Texte von Hugo Rupp

Der Antrieb

 

Was immer die Kulturgeschichte der Ideen und Praktiken erbracht hat, immerfort sind Menschen damit beschäftigt, der Pein einen Sinn zu geben. Aber der Überbau an Bedeutungen kaschiert nur das Sinnlose. Um so stärker wuchern die Bedeutungen, je leibverbundener die Sinnlosigkeit ist. Die Kultur stützt die trostreiche Vorstellung, noch für das Schlimmste müßte es Sinn und Grund geben. Aber aus der Tatsache, daß etwas existiert, folgt mitnichten, daß dies auch eine Bedeutung hatte. Und aus der Tatsache, daß die Not oft nicht zu wenden ist, folgt keinesfalls, daß das Notwendige auch gutzuheißen sei. Daher der Irrglaube, es sei die Kultur selbst, welche die Empfindung des Schmerzes prägt, obwohl sie doch nur die Illusionen erschafft, mit denen Menschen die Qualen ummänteln. Um die Not der Gewalt überhaupt in den Blick zu bekommen, sind daher alle kulturellen Überformungen einzuklammern. Was sich dann offenbart, ist die pure Oppression und Nutzlosigkeit des Schmerzes. Der Schmerz ist der Schmerz. Er ist kein Zeichen und übermittelt keine Botschaft. Er verweist auf nichts. Er ist nichts als das größte aller Übel.

Was für den Täter ein Akt der Entgrenzung, der Freiheit und Macht, ist für das Opfer nur Widerfahrnis.

Wolfgang Sofsky Traktat über die Gewalt

Ich soll nicht grausam sein und meinem Vater und der Mutter jetzt vergeben. Die Mutter sagt, was grausam sein bedeutet. Wenn ich dem Vater nicht die Hand gebe. Wenn ich ihm nicht die Hand und extra noch ein Lächeln schenke, dann ist das grausam sein zu ihm. Ich soll das alles jetzt verstehen, sonst wird der Vater nicht mehr froh. Wenn ich ihn jetzt so anschaue, dann wird der Vater nicht mehr froh. Nur weil er mich geschlagen hat, wofür er gar nichts kann, weil ich ihn provoziert hätte, und wenn ich jetzt partout die Eltern ärgern möchte, dann sollte ich mir sicher sein, was dann geschieht, ob ich das auch vertragen würde; so weiter und so fort.

Wie Vater alles voller Wut und Zorn und Hass vollbracht hatte, selbst atmen, schnaufen, traurig sein und husten, lachen, trinken, lustig sein. Das alles kippte um, in zornig sein und wütend werden. Wie er sich seine Knöpfe von der Leiste riss.

Wie alles nur mehr Mühe war, wenn ich was tat und meine Mutter mich dabei beobachtete, da war schon so ein Zorn in mir. Wie Vater sich anzog und seinen Schuh dann in die Ecke warf. Wie er die Grausamkeit verteilte. Wie er bei allem grausam werden konnte. Wie er den Hammer durch die Werkstatt schmiss. Wie er nur immer wieder drohte. Wie ich genauso grausam später war. Im Grunde war die Grausamkeit und grausam sein die einzig wirkliche Verbindung zwischen uns.

Wie Mutter sich gefreut hatte, als ich alleine schrie. Und schrie und schrie. Und meine Mutter lachte. Stand hinter der Tür und lachte einfach weiter. Ich hörte sie.

Wie kann man sich nur so aufregen. Das ist doch lachhaft! So ein Scheiß. Hör endlich auf, sonst geh ich jetzt für immer weg.

Wie sie mich hielt, als wäre ich zu schwer, zu dreckig und gefährlich, als könnte ich ihr etwas anhaben.

Jetzt hast du es geschafft, sagt sie. Schau dir nur wieder meine Bluse an!?

Wenn ich verzweifelt nach ihr rief.

