Texte von Hugo Rupp

Den Blick richten

 

Was, wenn sie es gewusst haben, wenn sie es gesehen haben, wenn sie sehen, wenn ein Kind leidet. Wenn Gott alles sieht. Woher wissen sie, dass Gott alles sieht? Wenn sie etwas tun und sehen. Sie sind ja die Augenzeugen, die alles mit ansehen. Wenn sie nicht helfen, nichts tun; nie helfen, wenn du Hilfe brauchst, nie helfen. Wenn sie zuschauen und lachen, wenn du Hilfe brauchst. Wenn sie dich sehen und deine Laute hören und dich rufen hören und nicht helfen. Wenn sie dich hören und nicht zu dir kommen. Wenn sie sich nicht zeigen, wenn sie dich dort, wo du bist allein liegen lassen.

Erinnerst du dich wie Mutter reagiert hat, als dir schwindlig wurde, nachdem sie dir sagte, dass Vater gestorben sei. Sie hat sich sofort umgedreht und war bereit zu gehen. Du hast dann gesagt, du würdest doch gleich mitkommen. Das Gefühl des Schwindels und der Täuschung, war doch immer nur Enttäuschung, dass sie nichts mit deiner Not zu tun haben will. Zeichen! Du suchst nach Zeichen? Woher stammt denn das Gefühl, dass sie sich umdreht und geht, dass sie nicht mehr kommt, dass sie mit der Not des Kindes nichts zu tun hat. Sie sieht sie doch! Sie geht nur weg.

Woher erkennt sie deine Not?

Sie kannte sie.

Sie hat sie immer schon gekannt.

Sie hat sie doch gesehen. Sie hat nur nichts getan. Sie hat dich doch gehört. Sie hat auch deine Blicke erkannt. Sie ist die Augenzeugin, die Seherin.

Erinnerungen, die von Träumen stammen, dass nichts von alledem geschehen sei, was in dir, in dem Kind gespeichert ist, in seinem Körperspeicher, dass dieses Kind, wie jedes andere die Wahrheit kennt, nur nicht erkennen kann, dass auch die anderen sie kennen. Die größte Lüge ist, die dich allein gelassen hat, dass sie nicht wissen und niemals etwas von dir erkannten, dass niemals deine Not auf ihre Sinne traf, dass sie die Not, die du in dir zum Vorschein brachtest, dass sie die nie erkennen konnten. Sie haben sie erkannt und deshalb nichts getan, weil deine Not, die ihre einmal war, und wie sie selbst enttäuscht und aller Hoffnung je beraubt, sich selbst allein gelassen haben; so ließen sie dich auch allein. Doch sie erkennen eine Not an jedem noch so kleinen Zeichen. Sie sehen sie, sie gehen weg und fliehen. Sie schlugen deine Not noch nieder. Denn diese Not ist ihre Kindheit auch gewesen. Wenn du das siehst und jetzt vergeben willst und musst, dann lässt du dich allein. Dann gibst du auf, dann wirst du unsichtbar, denn ohne deine Wut, die sich für dich erhebt, ist deine Wahrheit nicht zu tragen. Sie drückt dich in den Staub. Das was du glauben musstest. Was sie dir immer schon beibrachten. Was du glauben lernen musstest.

Da schau hin.

Hier spielt die Musik.

Schau nach vorn.

Solange du nur immer das tust, was wir dir sagen, kann dir nichts geschehen.

Natürlich musstest du glauben, dass sie alles sehen. Du wünschst dir schließlich, dass sie alles sehen, dann sehen sie auch einmal dich. Du hoffst, dass Gott dich auch im Grunde sehen kann, dann sieht er deine Wünsche.

Der Schutz, das Allesehen, dass Eltern alles sehen können, dass Gott dich selbst im allerletzten Winkel sieht, beschützt dich vor dem freien Fall. Sie müssen einfach sehen, heißt für ein Kind, sie müssen doch mein Elend spüren.

Du täuschst dich nicht, die Wut enttäuscht dich nie. Sie täuschten dich, enttäuschten dich, sie täuschten dich so oft darüber, dass keine Not in dir für sie zum Vorschein kam. So warst du selbst von dir enttäuscht, dass du nicht einmal für dich selbst, für deine Art von hilflos sein, dich nicht mal selbst bemerkbar machen konntest. Du versagtest dir die Hilfe doch herbei zu rufen, als Kind. Das ist die Illusion, die in dir ist, die alle Wut verhindert, dass nicht einmal du selbst für dich und deine Art von Leben Sorge tragen kannst. Du bist unfähig für dich zu sorgen, das ist die Art Enttäuschung, die sie mit ihrer Ignoranz vor deine Augen, in deine Sinne brachten. Dass sie niemals von dir benachrichtigt worden sind, dass du sie nötig hättest, dass du die Liebe deiner Eltern nötig hast, dass je ein Kind die Liebe seiner Eltern nötig hat. Im Gegenteil, du hattest glauben müssen, die Eltern stets zu lieben, zu lieben müssen, und wenn dies nur einmal aufhört, dann unterzugehen, allein zu sein, in einem Bau, in einer Höhle, Verlies, von einem Dunkel angefasst und ohne eine Stimme. Du musstest ihren Augen trauen und allem was sie sagten, denn ihre Augen und die Stimme ihrer Münder, das war doch jene einzige, die dich mit ihrer Welt verband. Du musstest ihren Augen glauben schenken und konntest niemals wissen, dass sie dich hörten, sahen, und deine Not erkannten, mit ihrem allerersten Wissen. Sie waren doch die Eltern und du ihr Kind. Du konntest niemals wissen, dass sie vor dir die Kinder waren, dass sie ein Wissen haben, von dem sie sich ernähren, dass sie ein Wissen haben, von dem sie dir nichts gaben. Sie wussten nicht mit dir, sie wussten nur für sich.

