Ja siehst du schon Gespenster, sagten sie, wenn ich zusammenzuckte und erschrak.
Ich meinte dann, dass ich Gespenster sehen sollte, wenn ich mich vor den Eltern fürchtete. Ich wusste nicht, was mich nur immer kleiner machte und in die Knie auch zwang, was mich verkrümmte und verschraubte, was sich wie Eisenstaub in meine Lungenflügel setzte und mich am Boden hielt. Es hatte sich was festgesetzt in mir, was mich dann ausgerichtet hat. Als wären in mir Geister und Gespenster, die einen eigenen und für mich fremden Kompass für ihr Verhalten hatten. Ich tat gar nichts dafür. Ich tat auch nichts dagegen. Es schien mich etwas in mir abzuwehren. Ich wusste nicht wofür.
Wir bilden einen Kreis. Der Vater und die Mutter und der Nikolaus und ich. Wir bilden einen unsichtbaren Raum, den unsichtbaren Grenzbezirk, mit unsichtbaren Mauern aus unsichtbarem Stahl, mit unsichtbaren Fallen, die einen Flüchtigen auch sofort flüchtig melden. Die einen Fluchtgedanken meiden und wenn er dennoch kommt, mit Schuld und Scham verfolgen. Du bist nicht frei, du wirst es niemals sein, ich kriege dich, egal wo du auch bist, ich suche dich an jedem Ort der Welt dann heim und werde dich dann selbst bestrafen. Die Selbstbestrafung bin ich selbst. Ich füge mir die Wunden zu, die ich nicht einmal sehen kann. Ich füge mir selbst Wunden zu von denen ich selbst gar nichts merke. Ich füge mir unsichtbar Wunden zu, Verletzungen die ich nicht zeichnen kann, die sich selbst nicht bezeichnen. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist unsichtbar. Ich sehe was, was es nicht gibt und was ich auch nicht fühle. Freiheit. Die sollst du niemals kriegen und erreichen.
Der Vater lächelt wieder. Die Mutter schaut ganz heilig. Der Nikolaus ist da. Wir stehen hier im kleinen Kreis. Er liest aus seinem Buch der Sünden vor und liest, dass ich dem Vater weggelaufen bin. Dass ich ihm einfach weggelaufen bin. Und das soll ich gefälligst lassen. Ich soll nicht einfach weglaufen. Da wird ein Vater böse. Da muss ein Vater böse sein, wenn sein Sohn einfach wegläuft und ohne was zu sagen. Da muss ein Kind für Schläge dankbar sein, dass Vater richtig böse werden kann. Dass er auch böse werden kann. Das hast du nicht gewusst?! Dass er auch wirklich böse werden kann, wenn das nochmal passiert, dann nimmt Knecht Ruprecht dich und steckt dich in den Sack und schlägt dich auf den Hintern. Der schlägt dich windelweich und gibt dich nicht mehr her. Wenn du nicht tust, was er dir sagt. Egal was das auch immer sei. Dein Vater macht sich schließlich Sorgen. Die Mutter ganz allein zu Haus. Sie werden nicht mehr froh, wenn du dann weg bist, bleibst verschwunden. Dann werden deine Eltern nicht mehr froh. So darf man seine Eltern nicht behandeln. So soll kein Kind zu seinen Eltern sein, einfach so wegzulaufen. Wo ist er denn, hat Vater dich gesucht, mit diesen Worten. Wo ist mein kleiner Hugo. Und wie der dich dann endlich auch gefunden hat, dann war er so erschrocken, wie du doch ganz allein am Hang gestanden hast, da hat er dich geschlagen. Dein Hut ist weggeflogen. Der Vater lächelt und die Mutter lacht. Der Nikolaus weiß einfach alles. Er weiß wie das geschehen ist, er weiß im Grunde alles. Er sagt es meinen Eltern immer wieder. Sie nicken so als hörten sie das jetzt zum ersten mal, was sie gedacht, was sie gehofft, was sie sich auch von diesem heiligen Mann gewünscht hatten. Er spricht zu mir, mir ins Gewissen, dass so etwas nie mehr geschieht, dass ich dem Vater nicht mehr weglaufe. Ich darf das nie mehr wieder tun. Sonst stirbt die Mutter voller Gram und kriegt auch graue Haare. Dann wird die Mutter, die so schön ist, hässlich, und Vater wieder böse. Er muss dann wieder böse werden. Der Vater wird dann wieder böse. Die Mutter krank und alt und Vater böse. Das weiß der Nikolaus. Was auch passiert. Er weiß was kommen wird, was auch passiert. Er wusste alles ganz genau, was dort am Berg geschehen ist.
