Texte von Hugo Rupp

Das Mitgefühl

 

Das ist gleich vorbei, sagt sie.

Die Augen des Arztes schauen wie ein Keller, aus dem Tote steigen, mit Särgen auf den Schultern, die Särge eine Steintreppe hinauf schleppen, in die halbdunkle Welt außerhalb des Kellers, begrenzt durch eine Mauer und einen hohen Zaun. Seine Augen sind ein Korridor, der niemals endet, eine Stufe ohne Stufen, eine Treppe ohne Treppen, kein Weg der sein Ende zeigt. Seine Augen leuchten ohne Spiegel, keine Schatten, die ihm eigen wären, seine Augen haben keine Liebe, ohne Anteilnahme.

Das ist gleich vorbei, sagt sie.

Meine Angst sieht niemand. In Gedanken gehe ich in die Knie und erwische mich im Fallen. Stürze über meine eignen Füße, wie sie mir das immer sagten, dass ich nicht einmal richtig gehen könne, ohne über meine eigenen Füße zu stolpern.

Sie wissen alles von mir, sie wissen wirklich alles, wenn sie über mich reden. Erstaunlich ist, dass sie nichts von meinen Gefühlen wissen. Dass sie nichts von meiner Angst und meinem Schmerz und meiner Furcht wissen.

Seine Augen sind entzündet, rot. Seine Augen lächeln. Seine linke Hand hält ein Messer. Eine Lanze. Eine Spitze, Werkzeug, das zerreißen kann. Damit ritzt er mir den Arm, damit schneidet er mich auf. Damit reißt er meine Haut entzwei. Damit spaltet er meinen Arm.

Das tut nicht weh, sagt sie.

Ist auch gleich vorbei, sagt er.

Damit reiß ich dir den Zahn heraus, sagt der andere. Der mit dem schlechten Atem und den faulen Zähnen. Der mit immer roten Augen, der sich schwindlig redet mit den Augen, der so schaut, als sähe er nicht einmal meinen offnen Mund. Der Zahnarzt ist der böse.

Der ist gleich fertig, wirst sehen, sagt sie.

Meine Beine sind müde. Ich will nicht in diesen Stuhl mit dem vielen Licht, und meine Augen sind müder als sie sind, und dieser Mann hat mich nicht gern, er mag auch keine anderen Kinder.

Dieser Mann reißt mir Zähne.

Keiner hört mich. Seine Augen schauen in die andere Richtung. Keiner weint mit mir. Denn auch andere weinen nicht. Niemand scheint zu weinen von uns Kindern, wenn die Zähne aus dem Mund gerissen werden. Keiner spürt die Schmerzen, keiner sieht da zu. Keiner sieht uns schwitzen, wir schauen uns auch nicht in unsere Augen, weil wir nichts mehr sehen wollen, was uns an unser Zahnweh noch mehr erinnert, wollen raus aus diesem Zimmer.