Sie reden nicht mit dir. Mit dir spricht niemand über dich, solange du als Kind nicht aufgehoben wirst, solange du als Kind in deiner Not und deiner Art Bedürfnis nicht erkannt wirst, bist du allein gelassen, du fühlst dich ohne einen Menschen, dir niemals nahe, dir selbst nie nah. Nur deine Wut kann dich dir näher bringen, dich selbst dir nah. Nur du erkennst dich dann, denn du warst immer da, und niemand sonst hat dir geholfen.

Nachrufen

Der Junge erinnert sich, was er sich wünschte: Aufgehobensein. Ein Netz das seinen Fall bremst, das ihn auffängt, das seinen Sturz bremst. Seinen Treppensturz. Jemand, der ihn zurückhält, der ihn aufhält, der ihn nicht weiter fahren lässt mit dem Dreirad, der ihm nicht nur nachschaut und nichts sagt, der ihn nicht auf die Treppe zufahren lässt und zu schaut, wie er die Treppe erreicht und schließlich abstürzt. Ich wünschte mir, ich wünschte mir, ich könnte das vergessen, was meinen Kopf verwirrte, dass sie zuschaute, dass sie mich nicht abhielt. Meinen Schwindel schwindelt heute noch. Dass sie nichts mehr tat, dass sie mich da hin fahren ließ. Kinder können Gefahr nicht erkennen. Wusste ich nicht als Kind. Weiß kein Kind von sich, dass es Gefahr nicht erkennen kann. Drohendes Unheil. Die Treppe und die Stufen und jede einzelne Stufe die ich hinunterfiel. Kind macht daraus drohendes Unheil und Folgsamkeit, Ergebenheit seinem Schicksal gegenüber. Es kann sich auch hier nicht mehr wehren, weil es nicht weiß gegen was.

Keine Hilfestellung; wieder keine Hilfestellung. Sie schaute zu. Es geht nie um den Tod, immer geht es um die eigene Hilflosigkeit. Ihr Blick im Hintergrund, wie sie da steht und zuschaut, wie ich auf die Treppe zufahre und dann weiter, die Treppe hinunterstürze.

Pscht. Nichts passiert, sagt sie und versucht mich zu beruhigen. Ist gleich wieder vorbei!

Die Frau im Hintergrund, die Beobachterin. Die neutrale Beobachterin. Die Schaustellerin, die das Kind zur Schau werden lässt. Die Spielerin, die Schmerz und Leid verteilt und Schuld gleich mit.

Wer nicht hören will, muss fühlen!

Wer in dieser Eiseskälte aufwacht, ohne die Möglichkeit sich an der eigenen Wut zu wärmen, erfriert. Der Blick erfriert. Der Blick vereist die Seele. Das was du siehst, dass sie dich fallen lässt, vereist dich nach und nach, mit immer neuen und ähnlichen Begebenheiten, und immer bleibt das Kind vollkommen hilflos. Du suchst nach Ähnlichem, nach Ähnlichkeiten. Du schaust jetzt zu. Du schaust auch hin, du folgst jetzt ähnlich kalt mit deinem Blick dem Treiben anderer, wie du mit kaltem Blick die Welt erfährst.

Du bist ein ähnlicher Beobachter. Du spürst die Kälte auf und spürst die eigne Kälte nicht. Du spürst die Kälte nicht. Du siehst die kalten Augen überall und spürst die Kälte nicht. Die Kälte hat den Schmerz vereist und ohne deinen Schmerz ist deine Wut nicht existent. Die Wut verständigt sich mit dir. Sie spricht dir deine Sinne frei, dass die für dich den Mut ergreifen, dich nur zu richten, nachdem, was für dich ist, und niemals gegen dich gerichtet. Sie richtet deinen Blick auf dich und weg von allen anderen. Sie richtet sich nach dir und deinen Sinnen aus. Sie nordet dein Gefühl. Der Kompass ist Geborgenheit. Wut ist, die den Kindermund berechtigt, die deine Wahrheit spricht.

Nur deine Wut treibt Keile in das Eis und du lernst fühlen, wie dieses Meer in dir erfrieren musste.

Du musstest dich als Kind ausrichten und verraten. Es gab für dich doch keine andere Möglichkeit.