. Als wäre ich nur Luft! Endlich begreife ich, wie ich sie dafür hasste.

Musst du so an mir kleben?!

Ich musste ihr ja hinterherlaufen. Ich konnte sie nicht einfach stehen lassen. Endlich begreife ich, dass das die Schuldgefühle waren, die mich so umgetrieben hatten. Ich wollte etwas bei ihr gut machen. Ich dachte unentwegt, ich müsste etwas bei ihr gut machen. Deswegen rannte ich ihr hinterher. Ich wollte nicht verletzt bleiben. Ich wollte nicht verletzbar sein mit meiner Schuld. Ich wollte doch nicht immerzu verletzbar sein. Ich wollte nicht verletzt werden. Ich wollte nicht von neuem wieder nur beschimpft und wieder nur beschuldigt werden. Ich wollte etwas bei ihr gut machen, und wusste nicht mal was. Deswegen rannte ich ihr hinterher. Ich wollte mich entschuldigen und wusste nicht einmal wofür. Und meine Mutter, die mich unentwegt beschuldigt, mir unaufhörlich etwas vorgeworfen hatte, wollte gar nicht, dass ich bei ihr was gut machte. Sie wollte gar nicht, dass ich etwas gut, noch dass ich was bereute.

Endlich begreife ich den Schmerz und meine Wut und meinen Zorn. Sie konnte gar nichts anderes mit sich und mir anfangen. Nur mich bestrafen und beschämen und beschuldigen. Was anderes kam bei ihr nicht in Frage. Was anderes kam bei ihr gar nicht vor. Deswegen fühlte ich mich schuldig. Endlich begreife ich, dass ich ihr gar nichts anderes hätte geben können, als Schuldgefühle. Weil sie nichts anderes für mich empfand.

Ich konnte mich bei ihr nur schuldig fühlen.

»Weil ich«, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.«

Franz Kafka Ein Hungerkünstler

Ich konnte mir in meiner Not und der Verzweiflung gar nicht anders helfen, als mich und jeden anderen zu schimpfen und zu beschuldigen. Ich hatte keine andere Wahl. Weil mir nichts anderes eingefallen ist, weil ich als Kind in meiner Not, nur so behandelt worden war.

Was bildest du dir ein?! Meinst du vielleicht du bist allein auf dieser Welt?! Wie kann man nur so schreien und so laut sein?!

Ich war doch vom Gefühl her niemals ohne Schuld bei ihr.

Das bildest du dir doch nur ein!

Ich wusste schließlich nicht mehr, ich fühlte schließlich nicht mehr, warum ich so dermaßen wütend war. Ich wusste schlichtweg nicht mehr, wer schuld gewesen war, an meinen Tränen und meinem Schmerz und der Verzweiflung und der Einsamkeit. Ich selbst vergaß den wahren Grund für meine Tränen und die Wut.

»Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hungern bewundert«, sagte der Hungerkünstler. »Wir bewundern es auch«, sagte der Aufseher entgegenkommend. »Ihr solltet es aber nicht bewundern«, sagte der Hungerkünstler. »Nun, dann bewundern wir es also nicht«, sagte der Aufseher, »warum sollen wir es denn nicht bewundern?« »Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders«, sagte der Hungerkünstler. »Da sieh mal einer«, sagte der Aufseher, »warum kannst du denn nicht anders?« »Weil ich«, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.«

Franz Kafka Ein Hungerkünstler

Sie hatte meine Seele nur mit Schuld und Schuldgefühlen angefüttert. So dachte ich, ich wäre schuldig, es würde außer Schuld gar keine andere Nahrung für mich geben. Und schlimmer noch, wenn ich was anderes, als Schuld probierte, – Jetzt kannst du aber was erleben,- würde die Schuld und meine Angst noch größer davon werden.

Ich kam ohne Beschuldigung und Strafen nicht mehr aus. Ich konnte mich ohne Strafbedürfnis nicht mehr bewegen. Ich konnte mich ohne Beschuldigung nicht mal verabschieden. Ich konnte ohne eine Art Beschuldigung mit nichts aufhören. Ich konnte mich von den Beschuldigungen nicht befreien, mich selbst davon nicht lösen. Sie waren wirklich meine Nahrung. Denn ohne eine Art Beschuldigung wär ich als Kind in meiner Einsamkeit verhungert. Endlich begreife ich das Ausmaß meines Schmerzes. Ohne die Schimpferei der Mutter, dachte ich, muss ich verhungern. Ich würde ohne ihre Strafen nicht auskommen, nicht ohne Strafe überleben können.

Nichts anderes macht unterdrückter Hass, nur Hunger nach Bestrafung. Angriff auf Unschuld und Lebendigkeit. Hunger nach Strafe.

»Nun macht aber Ordnung«, sagte der Aufseher, und man begrub den Hungerkünstler samt dem Stroh. In den Käfig aber gab man einen jungen Panther. Es war eine selbst dem stumpfsten Sinn fühlbare Erholung, in dem so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich herumwerfen zu sehn. Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, daß es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten. Aber sie überwanden sich, umdrängten den Käfig und wollten sich gar nicht fortrühren.

