Texte von Hugo Rupp

Der Bruch

 

David Dambitsch: Ich denke, Überleben, um Zeugnis abzulegen, war auch Widerstand.

Gad Beck: Das klingt wunderbar, was Sie sagen. Das ist genau die Formulierung, die auch Hannah Arendt zum Schluß benutzt hätte. Es widerstrebt mir nicht, diesen Gedankengang zu akzeptieren – leider hat er zu der Zeit, in der man das tut, in der man widersteht, gar keinen Sinn.

Aus: David Dambitsch, Im Schatten der Shoa, Gespräche mit Überlebenden und deren Nachkommen

Ich hielt die linke Hand immer gebeugt und machte damit unbeholfene Fäuste, als würde ich nicht wissen, wie das geht, die Faust, noch wie man Finger spreizt und krümmt und dass ich sie auch strecken und verbiegen kann. Sie hat mir alles aus der linken Hand genommen und meine Finger auch gebissen, wenn ich was anfasste, was ich nicht anfassen sollte. Sie schlug mir auf die Finger. Sie tat mir weh, indem sie meine Finger zusammendrückte.

Ich rührte später fast nichts mehr an. Ich hatte Angst etwas nur zu berühren, weil meine Mutter mir doch dafür auf meine linke Hand geklopft und meine Finger so gedrückt hatte.

Deswegen dachte ich dann später immer nach, wenn meine Mutter ihre Finger drückte, dasaß und vor sich hinstarrte. Wenn sie gedankenlos in ihren Fernseher hineinblickte, doch ihre Finger gaben niemals Ruhe. Als müssten sie nach weh tun suchen. Mutter war das, die mir, noch vor dem Vater, meine Finger immer wieder verdrehte und verbog, wenn ich mit ihnen etwas gerne tun wollte. Sie nahm mir aus der Hand, was sie nicht haben wollte.

Und mit dem Zorn verstand ich erst die Traurigkeit, die in mir all die Jahre überwintert hatte. Egal zu welcher Tages und auch Jahreszeit, da war Verlust in mir, wie eine große Bürde, eine Last, zu groß für mich, um sie alleine wieder loszuwerden. Es gab bei meinen Eltern keinen Ort und keinen Platz, wo ich mich traurig fühlen hätte dürfen.

Ich hatte keine Zeit zu trauern und zu fühlen. Ich durfte nichts verlieren und verloren geben. Ich hatte keine Zeit zu heilen. Sie ließen mich nicht einfach weinen. Sie ließen mich nicht einfach aus. Unfassbar grausam ist das für ein Kind, wenn es nicht einmal ohne Vorwurf leiden kann. Dass ich nicht einmal ohne Vorwurf oder Nachfrage, mich um mich selbst bekümmern hatte können. Ich sollte überhaupt nicht traurig sein und wütend werden.

Es ist leider so, die verlorene Kindheit lässt sich nicht mehr retten, aber dafür das ganze restliche Leben, und das ist doch viel, nicht wahr?

Alice Miller, aus der Antwort auf den Leserbrief, Ich möchte Ihnen aus tiefem Herzen danken!
Sonntag 20 Oktober 2007

Die Trauer in den Beinen loswerden. Die Würde, mein Empfinden endlich wieder finden. Die Knie auch wieder durchdrücken und für mich selbst aufstehen und mich aufrichten.

Ich habe das solange nicht verstanden, dass ich nur Angst vor den Gefühlen hatte, weil sie mich doch verflucht hatten, dass wenn Gefühle in mir auftauchten, die Mutter und der Vater mich sogleich damit verflucht hatten. Sie hatten mich verflucht, weil ich noch fühlen konnte.

Der Rosenkranz

Ich kniete nieder und nahm die Schellen, klingelte damit, dann wurde mir so schlecht und schwindelig, doch etwas in mir hob mich an und ließ mich augenblicklich wegrennen.

Die andern blieben knien; und beteten.

Ich rannte Richtung Sakristei.

Wie Wut und Zorn gemeinsam kämpfen.

Nie um mich trauern und mich wehren dürfen, wenn mir was plötzlich fehlte, wenn jemand ein für alle Mal verschwand, wenn jemand nicht mehr wiederkam und nie mehr wiederkehren würde. Was ich dabei empfand, war nie erwünscht gewesen. Verlust zu fühlen war verboten. Ich sollte nicht nachtrauern. Ich sollte mir nichts wieder wünschen, das aussichtslos erscheint. Ich sollte keine Hoffnung wagen. Ich wollte doch nach nichts mehr suchen, was meine Eltern hassten, was den Verlust beschreibt. Ich sollte doch Verlust verschweigen und verleugnen.