Keiner war uns Kindern Zeuge, keiner hat uns aufgeholfen. Keiner hat uns recht gegeben. Keiner hat gesagt: das tut weh, das tat weh. Keiner hat uns aufgeholfen. Keiner hat uns angesehen, keiner hat uns aufgeholfen. Keiner hat uns angeschaut und uns erkannt, in unsrer Furcht und Einsamkeit. Keiner hat die Wunden aufgerissen und nun endlich nachgeschaut, was dahinter steckt, was uns so verwirrte, was uns auch versteinert hat, was uns abgetötet hat, was uns selbst zu Monstern machte, das uns schmerzempfindlich klein, dann zu schmerzunempfindlichen Monstern, Ungeheuern werden ließ. Keiner hat uns angeschaut, um uns zu retten, aus der Hölle unsrer Schmerzen. Keiner hat uns einmal nur gesagt, dass unsre Schmerzen tragbar sind. Weil ihr unsere Schmerzen niemals sehen wolltet, haben wir sie selbst für untragbar gehalten, haben sie mit uns geschleppt in unsern Körpern alle Jahre lang. Niemand hat uns aufgeholfen, niemand hat uns aus der Schlacht geholt, niemand hat uns einen Krieg verhindert, niemand hat uns einen Schmerz erspart, niemand hat uns mit den Schmerzen ausgehalten. Niemand wollte unsere Schmerzen aushalten, uns mit unseren Schmerzen sehen und behalten. Keiner von euch wollte uns mit unseren Schmerzen haben. Keiner wollte uns mit Schmerzen haben. Unsere waren für euch unsichtbar. Nur die Kratzer haben eure Augen noch erreicht, doch niemals der Schmerz, und noch weniger die Wut, die sich unter Schmerzen bildete, die sich auf die Vielfalt unserer Wunden in den Schmerzen bildete. Die sich wehrte gegen eure Blindheit, gegen jede Blindheit eurer Augen. Zeugen haben wir gesucht. Menschen, die uns in unseren Augen selbst bezeugen, die sich auch nur selbst bezeugen können. Zeugen, die mit uns die Kellertreppen wieder runter steigen, die mit uns die Wände voller Bilder sehen, die mit unsren Bildern sehen können, wie es war, wie es auch für sie gewesen ist, die mit uns den Keller dann verlassen. Zeugen, die mit unsren Bildern auch hausieren gehen in sich und dem Keller ihrer Kindheit und die ähnliches erkennen. Wir erflehten diese Zeugen in der Kindheit jeden Tag, wir versuchten sie zu finden, in den Augen ihrer Höhlen, in den Augenhöhlen suchten wir die Zeugen für die Bilder. Doch wir fanden keine Zeugen. Schließlich waren unsere Schmerzen alles was wir hatten, um uns selbst noch einmal zu beweisen, was wir selbst erleben mussten. Schließlich war die Wut unser einziger wirklicher Zeuge, der sich gegen die zugefügten Schmerzen wehren wollte und auch wehrte. Ohne die Wut des Kindes gibt es keinen eigenen Schmerz. Ohne die Wut wird das Kind in seinem ureigenen Schmerz nicht sichtbar. Ohne die Wut muss das Kind im Ozean des Schmerzes, dem Schmerz aller untertauchen und ertrinkt in diesem Meer aus Leid. Ohne Wut kann das Kind keine eigenen Bilder zeichnen und keine eigene Stimme haben. Ohne Wut kann das Kind kein Kind sein. Ohne Wut hört das Kind auf sich zu mögen. Ohne Wut hört das Kind auf irgendjemanden zu mögen. Ohne Wut muss das Kind alles akzeptieren, alles annehmen. Ohne Wut muss das Kind kapitulieren. Alles von sich vergessen, alles was es sich wünschte, begehrte, was es für sich wollte, was es liebte, was es verzweifelt bekämpfte, alles was es nicht hinnehmen wollte, alles was ihm Unrecht war und Gerechtigkeit. Ohne Wut muss das Kind seinen Mut verlieren. Ohne Wut verliert das Kind seine Freude und seine Ahnung für eine Veränderung. Ohne seine Wut muss das Kind sich immer gleich bleiben in seinem Verhalten, gegenüber sich selbst und allen anderen. Ohne Wut gibt es keinen Ausweg und keine Zeugenschaft. Ohne seine Wut bleibt sein Schmerz ohne ein Zeugnis für sein Elend und seinen Jammer. Ohne die Wut gibt es kein Vorbei sein, kein Ende des Schmerzes, keinen Sinn für den Schmerz, kein Zeugnis für das Überleben, keinen Überlebenssinn, keinen Sinn für das Überleben. Ohne Wut ist nie etwas vorbei. Ohne die gezeigte Wut bleibst du ohne einen Zeugen, der sich nur für dich empört. Deine Wut ist die einzige Stimme, die dein Leid und deinen Schmerz anerkennt, ohne Zugeständnis. Immer hast du dich geschämt, wenn die Mutter Schmerzen hatte, denn dann waren deine Schmerzen zu gering, dann war nichts aus dir gemacht, dann war wieder nichts mit dir. Dann war wieder nur verkennen, wieder nichts mit gleichem. Wenn die Eltern Schmerzen haben, gibt es nur Vergleichen, wer nun größer, stärker, mehr erträgt, wer nun wieder größeren Schmerz ertragen muss. Immer sind die Eltern die Gewinner.

Was glaubst du, was ich als Kind ertragen musste, sagt er dann.

Was meinst du denn, wie es mir ergangen ist, sagt sie.

Jede Schmerzensäußerung wird zwecklos, sinnlos für das Kind. Jede Äußerung seines Schmerzes wird nur zu einer weiteren Beschämung. Schließlich wird der Schmerz selbst zur Beschämung.

Schäm dich, wenn ich bei jedem Scheißdreck geweint hätte, was glaubst du, hätte da mein Vater mit mir angestellt, sagt er.

Sie lächelt nicht dazu.

Vater und Mutter machen das Kind zu ihren Zeugen, sie machen das Kind schmerzunempfindlich, wie sie selbst geworden sind, gegenüber jedem Kinderschmerz, jedem Gefühl des Kindes für sich und für andere. Sie bezeugen sich in ihrem Kind, in uns selbst, sie bezeugen somit ihre Kindheitsgeschichte, wie sie selbst aufgewachsen sind, was sie selbst ertragen mussten. Sie bezeugten sich in uns, in ihren Kindern immer wieder. Mit jedem Schmerz, den sie niederrangen und jeder Wut, die sie dem Kind verbieten, zeigen sie sich als Augenzeuge, und machen uns zu ihren Augenzeugen ihrer Art Geschichte. Das Kind bezeugt die Eltern in der Art und Weise, wie es jetzt mit Schmerzen umgeht, wie es sich verhält, wie es ist, wenn es Schmerzen gibt.

