Texte von Hugo Rupp

Das verfügbare Kind

 

Durch die Eltern spricht die Natur zuerst zu den Kindern. Wehe den armen Geschöpfen, wenn diese erste Sprache kalt und lieblos ist!

Karoline von Günderrode

Ich wache auf und rieche meinen Vater.

In meiner Nase und im Mund.

Wenn er mich schimpfte in der Früh, mit dem Geschmack von Eisen, Kupfer, Blut.

Wie ich mein Zimmer nur verlassen musste, schon fing er mich dort ab, dass er wie zufällig da stand, das glaube ich nicht mehr.

Das ist für mich kein Zufall mehr, wie er mich auf der Schwelle abpasste, anschaute, sich gleich auch lustig machte darüber, wie ich schon wieder aussehen würde.

Der Atem meines Vaters.

Wie werde ich den Hauch nur wieder los?

Furcht weckt den Hass.

Sie weckt mich, wenn ich schlafe, liege, weckt mich und Angst, wenn ich dann ihre Schritte höre, dreh ich mich um und an die Wand.

Komm, rutsch ein bisschen rüber, rutsch nicht so an die Wand, komm doch ein bisschen rüber, zu mir, nicht an die Wand.

Hab vor mir keine Angst!

Brauchst mich doch nicht zu fürchten!

Kein Sinn, Verstand.

Verwirrt war ich andauernd.

Wer, was, wie ich, niemanden für mich fand, der sich für meine Angst und meine Wut und meinen Zorn und meinen Hass verwendet hätte.

Wein nun aus Angst.

Wein nun aus Angstverstand.

Verstehe meine Geister nicht, verstehe nichts von dem Verstand.

Hast du mich nicht verstanden, fragt sie.

DU brauchst dich doch vor mir nicht fürchten.

Sie will nicht meine Furcht, sie will nicht den Verstand.

Sie will das nicht, was ich von ihr, von Anfang an, verstanden habe, dass ich mich fürchten soll, vor ihrem schwarzen Mann.

Sie will nicht, dass ich mir von ihr was merke, sie will nicht den Verstand.

Sie will, dass ich mich nur ergebe.

Und ohne Sinn, Verstand.

Brauchst doch nicht weinen, sagt sie.

Das ist kein Trost und kein Verstand, das ist nur eine Lüge.

Das was ich nie verstanden habe, dass selbst ihr Trost noch eine Lüge war.

Und eine Schuldzuweisung!

Mit Trösten mich belügen.

Mit Trost betrügen.

Sie wollte von mir Lügen.

Ich habe keine Angst!

Das sagte ich tatsächlich, um meiner Mutter zu genügen, zum Trost für sie.

Ohne Verstand.

Jetzt suche ich als Kind in meiner Wirklichkeit nach Trost.

Im Schrecken und Erschrecken anderer, ist meiner Kindheit Trost.

In meiner kalten Kindheit Trost suchen, bedeutet für mich, wie meine Mutter sein.

Und wie mein Vater immer nur weg gehen.

Verlassen und weg sein, damit doch endlich jemand widersprechen möge: Bleib doch noch da.

Bleib doch bei mir.

Dem Vater nach dem Mund geredet.

Ich rieche auch wie er.

Ich rieche wie mein Vater.

Ich heb die Hand vor meinen Mund.

Ich tröste mich mit meinem nach mir riechen.

Ich rieche nicht nach ihm.

Ich rieche nicht wie Vater.

Ich schmecke nicht wie er.

Ich rieche nicht, ich bin nicht er.

Sag ich mir immer wieder.

Ich suche Trost wie er.

Ich bin nicht wie mein Vater!

Ich bin nicht er.

Ich bin bestimmt nicht so wie er!

Ich bin nicht wie mein Vater!

Mein Trost ist eine Selbstbestätigung.

Ich tröste mich nun selbst.

Ich bin nicht wie mein Vater, das sage ich mir immer wieder vor.

Wie Vater mir das vorgepredigt hatte: Ich bin mein eigner Herr, ich bin nicht wie mein toter Vater.

Ich bin bestimmt nicht so wie der.

Gott hab ihn selig, und Friede seiner Asche!

Ich bin nicht so wie der, das sagte er zu mir; und ich dasselbe nur zu mir.

Wir trösteten uns beide selbst, nicht so zu sein wie unsre beiden Väter.

Ein Spiegelbild der Selbsttröstung, dass wir erschreckend anders sind und waren, wie unsre eignen Väter.

Ein Spiegelbild der Selbsttäuschung.

Mir selbst wie meine Mutter sein.

Mit ihren Augen Angst einjagen, und dann die Reaktion, die Wahrheit im Gefühl mit einem pscht, pscht, pscht, ist doch nicht wahr, zu unterdrücken, und auszulöschen: Pscht!

Nach Trost im Schrecken und Erschrecken suchen.

In Todesangst nach Trost suchen, in Todesangst und in Gefahr nach Trost suchen, noch Trost im Untergang, im Untergehen noch nach Trost und Anteilnahme suchen, und Ausschau halten müssen.

Mich mit der Einsamkeit selbst trösten müssen.

In Wüsten etwas suchen.

Auf einem Berg, in einem Eismeer etwas suchen und vermuten.

Sich selbst im letzten, allerletzten Atemzug, im Selbst, im Tod nach Trost suchen.

Um Trost ersuchen, in allerletzter Not und Einsamkeit noch fremden Trost vermuten.

Allein im Nichts nach etwas suchen, das es doch niemals für mich gab.

Deswegen blieb auch meine Not so gut erhalten.

Weil es für mich unmöglich war, (wie es für jedes Kind unmöglich ist) mich der elterlichen Gewalt und Lieblosigkeit zu erwehren.

Sie trösteten sich beide mit mir.

Er stillte seinen Hass.

Sie ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit.

Sie suchten Trost bei mir für Hass und Lieblosigkeit.

Lieblos wie beide waren.

Deswegen fühlte ich mich einsam und verlassen, wenn ich schon groß, von mir als Kind etwas erzählen sollte.

Ich wusste darauf nichts zu sagen.

Wenn mich wer fragte, wie es bei mir zuhause war.

Wie es zuhause war?

Ich sagte darauf immer nur: Ja, ja.

Ich sagte nichts.

Ich hatte keine Antworten auf Fragen nach meiner Kindheit.

Ich wusste wirklich nichts zu sagen.

Das war das schreckliche Ergebnis meiner Kindheit, weil über mich verfügt wurde.

Ich durfte als Kind doch keine Fragen stellen.

Ich fragte meine Eltern nie etwas, wenn sie das und das mit mir anstellten.

Ich durfte keine Fragen stellen.

Fragen war Widerstand.

Den hat mein Vater gleich gebrochen.

Und meine Mutter gleich im Keim erstickt.

Sie wurde kalt und stumm sogleich auf meine Fragen.

Ich lernte niemals Fragen stellen.

Ich lernte keine Fragen mehr zu stellen.

Ich lernte keine Fragen mir zu stellen.

Das brauchst du nicht zu wissen.

Dafür bist du zu klein!

Das lernt ein Kind, das nur für seine Eltern da ist und nur für sie sein soll.

Ich lernte stumm ertragen und mich dumm stellen.

Ich sollte doch für sie und mich dumm bleiben.

Die Eltern, die Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten (es gibt sogar solche, die sie fordern), sind wie Wucherer, sie riskieren gern das Kapital, wenn sie nur die Zinsen bekommen.

Franz Kafka – Tagebücher, 12. November 1914