Er war wie eine leere Hülle, die mit irgendwas gefüllt werden mußte, aber er wußte nicht womit.
Flannery O’Connor Anhaltendes Frösteln
Am Sonntag ohne Schuld zu sein, wenn Vater nicht mehr kommt. Wenn ich alleine bin, dann dachte ich, jetzt ist es gut, jetzt ist der Vater nicht mehr da.
Im Traum die Samstage für mich. Selbst zu bestimmen, was passieren soll. Träume von Unschuld und vom straflos sein. Am Samstag ohne meine Eltern, träum ich von Nachsicht und von Liebe. Auf mich nur hören; wünschen. Mich nicht nach Vater und nach Mutter richten. Mich nicht umdrehen müssen, bei jedem noch so kleinen Laut.
Denn wer nicht hören will, muss schließlich fühlen!
Geräusch vom Scanner, Post, das Piepen, und plötzlich fällt mir ein, das hört sich wie ein Apparat, Maschine aus der Medizin, so wie im Krankenhaus hört sich das an. Die Töne, die mich so erschreckten in meiner Einsamkeit im Kinderkrankenhaus. Wenn die Bestrafung naht.
Wie ritzen, schneiden, tätowieren lassen, sich verstümmeln und verstümmeln lassen. Versuche um den Schmerz straflos zu lassen; an sich.
Ich wurde von dir schon bestraft, wenn ich nur nach dir rief. Und wenn ich weinte, wenn ich schrie. Und hustete. Ich war nie straflos, wenn ich litt. Wenn ich mit Fieber lag, war ich selbst schuld. Weil ich mich nicht mehr auskannte, war Fieber wieder Strafe.
Wie du dir deine Finger bogst und an den Rändern deines Nagelbetts an deinem Daumen immer wieder kratztest. Wie ich das dann Jahrzehnte später heimlich auch so machte.
Wie ich mit meinen Fingern nach Bestrafung suchte und nicht mal wusste, was ich tat. Ich übte Nachsicht, aber hatte keine. Nur meine Finger wussten was davon, wenn ich mir Haut vom Nagelbett wegkratzte. Das war nicht straflos und nachsichtig sein. Das war nur immer wieder etwas unterdrücken und wegkratzen. Wie Wut und Zorn und Trauer und Entsetzen. Ich spielte mir wie du nur etwas vor. Wenn ich mir deinen Schwachsinn anhörte und in mir weiterformulierte, so wie du wirklich für mich warst. So übte ich dein Strafgericht, und halt endlich dein Maul, du fettes, dummes Kind, du bist so dreckig wie nur irgendwas. Man muss dich einfach immer nur bestrafen, sonst lernst du niemals was. Du dummes, dummes, dummes Kind.
Wie du sprach ich in mir und später gegenüber jedem einfach weiter alles nach.
Wie böse und hart muß sich ein Kind vorkommen, das sich treu bleibt und das, was es wahrnimmt und sieht, nicht verrät.
Alice Miller Der gemiedene Schlüssel
Und gestern träumte ich, dass alle Bilder weg sind und verschwunden. Dass alles, was ich je gezeichnet und gemalt, gekritzelt und geschnitten und geklebt habe, verschwunden ist. Und plötzlich wusste ich, was mir gefehlt, was ich gesucht hatte.
Mit dir ist man gestraft!
Ich bin gestraft mit mir. Deswegen dachte ich dann später, vielleicht erkenne ich dich nicht, wenn du an mir vorübergehst. Vielleicht erkenne ich dich auf der Straße gar nicht wieder? Dass ich den Blick, die Augen, deine vorwurfsvollen Augen, noch nie ertragen hatte können, das wollte ich vergessen.
Selbstmord am Egg Rock
Hinter ihm platzten die Hotdogs auf und tropften
Auf die öffentlichen Grills, und die ockergelben Salzpfannen,
Benzintanks, Fabrikschlote – diese Landschaft
Aus Unvollkommenheiten, zu denen seine Eingeweide zählten –
Kräuselten sich und pulsierten in einem glasigen Aufwind.
Sonne traf das Wasser gleich einer Verdammung.
Keine Schattengrube zum Hineinkriechen,
Und sein Blut trommelte das alte Signal
Ich bin, ich bin, ich bin. Kinder
Kreischten, wo Sturzwellen sich brachen und die Gischt
Sich windzerrissen vom Kamm der Welle räufelte.