Ist denn das nie vorbei!? Geht denn das immer weiter so!? Dein Jammern ist ja unerträglich. Wenn das so weiter geht mit dir, wirst du ein echter Jammerlappen werden.

Sie kannten keine Gnade und so entwürdigten sie meine Trauer und den Zorn. Damit entwürdigten sie meinen Widerstand und meinen Mut, mich gegen den Verlust mit Zorn und Trauer aufzulehnen.

Ein Kind das trauern kann und zornig wird, hat keinen Kloß im Hals, es muss auch keinen für sich dort behalten.

Der Rosenkranz

Beim Beten, Niederknien und Bücken in meiner Ministrantenuniform wurde mir übel, schlecht und schwindelig, so dass ich aufstand und in die Sakristei verschwand, mich aber nicht hinsetzen wollte, sondern mich zwang, aus diesem hohen Fenster nun zu schauen, das so mit Eisen noch vergittert war, als wäre das hier ein Gefängnis. Der Schweißausbruch, Kurzatmigkeit und eine Leere ohne gleichen und der Geruch von Weihrauch und überall die Dinge, Spuren, Bilder, Anbetung eines Gottes und seiner Lehre, und nichts half mir davon.

Nur raus aus dieser Kirche und weg von den Beschuldigern. Sie machten dort das gleiche, was ich von Anbeginn von meiner Mutter und von meinem Vater hören hatte müssen. Unwürdig sein zu müssen und das auch noch begrüßen und befürworten und immer nur bejahen.

Warum bin ich denn unwürdig? Warum sollen alle unwürdig sein? Und warum unternimmt niemand etwas dagegen? Warum will Gott, dass alle nur unwürdig sind und unwürdig auch bleiben?

Damit er uns bestrafen kann und wir nicht böse auf ihn werden.

Unwürdig sein, das sollte ich für meine Eltern sein und bleiben. So konnten sie mich strafen und selbst guten Gewissens sein. Unwürdig musste ich für meine Eltern sein. Sie konnten mich bestrafen und dabei fröhlich sein und lächeln nach den Strafen. Sie machten sich und einem Gott doch damit eine Ehre.

Der Rosenkranz am Nachmittag, den habe ich ein einziges Mal ministriert. Bis mir so schlecht wurde. Von diesen Worten, die sich andauernd wiederholten, und alle Frauen und ein paar Männer, die anwesend waren, die beteten sie nach und wiederholten sich so immer wieder; von Qual und Grausamkeit beseelt und immer wieder grausam sein und das begrüßen und erdulden. Ohne zu wissen, was das war, wurde mir kniend übel. Ich wurde traurig, wütend und entsetzlich einsam. Etwas in mir hörte die Worte mit, die ich schon immer hören hatte müssen, von Schuld, unwürdig sein, unschuldig schuldig sein und ewig schuldig bleiben müssen. Unwürdig war ich wieder nur und würde ich auch ewig bleiben. Und immer wieder Vater unser. Und die Barmherzigkeit der Jungfrau Mutter Gottes und niemals wurde jemand unschuldig und niemals spürte ich so was wie Liebe. Sie redeten davon und blieben alle grausam stumm im Angesicht eines Gekreuzigten, den noch dazu sein Vater hatte richten lassen.

Die Würde will sich schützen.

Sie würdigten gar nichts. Sie machten mich nur immer schuldig. Nicht einmal meine Tränen waren für sie würdig oder glaubwürdig. Unwürdig war ich für sie.

Ich sollte meine Eltern respektieren und bewundern.

Nichts was ich äußerte, war für die Eltern wichtig, würdig. Für meinen Vater und die Mutter, war nur Gehorsam wichtig. Sie würdigten gehorsam sein und blind vertrauen. Wie einsam muss ein Kind unter Erwachsenen wohl sein, die keine Offenheit und Freiheit kennen. Ich sollte meine Eltern respektieren und bewundern. Sie wollten respektiert, bewundert werden, und taten mir das Gegenteil fortwährend an. Sie malträtierten und zerstörten meine Würde und sie verlangten von mir, dass ich sie respektierte.

Ich musste mich unwürdig zeigen, als unwürdig erweisen. Unwürdig war ich für sie, denn ich verdiente keine Würde und keinerlei Respekt, weil ich doch schrie; als ich Verlust noch fühlen konnte.

Was die Verachtung immer wieder schädigt, die Würde eines Kindes, den Wert, der jedem Neugeborenen beisteht, als Schutz, Einmaligkeit des Wesens unter Gleichen.