Ich wusste plötzlich nichts von mir. Das ist sehr schwierig zu erfassen, weil ich tatsächlich gar nichts wirklich wusste, weil Vater, Mutter, Nikolaus doch alle immer nur das gleiche sagten, und ich nur sagen sollte, sagte, dass ich das nie mehr wieder tun würde; einfach verschwinden, einfach davon zu laufen, nicht Rücksicht nehmen auf den Vater und die Mutter.
Was ich tatsächlich nicht verstand seit der Herr Nikolaus in meinen Kopf und den der Eltern auch geschaut hatte, war, was er dort nicht vorfand, was scheinbar niemand wirklich sah, was niemand je dort sehen konnte, wie sie mich dabei angeschaut, wie sie mich mit den Augen ständig dabei angestarrt hatten, wie sie mir drohten, wie sie mich warnten und verwarnten, wie sie mir Unheil anhängten und Unheil mir an meine Fersen hefteten, wie sie mir Unglück anbanden an jeden Schritt, den ich seitdem dann machte, weil sie mich für das Leid und das Verwelken meiner Mutter und für den Tod und die Verwandlung meines Vaters verantwortlich gemacht hatten.
Wenn etwas böses überhaupt passiert, dann nur, weil ich nicht immer folgte. Wenn ich den Worten meiner Eltern und denen dieses Heiligen nicht Folge leisten wollte, wenn ich nur überhaupt in meinem Kopf das hinterfragte, was sie mir und der Mann im blauen Mantel mit den Sternen, mit einem Buch aus Gold und seinem Stab, der mich wohl überall erreichen und damit auch verprügeln würde können, gesagt, in mich gesprochen hatten. Wenn ich nicht zeigen würde, was sie von mir verlangten, dann würde niemand wieder froh werden. Wenn ich weggehen würde, allein, nur ich, und ohne meine Eltern.
Ich drehe, wende alles immer wieder und komme mit der Sicht der Eltern und des Nikolaus kein bisschen weiter. Ich sehe doch, was ich nicht sehen und nicht spüren und nicht erkennen konnte, weil keiner dort im Kreis und auch dann später außerhalb auf meiner Seite stand. Weil niemand mich gesehen haben wollte, wie auch kein andres Kind, das so geschlagen und betäubt, beredet und verflucht wurde.
Wenn Vater böse wird und Mutter traurig, dann bin ich daran schuld. Ich reite immer wieder darauf rum, weil ich doch mein Gefühl dabei niemals begriffen habe. Ich war dort ganz allein. Kein Hase und kein Igel. Kein Grashalm und kein Busch der mir noch Deckung geben konnte. Am Berg und später war ich ganz allein mit dem was ICH erlebt hatte. Ich träumte später, meine Füße wären ganz zerschnitten und übersät mit Schnittmalen und an den Fersen tiefe Wunden. Die Wunden rot, an ihren Rändern eingerissen, von Steinen und Rasierklingen. Als könnte ich mich immer nur von außen sehen und immer nur sichtbare Wunden. Und niemals innerlich auch fühlen, das was sich nur in mir befand und unverändert immer noch befindet. Ich hatte das Gefühl der größten Not, ich müsste immer nur was sichtbar war, was sichtbar sein würde, was sichtbar und erfahrbar für die Eltern war und diesen Heiligen, auch fühlen und erfahren. Ich hatte diese Not, dass nichts, was sich in mir befand, jemals für mich erfahrbar und erlebbar sein würde, weil niemand das vernehmen, hören, sehen, fühlen konnte. Dass das allein in mir verborgen bleiben muss und für mich selbst am allermeisten, sonst würde Vater böse und Mutter müsste auch an Kummer sterben. Mein Innenleben, mein Gefühl, das wäre schließlich schuld daran, wenn meine Eltern hier zugrunde gehen würden. Für mich und wegen mir. Ein Kind im Alter von zwei Jahren und vier Monaten. Was hatten sie mir doch für Macht verliehen. Die ich für mich anwenden sollte. Mit dieser Macht, das wusste ich natürlich nicht, da sollte ich mich selbst zurückhalten, mich immer nur verstecken und verbergen. Der Sohn, der weg und dann verloren geht, der schuldet seinen Eltern alles. Ich würde alles nur verschulden, wenn ich nicht meine Eltern sehen würde, was sie mit mir erdulden mussten. Ich bin die Aussicht meiner Eltern. Die Sicht auf meine Eltern, wie jedes Kind, das sich nicht fühlen und empfinden darf, wie es sich fühlt im Angesicht eines Verbrechens.