Eine Promenadenmischung im Galopp
Scheuchte einen Möwenschwarm von der Sandbank auf.
Er glühte, wie stocktaub, erblindet
Sein Körper strandete mit dem Müll des Meers,
Eine Maschine, die für immer atmet und schlägt.
Fliegen, sich durch die Augenhöhle eines toten Rochens fädelnd,
Summten und bestürmten die überwölbte Gehirnkammer.
Die Wörter in einem Buch schlängelten sich von den Seiten.
Alles gleißte wie leeres Papier.
Alles schrumpfte unter dem zersetzenden Strahl
Der Sonne, außer Egg Rock auf der blauen Verschwendung.
Er hörte, als er ins Wasser ging,
Die achtlose Brandung an jenen Felskanten schäumen.
Sylvia Plath
Wenn mich wer übersieht und ignoriert, dann bin ich überrascht. Der alte Schmerz und meine nie gefühlte Wut, dir gegenüber. Die mich alleine ließ und übersah. Die meine Tränen ignoriert und mich dafür bestraft hatte. Die mich, wenn ich verzweifelt war, nicht einmal weinen lassen wollte. Warum mich Rausch, Vegessenheit, Besoffenheit und durchgeknallt, am Rande von Bewusstlosigkeit zu sein, so angezogen und fasziniert hatten. Weil mich die eigene und die Achtlosigkeit der anderen im Rausch nicht mehr berühren konnten. Ich fühlte mich von meiner Scham geheilt.
Jetzt reg dich nicht schon wieder auf!
Wenn meine Mutter zu mir kam, um fünf Uhr früh, dann kam sie um vom Vater wegzukommen. Um sich vor Vater nicht zu schämen, stieg sie dann in mein Bett. Um fünf Uhr früh kommt Strafbedürfnis in mir auf.
Ich wünschte mir, du würdest mich nicht gar so dick haben, sagt Mutter irgendwann zu mir.
Ich würde sagen, Kafka habe nicht in seinen Werken die Struktur der Träume nachgeahmt, sondern er habe im Schreiben geträumt. In seinen Werken konnten Erlebnisse aus seiner frühen Kindheit ihren Ausdruck finden, ohne daß er es wußte, genauso wie in den Träumen anderer Menschen.
Alice Miller Du sollst nicht merken
Weil ich mein Strafbedürfnis nicht ausleben hatte können, behielt ich es im Traum. Als Richter, Henker und auch Polizist. Doch niemals träumte mir, ich wäre ein Verteidiger. Ich nahm im Traum auch alles hin, doch war ich damit nicht allein. In meinen meisten Träumen gab es nur Gefangene, die mitgegangen, mitgefangen waren.
Wenn ich klein bin, schade ich nicht.
Wenn ich nicht rumrenne, stoß ich nichts um. So sprach ich,
Unter einem Topfdeckel hockend, winzig und reglos wie ein Reiskorn.
Sie drehen die Brenner hoch, Ring für Ring.
Wir sind voller Stärke, meine kleinen weißen Gefährten. Wir wachsen.
Es tut weh zuerst. Die roten Zungen werden die Wahrheit lehren.
Aus: Sylvia Plath Gedicht für einen Geburtstag ff.
Was ein traumatisiertes Kind in seinem Innersten gefangen und fest hält, ist sein Bedürfnis nach der Wut, sein unterdrücktes Strafbedürfnis.
Meine umwickelten Beine und Arme riechen süß wie Gummi.
Hier können sie Köpfe richten und alle Glieder.
Am Freitag kommen die kleinen Kinder,
Um ihre Haken gegen Hände zu tauschen.
Tote Männer lassen anderen ihre Augen.
Liebe ist die Uniform meiner kahlen Pflegerin.
Dass ich nicht mehr vor meiner Mutter klage, deswegen straft sie ohne Unterlaß.
Liebe ist Knochen und Sehne meines Fluchs.
Wiederhergestellt, beherbergt die Vase
Die flüchtige Rose.
Mein Strafbedürfnis endlich spüren. Dass ich davor nicht länger zittern muss.
Zehn Finger formen eine Schale für Schatten.
Meine Nähte jucken. Es gibt nichts zu tun.
Ich werde so gut wie neu sein.
Ich hatte keine Ahnung, dass meine Angst mich zu blamieren daher kam.
