Texte von Hugo Rupp

Das System verlassen

 

Hörigkeit ist ein Spiel auf Leben und Tod.

Ingrid van Bergen

Jetzt ist doch alles wieder gut.

Sie ließ mich

mit dem Schwindel

übrig.

Dem faulen Zauber

ihrer Lügen,

zu meinem Leidwesen.

Mir wurde

vom Betrügen

übel.

Dann ihre Raserei Ihr böses auf mich abwärts Blicken. Das war dann keine Maske mehr. Da fiel ihr Hass vollkommen ungefiltert auf mich runter. Wie schwarzer Regen voller Teer. Wie Vögel die im Teerschlamm stecken und sich nicht rühren können, war mein Verhalten. Jetzt wird mir Mutters Drohung klar: Wenn Vater nicht nach Hause kommt, dann hast du keine Chance mehr. Dann lasse ich dich ganz allein. Maßloser Schrecken, grauenhaft.

Ich stand in meiner leeren elterlichen Wohnung. Ich hörte ein Geräusch und hatte eine Ahnung. Tatsächlich hinter meiner Tür, die meines alten Kinderzimmers, stand meine Mutter. Sie zog sich an und hielt den Kopf wie abgetaucht zu Boden. Jetzt taucht die tote Mutter wieder auf, das war das erste, was ich dachte und schrie in mir, dann ging ich zu ihr hin und wusste schon genau was jetzt passieren würde. Ich griff mit beiden Händen nach ihrem frischgefärbten und geföhnten Haar. Ich dachte gleich daran, das war das erste, was ich dachte: Ich werfe meine Mutter jetzt hinaus. Ich ziehe sie zur Treppe hin und stoße sie dann runter. Doch meine Hände griffen nur ins Leere. Sowie man das aus Filmen kennt, wenn jemand ein Gespenst, den Geist nicht fassen kann.

Rühr mich nicht an, sagt sie.

Ich wachte auf und war allein. Ich fühlte mich jedoch nicht so. Mein Schwindel war verflogen.

Was wollte sie? Das habe ich als Kind niemals herausgekriegt. Deshalb war ich auch so verloren. Sie machte mich verrückt mit ihren Spielen. Ich sollte das Lebendige von Totem nicht mehr unterscheiden können.

Funny Games

Erst als ich anfange zu weinen, öffnet sie ihre Augen, steht auf, geht lächelnd weg.

Was hast du denn, fragt sie.

Verwirrt war ich, konfus. Ohne ein Gleichgewicht, gefallen. Und ihr gefiel, das weiß ich nun, wie ich festfror und nichts mehr sagte, stumm und verzweifelt vor mich hinstarrte, auf meine Füße oder Boden, während was in mir aufstieg, losflog, um schon beim ersten Flügelschlag zu straucheln und in der Luft zu taumeln, bestimmt und ohne Sicherheit in einen Abgrund fiel. Allein und ohne eine Ahnung; welcher Schrecken!

Warum hast du mir das immer wieder angetan? Warum hast du mich so erschreckt.

Die Vorstellung ist mein Gefühl gewesen, dass meine Mutter einen Menschen braucht, dass sie mich dafür braucht, um mich zu quälen und zu hassen. Dass sie mich wehrlos braucht um das mit mir zu tun, was immer sie tun muss. Sie brauchte mich wehrlos. Unfassbar in der Konsequenz, die kein Kind auch nur annähernd begreifen kann. Jemand, der sich nicht wehren kann, wird malträtiert, missbraucht, misshandelt, so gehasst, gerade deswegen. Das ist das unerträglich feindselige für jedes Kind, dass es belogen und verhöhnt noch wird, wenn seine Schreie, später stumm, die Wirklichkeit nicht mehr bewusst begreifen können. Das Fühlen dieser Wahrheit würde tödlich sein.

Sie senkte ihren Kopf und ihren Blick. Wenn sie dann wutentbrannt wieder zurück kam, an mein Bett, hielt sie mich fest und schüttelte mich liegend durch. Da wurde mir so übel. Das hat mein Ohr sofort begriffen, dass etwas nicht mehr stimmt.

Was wollte sie?

Sie quälte mich.

Was wollte sie von mir?

Die Antwort, die ich mir nicht geben konnte: Sie wollte mich quälen. Und hörte niemals auf damit. Sie machte mir die Freude hin. Der Abgrund, großer Taumel, sie konnte nicht aufhören, mich zu quälen und zu verstören.