Jeder sucht sich einen Zeugen, notfalls nur im Traum. Jeder macht sich seine Zeugen, notfalls mit Gewalt. Wenn wir Frösche töten, machen wir aus Fröschen unsre Zeugen. Wenn wir Hunde quälen und auch töten, machen wir sie zu unseren Zeugen ebenso. Wenn wir unsre Katzen würgen, machen wir die Katzen auch zu unsren Zeugen. Wenn wir Menschen töten, machen wir die Opfer auch zu unsren Augenzeugen.

Wer die Wut des kleinen Kindes nicht entdeckt, das sich mit der Wut nur selbst entdeckt und als Zeuge endlich meldet, hortet seinen Schmerz, hortet seine Art Verachtung. Hortet seine Schmerzen alle. Der ertrinkt an seiner nicht gefühlten Wut, der erstickt sich bis zu einem Punkt, bis er seine über all die Jahre blind gewordene Wut schließlich nicht mehr länger als Wut ertragen kann und sie wie selbstverständlich in Hass verwandelt, in etwas bleibendes, in diesen stehenden Begriff, der für sich selbst auch Geltung hat. Der Hass hasst sich auch selbst. Der Hass geht immer auch mit einem Auge gegen sich den Hassenden. Kindliche Wut kann sich nicht gegen den Wütenden, das Kind richten, doch Hass kann das. Der Hass ist die Folge der unterdrückten Wut, doch niemals seine Ursache.

Dieses ehemalige Kind wird sich Zeugen für die Schmerzen suchen, wird sich Sündenböcke suchen, wird sich in den Sündenböcken auch vererben, der wird seine Art Gewalt in den Opfern hinterlassen. Der wird sich nun seine Zeugen suchen. Der Mörder/Täter macht sein Opfer zu dem Augenzeugen der Verbrechen, die an ihm begangen worden sind. Der Mörder/Täter sucht in seinem Opfer seinen Augenzeugen. Das Opfer muss erleiden und auch sehen, am eignen Leib erfahren, wie grausam unerbittlich der Mörder/Täter ist.

Wo ist das Kind?

Das Kind muss seine Wut verstecken.

Sag mir doch, dass du mich liebst!

Jetzt sind wir wieder gut!?

Jetzt ist doch alles doch vorbei!?

So schlimm war das doch nun auch wieder nicht.

Siehst du, habe ich dir das nicht gleich gesagt. Du musst nur auf mich hören.

Nur mit der Wut hört dieses Kind sich auf zu quälen, sich selbst mit seiner Art von Vorwurf selbst zu quälen, dass es nicht eher Ruhe geben kann, bis es entgegen allen anderen sein Recht behalten hat.

Du kannst nicht eher aufgeben, bis dass du nicht Recht behalten hast!?, sagt er. Oder?

Fühlst du die Grausamkeit, die sich in diesem Satz versteckt? Die sich mit seinem Wort verbirgt.

Du hast kein Recht, dich selbst zu wehren. Du darfst nicht wütend sein, du musst ihm nun verzeihen, du musst die Grausamkeit berechtigen, du musst dich nun verlassen. Du sollst ihr Augenzeuge sein und niemals deiner. Du musst ihr Augenzeuge sein, du darfst dich selbst mit deiner Wut nicht gründen, du sollst dich nicht begründen. Du darfst nicht Recht erhalten. Du sollst für ihre Taten zeugen und nicht für deinen Widerstand.

Du solltest dich nicht wehren.

Du solltest dich nicht bezeugen.

Du solltest dich nicht selbst erzeugen, mit deiner Wut ein eigner Mensch zu sein.

Du solltest nicht dein eigener Mensch sein.

Du solltest dir nicht selbst gehören.

Du solltest nur auf ihre Worte hören.

Du solltest dich mit deiner Wut dir selbst nicht merken. Du solltest deine Wahrheit nur für dich behalten und im Verborgenen damit dann bleiben.

Du solltest dich dir selbst nicht merken.

Du gehst jetzt durch den Hass zu deiner Wut zurück, dorthin, wo du dich finden kannst.

Ich würde da nicht hingehen, wenn ich du wäre, sagt sie.

Ich lächle sie an.

Aber wie ich dich kenne, wirst du dir von mir nichts raten lassen, sagt sie.

Ich schaue sie an.

Warum willst du dir den toten Jungen nur anschauen, fragt sie.

Nur so, sage ich.

Aber du kanntest ihn doch gar nicht richtig, sagt sie.

Ich mochte ihn auch nicht, denke ich, sage es aber nicht. Er war ein Angeber, immer einen Kopf größer, immer schneller und besser. In der Leichtathletik und im Fußball. Immer war dieser Junge besser als ich.