Na wart, das wirst du mir jetzt büßen!
Denn sie blamierte mich und lächelte dazu, und wehe mir, ich würde wütend und wollte dazu etwas sagen. Mein Zwang zur Schaustellung, zur Bloßstellung und zur Erniedrigung von anderen dann später. So nahm ich mir auch andre, wie Freunde und mich selber vor.
Was soll denn das!?
Ich ließ das über mich ergehen, wie Medizin. Besuch im Kinderkrankenhaus. Wo man für Weinen und für Schmerzen, Aua, aua, aua, nur angeblitzt und so belächelt wurde von den Ordensschwestern, als wäre man mit Leid und ohne auch nichts wert. Sie schauten einen schwach, die bösen Schwestern. Du untertänig schon vom ersten Tag an, warst amüsiert von Kinderangst und Einsamkeit. Es machte dir hier Spaß auch andere wie mich blamiert zu wissen und zu finden.
Doch sie holten mich raus aus dem Sack
Und leimten mich wiederum zu.
Seither weiß ich, was ich jetzt tu;
Ich mach ein Modell, das bist du,
Ein Mann in Schwarz mit Meinkampfgesicht,
Der die Folter liebt und das Blut.
Und ich sagte, ja gut, ja gut.
Nun Papi, mit uns ist es endgültig aus,
Das schwarze Telefon, das riß ich heraus,
Daß die Stimme ewig jetzt ruht.
Aus: Sylvia Plath PAPI
Den, der mir niemals half, der vieles sah und wusste, dass Mutter sich tot stellte, den wollte ich als ersten dann blamieren. Den, der mir niemals beistand und mich nie befreite. Den wollte ich auch irgendwie blamieren. Indem ich ihm entkam. Indem ich von ihm wegrannte. Indem ich auch für ihn verschwand. Ihn wollte ich auch so blamieren. Verstecken wollte ich mich, dass er auch weint, nach Hilfe und nach seiner Mutter schreien würde. Doch Vater schlug mich einfach ins Gesicht und zerrte mich nach Haus. Und wieder nur zu ihr zurück. Und das war das. Und wieder war ich nur blamiert. Ich kam nicht raus aus der Bestrafungsfalle, Hölle, Strafbedürfnis; ohne die Wut. Ich kam nicht raus aus dem Bedürfnis zu beschämen. Ich kam nicht raus aus dem Programm, aus einem Strafbedürfnis, Strafprogramm, ohne die Wut auf dich Mutter und dein Blamieren.
Bestraft, gestraft, und Strafbedürfnis, Selbstbestrafung
Ich habe Angst und mir wird kalt und trotzdem zittere ich nicht. Nur wenn ich nichts tue, dann lacht mich niemand aus. Nur wenn ich gar nichts will, blamiere ich mich nicht. Nur wenn ich gar nichts bin, dann lässt die Mutter mich in Frieden. Nur wenn ich spaßig bin und lustig und mich in nichts einmischen, nur wenn ich jeden Spott ertragen will, dann werde ich auch nicht blamiert. Nur wenn ich nicht ausbrechen will und nichts zu fragen wage, nur wenn ich niemals zornig bin und nie mehr wütend werde, lacht Mutter mich nicht aus.
Aus dir mach ich noch einen bessern Menschen!
Mit selbst blamieren und mich bestrafen, mach ich mich immer besser.
Sheppard blickte durch den Raum auf das Kind. Es saß auf dem Boden, an einen Koffer gelehnt, von den Knöcheln bis zu den Knien mit einem Seil gefesselt, das es gefunden und um sich gewickelt hatte. Es schien so weit weg zu sein, als blickte Sheppard es durch das falsche Ende des Fernrohrs an. Er hatte es erst einmal seit Johnsons Ankunft verhauen müssen – am ersten Abend, als Norton entdeckt hatte, daß Johnson im Bett seiner Mutter schlafen würde. Sheppard hielt nichts davon Kinder zu schlagen, besonders nicht, wenn man sich dabei in Wut hineinsteigerte. In diesem Fall hatte er beides getan und mit gutem Erfolg. Er hatte keinen Ärger mehr mit Norton.
Flannery O’Connor Die Lahmen werden die Ersten sein
Mir kam nie in den Sinn, dass ich das so gelernt hatte. Die Unerreichbarkeit. Wie ich dann später immer wieder nicht erreichbar war. Für andere. Was ich tatsächlich übersah, dass ich für mich auch nicht erreichbar war.