Franz Kafka Ein Hungerkünstler

Endlich begreife ich, nach was sie roch, nach was sie stank, was ich als erstes bei ihr wahrnahm, den Hunger nach Bestrafung; was ich in ihren Augen sah, nach was ihr ganzer Körper roch. Die Ausdünstung. Sie stank förmlich nach unterdrücktem Hass. Endlich begreife ich, warum ich sie nicht riechen konnte. Warum ich sie verschrie. Warum ich sie nicht haben wollte. Warum ich weg, nur immer wieder weg, von dieser Mutter wollte und ihrem Hunger nach Zerstörung.

Sie schimpfte mich, wenn ich nach Liebe rief. Sie tröstete mich mit Beschuldigungen, das lernte ich. Dass die Beschuldigung und die Bestrafung tröstlich sein könnten. Dass die Bestrafung Liebe sein könnte. Endlich begreife ich, dass das nicht wahr sein kann, dass Liebe niemals eine Strafe ist. Weil ich mich damit nicht gestraft fühle. Liebe macht niemals schuldig oder blind.

Ist das dein Dank?!

Du konntest nicht genug von deinen Beschuldigungen und Bestrafungen kriegen. Du wurdest selbst nicht satt von deinem Hass. Dein Hunger nach Bestrafung. Du selbst warst unersättlich. Weil du nicht wusstest, was die Nahrung war, nach der du unaufhörlich fluchtest.

Verdammt nochmal, sei endlich ruhig, sonst bring ich dich noch um!

Es gibt keine Ersatznahrung für die Gefühle. Es gibt gar keine andere Nahrung für die Seele als Gefühle. Es gibt gar keinen wirklichen Ersatz für ein Gefühl. Deswegen habe ich als kleines Kind geschrien und geschrien, weil nichts für meine Seele kam; weil nichts für mich ankam. Nur die Beschuldigung, nur die Bestrafung. Der Ersatz. Die Nahrung, die ich eklig fand, die ich zum Kotzen fand und meiner Mutter, heraus gespuckt, ihr ins Gesicht geschrien habe. Ich spuckte ihre seelenlose Nahrung wieder aus. Mir wurde davon übel. Von ihren Lügen und Bestrafungen. Deswegen schrie ich so, weil es für meine Wünsche und Bedürfnisse nach Liebe keine Nahrung gab. Weil keine Liebe kam. Ich schrie ganz einfach unaufhörlich in mir weiter, weil niemals die Ersatzmutter, mit der Ersatzliebe, zu mir gekommen war.

Ich muss so tun, als hätte mir die Liebe wehgetan. Als würde sie mir wehtun können.

Was hast du denn, dein Vater tut dir nichts, er trägt dich nur herum!?

Was meine Mutter mit mir einst getan hatte, das hört jetzt auf, mir wehzutun. Ich höre nämlich damit auf, mich selbst dafür zu schämen, mich selbst zu strafen, nur zu bestrafen, für meinen Wunsch nach Liebe, für meinen Zorn, der allerersten Äußerung für mich aus Wut nach Liebe, eine Bestrafung und Beschuldigung zu machen.

Als wäre Gier und Sucht, aus Hunger nach Bestrafung, doch nur von mir, zuerst von mir, von einem kleinen Kind gekommen, das habe ich gelernt.

Wie kann man nur so böse sein?!

Ich dachte irgendwann, ich würde sie bestrafen wollen. Als würde meine Wut, mein Hunger nach der Liebe das bezwecken.

Das kannst du dir jetzt selbst zugute schreiben. Hab ich dich nicht gewarnt?! Das hast du nun davon.

Als wünschte ich mir die Bestrafung für die Lebendigkeit und meine Wut und Liebe. Als würde ich mir selbst Bestrafung der Gefühle wünschen, weil ich sie sonst gar nicht ertragen kann.

Siehst du, jetzt ist es gut!

Als wäre die Bestrafung gut. Als würde erst Bestrafung aus mir einen guten Menschen machen. Als könnte sie ein Ausdruck echter Liebe sein.

Ich konnte nicht mehr aufhören, mich immer nur bestraft zu fühlen. Und wusste nie warum. Ich konnte nicht mehr aufhören mit dem Beschuldigen; mich selbst und jedermann.

Ich kann nicht aufhören. Ich kann nicht aufhören mit dem Beschuldigen. Denn, wenn ich aufhöre, dann bin ich ganz allein. Endlich begreife ich. Ich schreie gegen die Beschuldigung. Endlich begreife ich. Ich schreie ganz allein gegen die Einsamkeit. Schuld kommt erst später. Ich kann nicht einmal wissen, weil es die erste Einsamkeit betrifft, dass ich so einsam bin, weil Mutter mich alleine lässt. Ich kann noch nicht vergessen. So jung und klein bin ich. Ich kann noch nichts vergessen. Ich schreie in die Einsamkeit. Ich weiß gar nicht, dass sie das ist, die mich so einsam macht und werden lässt. Endlich begreife ich die Kraft, die Kraft des kleinen Kindes, mit der ich bettelte, gegen die Einsamkeit. Das kleine Kind, das ich einst war, das sich selbst hilft, mit seinem Schrei, ist endlich wieder frei.

