Texte von Hugo Rupp

Der Glaube an die Eltern

 

Ich kann mich selbst nicht mehr ertragen. Ich sehe meinen Vater gleich und muss ihm in die Augen schauen. Ich sehe meinen kranken Vater. Ich will ihn nicht mehr sehen. Er ist im Krankenhaus. Sein Blinddarm ist geplatzt. Sie haben Eiter aus dem Bauch, beinah wäre er vergiftet worden, sagt die Mutter immer wieder. Beinah, beinahe. Ich will auch sie nicht sehen. Ich hab sie in der Nacht gesehen, als sie ihm seinen Schweiß getrocknet hat, und er geschrieen hat. Er hat immer nur gejammert und sie hat ihn gepflegt. Sie hat ihn auch berührt. Sie hat ihn angefasst und hat sich nicht vor ihm geekelt. Er hat die halbe Nacht geschrieen und sie ist neben ihm gesessen und hat auch seine Hand gehalten. Sie hat ihm seinen Schweiß von seiner Stirn getupft und seine Haare glatt gestrichen. Sie hat ihn zwischendurch besänftigt, dann ist er wieder laut geworden und hat geschimpft. Sie hat mich dann auch weggeschickt, dass ich nicht länger störe. Sie hat mit ihm geredet, wie ich sie niemals vorher reden hörte. Sanft wie ein Engel aus dem Fernseher. Sie redet so mit ihm und er wird wirklich ruhiger.

Ich mag den Vater nicht mehr sehen. Ich freu mich nicht, dass er am Leben ist. Ich soll mich freuen, tue es aber nicht. Ich habe euch gesehen und weiß jetzt was ihr seid. Ihr seid nicht meine Freunde. Ihr seid nicht so zu mir, wie ihr zu euch seid. Ihr seid nie zu mir, wie ihr euch seid. Ihr seid nicht meine Freunde.

Ihr ekelt euch vor mir, wenn ich krank bin und schwitze, dann ekelt Vater sich vor mir und Mutter zeigt auch immer Ekel. Sie hustet, wenn ich huste, sie rümpft die Nase, wenn ich niese. Sie tut, als wäre ich der Ekel selbst, der sie ansteckt. Sie hat mich nicht gemocht. Sie mochte mich nicht leidend.

Sie rührt mich niemals ohne Zweifel an, in ihrem Tun mit mir liegt für mich Ekel. Sie mag Vater. Sie mag ihn, wenn er krank ist und sich schindet. Sie kann ihn so ertragen, dass niemand glauben mag, dass sie bei mir der Ekel überkommt. Wenn sie mich wickelt, wenn sie mich bindet, wenn sie mit ihren Fingernägeln kommt, wenn sie mich in mein Bett dann legt, ist immer Abwehr in den Gesten. Sie ist die Abwehr selbst, sie ist der Ekel im Gesicht. Sie ekelt sich vor mir und meinen Äußerungen. Ich ekle mich vor mir, das ist es, was ich lerne. Ich ekle mich vor meinem Körper.

Ich sehe, dass sie Mitleid mit dem Vater hat und dass sie sich um ihn kümmert. Sie sieht ihn ohne Eile an. Das gibt es nicht bei mir. Sie sieht ihn an und sagt kein Wort. Das gibt es nicht bei mir. Sie macht dem kranken Vater keine Vorwürfe. Sie macht ihn auch nicht schuldig. Sie sagt nicht, dass er selbst an seinen Schmerzen schuldig ist. Sie sagt nicht, was sie immer zu mir sagt. Sie redet nicht von, wirst schon sehen, und bald ist alles anders, und bald ist alles Sonnenschein, und bald ist wieder alles besser. Sie redet ihm nichts aus, wie sie das bei mir macht. Er flucht und sie erkundigt sich nach seinem Hunger. Er fasst den Bauch nicht an. Der Bauch ist hart und sie erschrickt. Steinhart ist jetzt sein Bauch. Er will den Arzt nicht holen. Nicht in der Nacht, auch wenn die Schmerzen unerträglich sind, der Arzt wird nicht geholt. Das war schon immer so. Der Vater ist im Krieg gewesen. Ich halt das aus, sagt er. Ich halt das aus. Ich will das nicht ertragen, denke ich. Ich will das nicht ertragen, was der Vater trägt. Ich will nicht wie mein Vater werden. Ich will nicht sein wie er.