Ich erinnere mich, wie ich meinen Sohn besuchte, nachdem es mir endlich gelungen war, ihn aufzuspüren, und ich ihm Spielsachen mitbringen konnte. Einmal, weiss ich noch, brachte ich ihm etwas Plastilin mit. Wir spielten zusammen auf einem kleinen Couchtisch im Wohnzimmer und Ludwig rief „Schau Mal“ oder „Voila!“ und breitete die Arme aus. Vor sich hatte er verschiedenfarbiges Plastilin zu einem Häufchen aufgetürmt, es war wirklich nichts weiter als ein Häufchen Plastilin, vielleicht fünfzehn Zentimeter hoch. „Voila!“ rief er aus und fuchtelte mit den Armen herum. Er war so stolz und es war so schön anzusehen. Es war nur gerade ein Augenblick, der aber all das vermittelte, woran ich glaube, so völlig urteilsfrei. Über dieses Häufchen konnte man einfach kein Urteil abgeben, es war perfekt, absolut perfekt. Ich ging zurück in mein Atelier und knetete Häufchen aus Plastilin. Ich wählte eines aus, von dem ich fand, dass es eine skulpturale Energie besass. Ein anderes Häufchen hielt ich in einem Gemälde fest, denn meine Malerei ist eher vertikal ausgerichtet; für meine Skulptur hatte ich ein eher horizontales Häufchen ausgewählt. Aber dabei ging es immer um dieses Gefühl, auf jegliches Urteil zu verzichten.

Jeff Koons

Ein toter Vogel sagte mir, es muss mehr Ordnung in ein Chaos rein, nur so kann man die Freude nehmen, Lebendigkeit auch lähmen und Lebenslust zerstören.

Ich stand am Fenster und wartete auf sie, auf ihre Rückkehr und ihr Essen. Ich wartete darauf, dass sie mir meine Freude nehmen würde. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Ich wartete auch jeden Tag auf eine Möglichkeit, um mich dafür zu rächen. Dass ich selbst endlich auch dem einen und dem anderen die Freude nehmen würde können. Ich wartete sehnlichst auf diesen Tag; Moment. Denn meine Wut auf meine Mutter war so unfassbar und tief in mir verborgen, wie ihre Grausamkeit an sich und mir. Als sie mir meine Freude nahm und mich dafür bestraft hatte, für ungebührliches Verhalten. Was sie mir immer wieder sagte, ich sollte nicht so ungehörig sein. So ungehörig, ungebührlich. Da wusste ich noch nicht einmal, was diese Worte überhaupt bedeuteten.

Sie nahm mir meine Freude weg, weil jemand der sich freuen kann, nicht mehr beherrschbar ist und nicht gehorchen kann.

Kannst du dich nicht einmal beherrschen!

Was meine Eltern so verband.

Die Mutter konnte wie der Vater auch, die Selbstbeherrschung nicht verlieren. Sie konnten ihre Selbstbeherrschung nicht verlieren. Sie konnten gar nichts anderes, es blieb ihnen auch gar nichts anderes mehr übrig, als ihre Selbstbeherrschung zu bewahren.

Am See.

Die Mutter geht selbstherrlich unter. Ertrinkt in Blut. Wie meine Traumbilder doch wirklich wirklich für mich waren. Wie meine Mutter voller Selbstbeherrschung untergeht, und ich sie daran auch nicht hindern kann. Voll Selbstbeherrschung bin ich selbst, wie sie. Die Freude auch an ihrem Untergang, muss ich mir nehmen und verwehren.

Wie jeder Mensch, der seine Selbstbeherrschung nicht verlieren kann, steckten wir voller Hass und Grausamkeit und Angst.

Nur tote Vögel fordern Selbstbeherrschung noch im Flug. Für höchste Kunst und Gnade eines Gottes, dass man die Freude an sich lösche und verhindere.