Die Eltern griffen immer wieder meine Würde an. Sie stellten mein Gefühl in Frage, als ich so wütend war, voll Schmerz und zornig wurde wegen ihrer Strafen, die gegen meine Würde waren. Sie straften und zerstörten immerfort die Würde meines Lebens. Ein kleines Kind, das sich nicht lieben lernen darf. Ein kleines Kind, das sich nicht wütend kennen lernen darf. Ein Kind, das sich nicht wehren darf, muss schließlich sich selbst abwehren.

Sie konnten alles auslachen. Sie griffen an und machten lächerlich, was für mich wichtig war. Sie attackierten meine Würde. Sie griffen meine Wichtigkeit, die Würde für mich selbst, nur immer wieder an.

Mit Zorn verteidigt ein Kind seine Würde.

Ich kniete nieder und nahm die Schellen, klingelte damit, dann wurde mir so schlecht und augenblicklich schwindelig.

Sich selbst unwürdig sein zu denken, und sich unwürdig auch zu fühlen, bedeutet, strafen und bestraft werden, niemals zu hinterfragen. Strafen an Unschuldigen auszuüben, den Kindern Strafen und bestraft werden, nur widerspruchslos zu vererben. Gewalt weiterzugeben und nie nach einem Schmerz und in der Not, der Trauer und der Forderung nach Zorn, in sich auch nachzugehen und zu spüren, wie viel an Schmerz doch Wut auslösen kann. Mit Zorn versucht ein Kind sich seine Würde zu erhalten. Es kämpft damit mit seinem Zorn.

Wer sich unwürdig fühlt, der kann sich gar nicht wehren. Wer sich unwürdig fühlt, der lässt sich stumm bestrafen. Der lässt sich auch abtöten.

Wer uns die Kindheit stahl, dem sollten wir vergeben und vergessen, wie weh das tat. Verlust der Würde in der Kindheit sollten wir verleugnen. Wir sollten den Verlust der Würde dort auch nicht begreifen. Wir sollten doch so früh schon unsere Würde nicht ergreifen. Dass wir damit gekämpft hatten, mit unserm Zorn. Für uns und unsern Wert, für unsre Liebe, unser Leben.

Ich hatte immer Angst, dass mir etwas genommen wird, von einem Augenblick zum anderen. Dass mir etwas genommen wird, ohne dass ich etwas davon bemerken würde. Später, dass plötzlich alles Geld weg ist, dass alles was ich habe, plötzlich fehlt, dass mir gekündigt wird und dass ich aus der Wohnung fliege, oder im Zug sitzend, dass jemand kommt und mich rauswirft, dass mich jemand verhaftet, oder ganz einfach anspuckt im vorbeigehen, oder von hinten niederschlägt, mich liegen lässt und mich vergisst. Dass ich nicht nur in einem Alptraum wohnen würde, sondern dass ich ein Alptraum bin. Dass ich nichts wiederfinden werde, was mir gehörte. Dass ich mich schließlich selbst vergessen würde und ohne Sinn und Richtung bin; vergangen, abgestorben und vergessen. Dass schließlich mein Bewusstsein fehlt. Im eignen Kopf nicht mehr zu Hause, so fühlt sich das für ein Kind an, wenn seine Würde angegriffen wird, wenn es sich fürchten muss, noch seinen letzten Rest an Würde zu verlieren. Die Würde, die sein Leben retten möchte.

Zum ersten Mal seit meiner Kindheit, als ich so zornig gegen meine Mutter war, fühle ich Unschuld, wie ich tatsächlich einmal wirklich war. Mein Schmerz hatte mich nicht vergessen. Die Eltern hatten mich verraten, und ich dachte fortwährend, dass sie mir gar nicht helfen hatten können. Ich nahm das dann den Eltern ungefragt auch ab, dass sie die Not gar nicht bemerkt hätten. Ich machte mir das scherzhaft immer später schmackhaft, sie hätten nichts bemerkt. Haha! Sie hätten mir doch gar nicht helfen können.

Doch das ist gar nicht wahr. Sie trafen immer eine Entscheidung. Mich schreien und alleine, mich so veröden und absterben lassen. Da war kein Widerstand in mir. Nur Schmerz und Unverstand und Hoffnungslosigkeit über mein Schicksal. So wurde ich wie meine Eltern ein Blindgänger.

Doch heute ist der Zorn und meine Wut auf meine Eltern möglich. Ich habe kein Verständnis mehr für ihr Verhalten.