Mich nicht erreichen lassen. Wovor ich doch als Kind so eine Angst gehabt hatte. Für mich selbst nicht erreichbar sein. Das hatte mich entsetzt und an den Rand gebracht. Ich war für mich nicht mehr erreichbar. Ich konnte mich nur selber noch bestrafen. Ich konnte mich nur selber nicht erreichen. Ich konnte für mich gar nicht da sein in der Not. Das hatte sie mir weisgemacht mit ihrem Strafgericht. Im Unterricht in Unerreichbarkeit.
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“, begann er wieder. „Ich habe mehr für ihn getan als für mein eigenes Kind.“ Er hörte seine Stimme, als wäre es die Stimme eines Anklägers.
Langsam wich die Farbe aus seinem Gesicht. Es wurde fast grau unter dem weißen Heiligenschein seines Haars. Der Spruch hallte wieder in seinem Geist, jede Silbe war wie ein dumpfer Schlag. Sein Mund verzerrte sich, und er schloß vor der Enthüllung die Augen. Nortons Gesicht stieg vor ihm auf, leer, verloren, das linke Auge, das fast unmerklich nach dem Außenrand verschoben war, als könne es den vollen Anblick des Jammers nicht ertragen. Sein Herz zog sich in einem so deutlichen und intensiven Ekel vor sich selbst zusammen, daß er nach Atem rang. Er hatte seine eigene Hohlheit mit guten Werken vollgestopft wie ein Vielfraß. Er hatte sein eigenes Kind nicht sehen wollen, um sein Wunschbild zu mästen. Er sah, wie der klaräugige Teufel, der die Herzen auslotet, ihn aus Johnsons Augen lüstern angrinste. Sein Bild von sich selbst schrumpfte, bis alles vor ihm schwarz war. Gelähmt vor Entsetzen saß er da.
Er sah Norton vor dem Fernrohr, ganz Rücken und Ohren, sah seinen Arm hochschießen und wie wild winken. Ein Sturzbach qualvoller Liebe zu dem Kind brach in ihn ein wie eine Lebenstransfusion. Das Gesicht des Kleinen schien ihm verwandelt; das Abbild seiner Erlösung; ganz Licht. Er stöhnte vor Freude. Er würde alles an ihm gut machen. Er würde ihn nie wieder leiden lassen. Er würde ihm Mutter und Vater sein. Er sprang auf und lief in sein Zimmer, um ihn zu küssen, ihm zu sagen, daß er ihn liebte, daß er ihn nie wieder allein lassen werde.
Das Licht in Nortons Zimmer brannte, aber das Bett war leer. Sheppard machte kehrt und raste die Bodentreppe hinauf und taumelte droben nach rückwärts, wie ein Mann am Rand eines Abgrunds. Der Dreifuß war umgestürzt und das Fernrohr lag auf dem Boden. Ein paar Fuß darüber hing das Kind im Gewirr der Schatten, gleich unter dem Balkon, von dem aus es seinen Raumflug angetreten hatte.
Flannery O’Connor Die Lahmen werden die Ersten sein
Ich hätte mit dem Wunsch nach Liebe ganz allein nicht überlebt. Ich hätte nicht gemerkt, dass Liebe für mich unerreichbar war.
Sei brav! Wir wollen nur dein Bestes.
Du musst nur sagen, wenn ich kommen soll, sagt Mutter dann Jahrzehnte später.
So tun, als wäre nichts geschehen. Als würde mir nur Liebe fehlen. Als würde nur die Liebe nötig sein, um mich nicht zu verlieren.
Sieh dich nur an! Die Augen ganz verquollen vom vielen Weinen. Und Tränensäcke wie ein Alter!
Sie lachten über mein Verhalten und blamierten mich damit. Bäh, bäh, wie Vater meine Hilfeschreie nachmachte und Mutter applaudierte.
Und wie verletzt ich war, und wie allein ich mich gefühlt hatte. Und wie blamiert, wenn ich mir etwas wünschte oder ein Bedürfnis in mir spürte.
Dank meiner Wut auf meine dumme, kalte, uninteressierte Mutter, erfahre ich, dass ich die Wahrheit heute sagen kann, ohne mich zu bestrafen.
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