Wer einem Kind die Freude nimmt, der nimmt ihm die Erfahrung und Erkenntnis, dass sich Verteidigung der eigenen Gefühle und Empfindungen auch lohnt. Wer nach der Wut die Freude an sich selbst erkennt, merkt sich auch die Erfahrung, dass Liebe möglich ist und keineswegs jemanden hemmt; und was die Mutter und der Vater lehrten, dass die Gefühle nur zum Schämen wären, nur eine Lüge ist und zum Davonlaufen.

Es geht um die Verteidigung aller Gefühle und Empfindungen. Dass ich das auch verteidige, was ich empfinden kann. Das konnte ich als Kind nicht tun, weil die Gewalt und Grausamkeit der Eltern das verhindert haben. So lernte ich das auch zu tun, Gefühle zu beherrschen und zu verleugnen, was ich empfand.

Was ist denn das!?

Was soll das sein!?

Was soll denn das nun wieder!?

Was soll denn das für einen Sinn haben!?

Das alles hatte keinen Sinn. Das machte keinen Sinn. Ich sah es doch. Ich roch es auch. Ich hörte, wie sie sich empörten. Da war nur Leere und Stumpfheit, Gleichgültigkeit. Da war nichts außer der Verachtung und des Hasses.

Mutter konnte kein Kind hören oder sehen und ertragen, das sich in Not befand. Denn jedes Mal, wenn ich mich irgendwie mit meiner Not bemerkbar machte, verschlug sie mir die Sprache. Mein Herz raste und pochte und ich zitterte. Gegen die Grausamkeit fand ich als kleines Kind gar keine andre Sprache. Wie mich die Grausamkeit beschädigt hatte. Weil ich mein Leben und Erleben danach richtete, und mich nach grausam sein, auch später sehnte. Und gar nichts anderes als Grausamkeit von anderen erwarten konnte. Nur grausam sein. Denn so genau war mein Gefühl. Ich konnte nichts mehr anderes von anderen erwarten. Nur die Verachtung in der Not.

Ich folgte der Verspottung eines Kindes.

Ich sollte nicht aus Freude etwas lernen.

Jetzt sind wir wieder gut!

Ich habe das solange nicht geahnt, dass meine Freude nicht von meinen Eltern stammt und nicht in unserm Keller wohnt, wohin sie mich zum Lachen schickten.

Ich sollte meinem Vater eine Freude sein und meiner Mutter eine Freude machen, dabei war ich einsam. Ich sollte meinen Vater wieder fröhlich machen und meine Mutter auch, dabei war ich verwundet und verirrt. Ich sollte meinem Vater in die Augen schauen, ihn anlächeln und dann die rechte Hand noch geben, dabei tat mir die Seele weh, denn meine Not war riesengroß und für die Eltern ungebührlich. Ich hatte nichts getan. Ich habe ihn nicht angeschaut, nachdem er mich geschlagen hatte. Ich wollte nicht gleich wieder fröhlich sein. Ich sollte meine Eltern aber glücklich machen, obwohl sie grausam zu mir waren. Das sei doch schließlich nicht der Rede wert.

Sie taten mir nicht leid, wie ich den Eltern auch nie leid getan hatte. Solange ich das Falsch gelernte als das Wahre für mich anerkannte, ohne zu wissen, was ich tat, kam keine Freude in mir auf. Weil alles doch gelogen war, nur vorgestellt und nachgebetet, nachgespielt. Wie auf der Bühne, im Roman, im Film, in einer Werbung, Esoterik, und etc. Das war nicht wirklich, was ich spürte und empfand. Weil ich nicht ehrlich werden konnte. Ich wusste das, doch nie warum, warum ich anderen die Freude nahm und ihnen sie missgönnte. Warum ich das nicht aufhören konnte.

Die Sehnsucht nach der Liebe war ein Traum. Die Mutter würde mich doch eines Tages lieben.

Jede Mutter liebt ihr Kind, sagt Mutter mir Jahrzehnte später.