Ich kann mich selbst nicht mehr ertragen und fühl mich jämmerlich und habe Angst vor meinem Vater. Wie er die Schmerzen selbst anschreit und sie verjagen will, das habe ich noch nicht gesehen. Ich habe Angst vor ihm, nicht dass er stirbt. Ich weiß nicht, was sein Tod bedeutet. Er war noch niemals tot. Er war noch nie ganz weg gewesen. Ich wünsche nur, er wäre tot. Doch richtig tot ist er noch nie gewesen. Ich habe Angst vor meinem Vater.

Im Krankenhaus

Ich sehe Vater, wie er liegt und lächelt, wie er jetzt wie ein Engel lächelt. Wie Mutter vor paar Tagen in der Nacht bei ihm. Sie lächeln sich jetzt an. Ich stehe da und soll mich freuen.

Freust du dich, dass es deinem Vater wieder besser geht, fragt sie.

Ich nicke nur. Ich sehe seine Zähne, sie sind wie immer scharf. Ich sage nichts. Ich rede nicht. Ich kann nichts zu ihm sagen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er hat mir niemals was gesagt, nachdem ich einmal krank gewesen bin. Er hat niemals mit mir nur einmal über einen Schmerz gesprochen. Ich kann ihm jetzt nichts sagen. Sie mag das nicht, dass ich nichts sage. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll, in diesem weißen Zimmer, an seinem weißen Bett, und sein Gesicht ist weiß.

Er hat schon wieder Farbe, sagt Mutter später.

Ich fürchte sie. Sie redet wieder anders. Sie redet nie, was ist, wie jemand aussieht und auch ist. Sie redet immer alles anders. Sie redet niemals was ich sehe. Sie redet niemals wahr, auch über ihn nicht. Sie redet scheinbar immer nur für ihn. Für mich nur, wie er sein könnte. Nie, wie er ist. Sie redet immer nur vom Bessern und von morgen. Sie redet nur für ihn. Sie redet wie von einem bessern Menschen. Sie redet ihn mir schön. Das hat sie immer schon getan. Sie redet seine Schläge schön. Sie redet seine Strafen schön. Sie redet alles schön. Für mich, sagt sie, zu deinem Besten. Sie tut, als wäre das für mich. Das ist es nie gewesen. Es macht mich unglücklich. Es macht den Vater schön, und lässt sie auch schön aussehen. Doch mich macht ihre Sicht ganz krank und einsam, weil niemand meinen Vater sieht, wie er mir ist, wie er sein kann, wie er auch ist.