Da war nicht nur die Angst bestraft zu werden, sondern der unbewusste Hunger auch danach, mein Hunger nach Bestrafung, dass ich bestrafe und dass ich auch bestraft werde.

Ich wollte als Kind nicht bestraft werden. Das war es aber, was ich mir dann später eingebildet habe, dass ich auch hungrig nach Bestrafung sei. Dass ich Bestrafung bitter nötig hatte. Das brachte sie mir bei. Das Scheußlichste, was jemand einem Kind beibringen kann. Dass es schon immer in mir einen Hunger geben würde nach der Bestrafung. Nur so blockiert man die Gefühle.

Weil ich bestraft werde, weil ich mir insgeheim das wünsche. Ein kleines Kind, das sich Bestrafung wünscht. So dachte ich schließlich. Dass ich bestraft werde, weil ich mir das auch wünschen würde, dass wir die Frösche totgeschlagen haben, weil die sich das doch selbst auch insgeheim gewünscht hätten. Von uns bestraft zu werden. Selbst hatten sie sich zuzuschreiben, was mir mit ihnen taten.

Du legst es wirklich darauf an! Du willst es gar nicht anders haben! Du schreist ja förmlich danach. Du bettelst ja danach, dass ich dir eine runterhaue! Du willst es wirklich wissen!

Dabei hab ich gar nichts gemacht, wie diese Frösche.

Als hätte jeder schließlich das verdient. Und auch verdient gehabt. Endlich verstehe ich den Hunger nach Bestrafung. So schützt ein Kind, wie ich, die Eltern, vor seiner Wut und seinem Zorn und seinem Hass.

Wie sie am Sonntag den gebratenen Hühnern mit der Geflügelschere Beine abschnitt, so kam ich mir in Wirklichkeit auch vor.

Wenn du nicht gleich aufhörst mit deiner Strampelei, reiss ich dir deine Beine aus und schneid ich dir deinen Zipfel ab. Dann kannst du schauen, wo du bleibst!

Dabei riss sie an meinen Beinen, Armen, bis ich schrie.

Ich zieh dich doch nur an. Warum schreist du denn so! Ich tu Dir doch nicht weh!

Der Hunger nach Bestrafung.

Man kann nicht durchs Leben gehen, wenn man niemals bekommt, was man will.

Truman Capote , aus einem interview mit der New York Times, über sein Buch, Kaltblütig

Wie sich das anfühlt, wenn einen eine Mutter nur mit Widerwillen anfasst und berührt, und was ein Kind dabei empfindet, solange es noch fühlen und empfinden kann. Solange ich noch hungerte. Auf ihren Widerwillen angewiesen war. Auch wenn ihr Widerwille mich so schmerzte. Und dass ich dafür gar nichts konnte. Dass sie von Anfang an mich widerwillig angefasst hatte. Dass sie nur widerwillig zu mir kam, nur widerwillig wegging, mich verließ, nie einfach ohne Widerwillen gehen oder wiederkommen hatte können. Dass sie sich widerwillig mit mir einließ. Endlich begreife ich, dass das nicht meine Schuld, noch meine Absicht war. Sondern ihr Hunger nach Bestrafung.

Dass ich das unablässig von ihr lernte. Wie ich mich später niemals ohne einen Zweifel und Widerwillen fortbewegen konnte, ohne den Hunger nach Bestrafung. Dass ich den Hunger in mir trug und mit mir schleppte, wie eine Illusion, von einer verlorenen Heimat, vermeintlich Paradies. Und dass ich meinen Körper, einzige Heimat, nur schützen hatte können, indem ich log und mich verschrie und damit leugnete, wie schrecklich einsam ich gewesen war.

Der Hunger nach Bestrafung, um zu bestrafen und bestraft zu werden.

Verlassen werden und verlassen, aus Hunger nach Bestrafung, um scheinbar die Kontrolle über die Einsamkeit selbst zu bekommen. Über Erinnerung. Um dies nie wieder zu empfinden, wie sich das angefühlt hatte, bei meiner Mutter und ihrem Hunger nach Bestrafung, nicht zu entkommen können. Endlich begreife ich, dass diese Einsamkeit nie wieder kommt, nie wieder kommen kann, weil ich mit sämtlichen Gefühlen nicht mehr allein sein kann.

Endlich verstehe ich, ich muss mich selbst nicht mehr bestrafen und bestraft fühlen, wenn mich wer angreift und verletzt, mit seinen Hungerspielen. Ich kann jetzt wütend werden.