Sie glaubte das. So wollte sie das wahrhaben. Ich fand, dass das, was meine Mutter für sich reklamierte, nicht stimmig war. Ich hatte doch was anderes bei ihr erlebt. Die Wahrheit über meine Mutter ist in mir, und nicht in ihren Sätzen, die mir nie wirklich etwas gaben.

Ich weiß nicht, ob es möglich ist, die Frage zu kommentieren, die mich schon lange beschäftigt. Die Deutschen geben sich so geläutert. Man möchte meinen, seit dem 8. Mai 1945 gab es keinen Sadismus mehr in Deutschland. Er verschwand über Nacht, man weiß nur nicht wohin. Ist es nicht so, dass dieser Sadismus weiter gärte, sich nach dem Krieg weiterhin in den Kinderzimmern ein Ventil suchte? Gerade Menschen, die zwischen 1940 und 1970 geboren wurden, fangen nun an, über entsetzliche Vorkommnisse in ihren Elternhäusern zu berichten. Es handelt sich hierbei um Kinder von Menschen, die ihrerseits von Eltern aufgezogen wurden, die zumindest durch die eigene Erziehung den Sadismus aufgesogen haben wie ein Schwamm.

Gleichzeitig lernten diese Menschen, den Sadismus ihrer Eltern als Wohltat anzusehen. Ihre Frage ist sehr wichtig: Was ist mit dem Sadismus geschehen, dem wir im letzten Krieg so häufig begegnet sind und den Goldhagen so genau beschreibt? Mir scheint Ihre Hypothese richtig, die Menschen, deren Wahrheit sich z.B. in vereinzelten Berichten und Internetforen abzeichnet, haben diesen Sadismus oft bei ihren Eltern zu spüren bekommen, aber so früh, dass sie sich noch kein Urteil darüber zutrauen, meistens zumindest. Und nur ein ganz winziger Teil dieser Opfer getraut sich überhaupt an die Öffentlichkeit. Es bleibt abzuwarten, ob zunehmend mehr Menschen den Mut aufbringen, über ihre Kindheit zu berichten.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass bereits dann eine grenzenlose Wut in einem Menschen entstehen kann, wenn seine echten Bedürfnisse von Anfang an nicht beantwortet, sondern ignoriert und unterdrückt werden. Bereits das ist eine Verstümmelung des emotionalen Lebens, die dauerhaft sein kann. Viele Menschen werden bei auf diese Art emotional verarmten Eltern aufgewachsen sein. Solche Eltern können nicht lieben, selbst wenn sie es wollen.

Aus: Gespräch über Kindheit und Politik Alice Miller / Thomas Gruner

Antrieb / So tun als ob / Haben / So will ich sein / Das will ich haben / Haben

Ich wollte meine Mutter und meinen Vater lieb haben. Das konnte ich aber nicht. Sie hatten es mir nicht beigebracht. Ich konnte nur so tun, als könnte ich die Mutter und den Vater lieb haben, als würde ich mich über sie auch freuen. So tun als ob. Das hatten sie mir beigebracht.

Der stärkste Antrieb eines ungeliebten Kindes ist, für sich selbst so zu tun, als hätte es aus Liebe was getan. Denn ohne diesen Antrieb, ist Überleben gar nicht möglich.

Meine Bronchitis, die ich über Jahre und Jahrzehnte mit mir schleppte. Die ich als kleines Kind nur immerzu verschleppt hatte, dass Mutter nicht erschrak. Jetzt weiß ich auch woher das kommt. Weil ich so früh schon meine Not verstecken lernte. Jetzt ists mit Husten aber gut! Jetzt hör endlich zu bellen auf. Man hört sein eignes Wort nicht mehr, wenn du so husten musst.

Aus Liebe, dachte ich, muss ich jetzt leiser husten, leiser tun. Aus Liebe, dachte ich. Für sie muss ich das tun. Und nicht aus Angst und unterdrückter Wut. Wie ein Hund bellte ich. Dann war ich still.