Der kranke Vater ist der schlimmste Mensch für mich. Er jammert und er schreit und wird dafür getröstet. Sie spricht besänftigend zu ihm. Sie hält auch seine Hand. Sie streicht auch seine Wange. Er kriegt, was ich nie hatte, ihr Mitgefühl, ihr Mitleid und den Trost, die Nähe ihrer Haut und einen Menschen, der da ist, wenn er sie braucht. Sie kommt zu mir nie rechtzeitig, und ist auch immer wieder weg. Sie blieb nie da, sie bleibt nicht, wenn ich sie nötig habe, wenn ich sie rufe, wenn ich nach ihr als kleines Kind nur rufe. Sie ist für mich nicht da gewesen. Das sehe ich im Vater auch. Das fühle ich im rechten Fuß. Mein rechtes Bein ist unruhig. Es sucht im Schlaf nach dem Kontakt. Mein rechtes Bein ist immer auch gewinkelter, ist seitlich auch verdrehter. Ist abgewinkelter und auch gebogen. Ich wusste nie warum. Warum ist ein Bein unruhiger. Warum ist das mein rechtes Bein? Die Mutter kam oft nachts zu mir, wenn sie mich nicht alleine lassen wollte. Das sagte sie. Sie kam jedoch zu mir, weil sie vor seiner Nähe, vor seinem nahe kommen floh, floh sie zu mir und neben mich. Ich musste mich dann an die Wand hindrehen, damit sie in meinem Bett ihre Ruhe finden konnte. Sie sagte das so. Bei jeder leisen Drehung, Wendung, Rührung von mir, schreckt sie schon zusammen und rückt weiter bis zur Kante vor. Sie weicht bei jeder Drehung und zufälligen Annäherung aus, automatisch, schreckhaft. Sie zuckt bei jedem Mal, wenn ich nur huste. Sie will nur ihren Frieden und lässt mich nicht in Ruhe schlafen. Ich suche immer wieder eine Nähe für meine Füße, die Wärme jedenfalls. Die Zärtlichkeit auf jeden Fall. Doch Mutter zuckt, sie tut nur immer wieder gleich erschreckt. Als wäre ich von immer wieder neuem, nur immer wieder neuerlich ein Fremder. Ein Fremder, den man nicht berührt. Als wären meine Beine fremd und meine Zehen ebenso, als wären meine Knie auch fremd, als wäre alles an mir fremd, das ihre Nähe sucht. Ich suche noch Jahrzehnte später, allein in jeder Nacht mit meinem rechten Bein nach Nähe. Nach einer Art Berührung, die mich bestätigt, die meine Suche anerkennt, nach Nähe und Geborgenheit und jener Zärtlichkeit, die ich wie jedes Kind, so nötig habe. Ich suche nach der Nähe.

Mein rechtes Bein ist jenes, mit dem ich sie am liebsten aus dem Bett vertreiben würde. Mein rechtes Bein ist jenes, das sich nach ihrer Nähe sehnt. Mein rechtes Bein hält beides fest. Die Wut und auch den Wunsch, dass sie doch einmal auch bei mir, in meiner Nähe, mir nahe kommen wird.

Das friert mich ein und hält mich fest umwickelt. Die Unentschiedenheit, was ich nun lieber habe. Sie friert doch jeden Wunsch nach Nähe ein und antwortet nur mit Erschrecken. Sie kommt zu mir und wird zu Eis. Ich musste dieses Eis auch mögen. Es war das einzig mögliche. Ich lernte mich erkälten, wenn ich nach Wärme suchte.

Ich suchte später nur im Eis die Wärme. Ich sah das Eis in allen anderen und suchte dort die Wärme unaufhörlich. Ich suchte Mitleid bei den Toten. Ich unterhielt mich mit den Steinen. Ich unterhielt mich mit den Winden. Ich bin fast Stein, fast Wind, beinahe Toter auch geworden. Ich wurde flüchtig wie ein Wort. Ich konnte nicht verharren. Es ging nicht. Ich musste doch die Wärme finden.

Ich fand mich selbst als Zeuge wieder.

Nichts hilft, das muss ich ständig aufbewahren. Nichts hilft, nichts weckt ihr Mitgefühl. Das spüre ich und gehe in die Nacht um wieder aufzuwachen, um mich allein zu finden, nur immer wieder nur allein, in meinem Elternhaus.

Sie hat für mich nichts übrig, was sie für ihn doch hat. Ich lerne ihre Eifersucht, ich lerne ihr Verhalten. Er hat nichts für mich vorrätig, was meinen Wunsch nach ihm und seiner Nähe nun erneuert. Ich habe nichts für ihn, das mich ihm näher bringen könnte. Wir sind nur tote Bretter. Wir liegen auf dem Stapel. Uns trennen kleine Hölzer, damit wir uns nicht schaden.

Ich gehe an den Rand und sehe hier die Nacht. Hier bin ich. Nicht Vater und nicht Mutter, nur ich, der Wütende, das Vogeljunge, das Kind der Vogelhändlerin und Sohn des Vogelfängers. Ich öffne meinen Schnabel, ich suche selbst nach Nahrung. Ich war gestutzter Vogel. Nur meine Wut lässt meine Flügel wachsen. Nur Zorn gibt mir den Mut zurück, nicht länger dort zu warten, wo keine Nahrung für mich ist, wo ich nicht wachsen kann.