Was jede Sucht im Grunde ist, darstellt, man kann nicht mehr aufhören. Was einem beigebracht wurde, sich zu betäuben und zu verwirren, um seine Wahrheit aus der Kindheit zu verleugnen. Das Leid, die nie gefühlte Wut auf die Verbrechen, die Verbrecher, für die sich niemand interessiert hatte. Ohne ein Ende abzusehen.

Ich konnte meine Eltern nicht verändern und meine größte Last bestand darin, es dennoch immer wieder zu versuchen. Weil ich mich schrecklich unter meinen Eltern fühlte.

Sie hörte niemals auf, mich zu erschrecken und zu quälen. Sie hörte niemals auf damit, das sagen alle meine Tränen. Sie wird nicht eher damit aufhören, bis ich nicht ein für alle Mal die Mutter endlich aufgebe, mit jenem alten Wunsch in mir, nach der Veränderung, die es doch niemals wirklich gab. Die Sucht, der Hunger, das selbst und andere nur Quälende, hört dann endgültig auf. Das Rachedenken, die unentwegte blinde Suche nach selbst Schuldigen und Schuldigern, nach Sündenböcken, nach Stellvertreterkriegen. Nach Paarungen, die immer grausam enden; der Wiederholungszwang.

Ich konnte nicht verhindern, dass mir die Mutter meine Freude nahm. Deshalb tut mir die linke Schulter weh, der linke Oberarm, das rechte Hüftgelenk, mein rechtes Knie, mein linkes Sprunggelenk, der Nacken, und mir wird beim Aufschauen und liegend, beim nach links den Kopf wenden, mit einem Mal dann schwindlig. Mein Treppensturz. Sie ließ mich in den Abgrund rauschen. Weil ich mich so sehr freute beim Dreiradfahren in der Wohnung. Das war ihr viel zu dreckig und zu laut und viel zu viel Bewegung und Geräusche, und viel zu viel für sie, dass ich mich dabei freute. Und wie mir das Gefühl von Freude in meinen Mund, in meine Augen, mir um den Hals und meinen ganzen Körper fiel. Wie ich mich freute, fuhr und mich bewegte.

Ich würde nicht so weit an diese Treppe hinfahren, sagt sie.

Das sagt sie vier-fünfmal. Dann falle ich die ganze Treppe runter. Sie stellte nichts als Grenze hin. Keinen Stuhl davor, auch keinen kleinen Hocker. Meine Mutter brachte mich auf die Idee, immer näher hinzufahren. Zeigen wollte ich ihr meine Fähigkeiten, um die Freude zu beweisen. Später dann auch noch im Kindergarten, wenn ich etwas gemacht hatte und wenn ich von der Schule wieder kam und mich auf zu Hause freute.

Wenn ich mich freute, wurde sie nervös, dann etwas traurig, dann sauer, wütend, schließlich bösartig.

Ich würde das nicht tun! Ich würde da nicht hingehen!

Für mich war meine Mutter eine Plage, die mir die Freude nahm. Sie hat mich nicht bestärkt und nie ermutigt. Es gab kein Vorhaben, das sie bekräftigt hätte, im Gegenteil, sie machte mir noch meine Vorfreude kaputt.

Freu dich nur nicht zu früh!

Meine Mutter hat zerstört, was sie an Freude an mir wahrnehmen konnte.

Wie es bei jeder Sucht auch darum geht, dass die Freude stets vergeht. Dass die Freude sich nie halten lässt.

Warum hat sie meine Freude immerzu zerbrochen?

Sie wollte, dass ich ihr gehöre. Dass ich auf sie hörte, ganz egal was mir passieren würde. Meiner Mutter hörig sein, hörig werden ganz und gar. Keine Widerrede möglich. Meiner Mutter sollte ich gehören, ihr allein mit Haut und Haar. Hörigkeit in allen Gliedern. Deshalb zitterte ich unaufhörlich, zitterte am ganzen Leib, mir war schwindlig, schlecht und übel, weil es keine Liebe gab. Weil Entzugserscheinungen auch ein Ausdruck einer Kindheit sind. Indiz, Beweise fehlender Liebe und vom allein gelassen worden sein, erzählen; immer wieder. Dass das System der Mutter immer nur nach Liebe suchte und nach meiner Freude, um zu zerstören, was ich noch hatte, und was es bei ihr nicht gab.