Ich wurde klein gemacht, gedemütigt, erniedrigt und belogen. Ich wurde immer klein gemacht, wenn ich mich äußern wollte. Ich ging gedemütigt aus meinem Haus und kam aus Angst vor Demütigung, Erniedrigung und Schmerz nach Hause. Ich wartete auf die Erniedrigung. Ich wartete darauf. Es war doch schließlich mein Gewissen. Die Medizin, die mir die Eltern so verabreicht hatten. Nach Schuld in mir für die Verbrechen anderer zu suchen. Ich suchte unentwegt und wurde immer fündig, erst Meisterschüler und dann Meister für Erniedrigung. Ich wusste nicht warum. Ich konnte das als Kind nicht wirklich fühlen, wie sich das anfühlt innerlich, wenn man zerschnitten wird, wenn man auf einem schmalen Grad, auf spitzen Steinen steht und sich die Füße daran schneidet, stets zwischen seinen Eltern läuft und nur dort laufen, gehen und auch stehen kann, aus Angst davor zu fallen, nach rechts auf Vaters Seite hin oder nach links auf ihre: zum bösen Mann, zur toten Frau.
Wie meine Seele aussah und aussieht, weiß ich erst jetzt. Wie meine Füße und meine Fersen. Zerschnitten und übersät mit Wunden und mit Wundrändern. An meiner rechten Ferse Eiter, als Insel eines Körperwissens, war immer eingebettet; oder verbannt. Die Füße, die mir aufhalfen und mich bewegten und mich wegtragen wollten, die können sich erst heute wieder richtig strecken und bewegen. Ich kann mich heute erst damit erreichen und meine Größe damit halten. Die Wunden können sich erst jetzt mit dem Gefühl für mich verwandeln. Ich kann mich heute erst mit meinen Wunden frei bewegen, nachdem ich ihre Wirkung fühlen konnte.
Ich trug die Trauer in mir und die Wut. Ich war verletzt und so verwundet. Ich hatte Angst vor meiner Traurigkeit und meiner Wut, im Angesicht vollkommener Verneinung meiner Seele. Es gab für meinen Vater und die Mutter und den Nikolaus gar keine Kinderseele. Sie redeten von sich. Was es nicht gibt, das kann auch nicht verletzt werden. Was es nicht gibt, das wird sich nicht verändern.
Entweder gibt es dich als Kind mit einer Kinderseele, die so verletzt war und verwundet, dass du am liebsten nie mehr was davon vernehmen wolltest. Dann gibt es dafür einen Grund. Dann gibt es davon Spuren. Denn Körper können gar nicht lügen. Denn jeder Körper ist dankbar, für seine Wahrheit seiner Seele. Dein Körper kann dich nicht betrügen.
Was habe ich als Kind Angst ausgestanden. Ich musste sie lautlos ertragen. Ich durfte mich nicht einmal damit rühren. Ich musste angsterfüllt vor meinem Vater und meiner Mutter und dem Nikolaus und jedem Dritten später, der mir Angst einjagte, stramm stehen und stumm bleiben. Und meine Seele krampfte sich. Sie machte sich auf ihre Weise klein. Weil niemand Schutz signalisierte. Die Muskeln zogen sich zusammen und ließen nicht mehr los. Was habe ich als Kind nur ausgestanden!? Sie haben mich dazu gezwungen. Sie haben mich dazu verflucht.
Ich musste ihre Grausamkeit ertragen, ohne zu wissen was ich tat. Ich musste ihre Grausamkeit ertragen, ohne zu merken, dass ich das tat, dass ich das immer wieder tun musste, was ich für meine Mutter und meinen Vater wirklich tat. Ich konnte ihre Grausamkeit nicht mehr ertragen und ausstehen und konnte doch nichts andres tun, als ihre Grausamkeit ertragen und ausstehen. So lernte ich mich zu betrügen. So also lernte ich den Selbstbetrug.
© 2016 Hugo Rupp - all rights reserved. Proudly powered by WordPress