An was ist er überhaupt gestorben, fragt sie.

An Blutkrebs, sage ich.

Und wie alt war er, fragt sie.

Vierzehn, sage ich.

Nur zwei Jahre älter wie du, sagt sie. Und dann willst du dir den anschauen? In einem offenen Sarg?, sagt sie.

Ich lächle.

Tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich habe dich gewarnt. Komm nicht nachher und jammere mir etwas vor, von wegen Angst, wenn du nicht schlafen kannst, sagt sie und dreht sich um.

Du willst nicht mitgehen, frage ich und versuche sie zu überreden.

Nein, ganz bestimmt nicht, sagt sie und lächelt. Ich muss mir das nicht ansehen. Ganz bestimmt nicht.

Ich hätte gerne, dass sie mitgeht, aber sie will nicht, und wenn sie etwas nicht will, kann ich sie unmöglich überreden. Mutter kann man nicht überreden. Das kann niemand, nicht einmal Vater.

Ich gehe und rede mir immer wieder auf dem Weg zum Friedhof gut zu. Jemand könnte mich begleiten, aber keiner, den ich kenne, läuft mir zufällig über den Weg. Es ist jetzt Nachmittag, zum Ende des Frühlings hin, im Mai und endlich wieder warm und nicht mehr kalt. Jetzt bleibt es länger warm. Die Hose kratzt mit einer Falte an meinem rechten Oberschenkel. Ich kratze und ich bin sehr aufgeregt. Denn so etwas, das habe ich noch nie getan. Mir einen Toten angeschaut, und aufgebahrt in einem Sarg. Ich weiß wo das Leichenschauhaus ist. Es ist am Ende einer Gräberreihe, dort wo die Särge stehen. Dort wo die alten Frauen mit den schwarzen Kleidern immer stehen und sich unterhalten. Dort wo sie immer alle leiser und langsamer werden, wenn sie sich den Fenstern und der Tür nähern. Der Griff ist aus Eisen und klein. Ich gehe auf das Haus zu. Ich zögere nicht, mein Herz schlägt wie verrückt und meine Knie sind weich und schwammig, doch gehe ich immer weiter, bis zur Tür mit den Scheiben. Dort bleibe ich stehen und schaue hinein. Dort liegt er, geradeaus, direkt vor mir. Ich sehe ihn und glaube es nicht, dass es so etwas wirklich gibt. Ein Gesicht aus allen Farben. Mit dem rechten Auge aufgerissen und dem andern zu. Seine Haare sind blond und er hat die Locken, die ihn so schön machten, dass die Erwachsenen immer von einem Engelskopf geredet haben. Der tote Junge ist nicht schön. Das stimmt alles nicht, was ich immer dachte und ich habe Angst. Ich habe schreckliche Angst bekommen und drehe mich um und gehe den Weg zurück, den ich gekommen bin. Hinter mir gehen Fahnen und folgen mir, wie bei einer Prozession, und ich drehe mich um und sehe, dass da keine Fahnen sind. Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, ich weiß nicht, was das wirklich ist für mich. Meine Angst ist nicht begründet, denn ich kenne ihre Ursache nicht. Meine Angst ist für Mutter unbegründet, denn sie lächelt mich jetzt an.

Du bist ja kreidebleich, sagt sie.

Ich war auf dem Friedhof, sage ich.

Habe ich es dir nicht gleich gesagt, aber du wolltest ja nicht auf mich hören, sagt sie.

Ich erzähle ihr, wie er ausgesehen hat.

War sonst noch jemand auf dem Friedhof, in der Nähe, fragt sie.

Nein, sage ich.

Dann warst du da ganz allein, sagt sie.

Ja, sage ich.

Du traust dich was. Ich hätte mir das nicht getraut, sagt sie und lächelt.

Ich hätte mir das lieber auch nicht getraut, denke ich. Plötzlich gibt es eine Enge und Bedrohlichkeit, eine Angst vor engen Gassen, dunklen Häusern, Winkeln, Schatten und auch Bäumen, die ich nicht erklären kann. Etwas, das die andern nicht begreifen, da sie nicht die toten Augen kennen, weil sie diesen Jungen nicht gesehen haben. Mich mit meinem Zeugen.

Später, Jahre und Jahrzehnte später, ging ich immer wieder an den Ort, ging ich immer wieder zu der Stelle, wo der tote Junge lag, meinen Blicken ausgeliefert. Ich ging hin, schaute durch das gleiche Fenster, hielt den gleichen Türknauf, sah den gleichen Raum und wusste doch nicht, was ich eigentlich hier wieder wollte. Was ich hier an diesem Ort eigentlich verloren habe. Sagt man, dass man etwas verloren hat. Habe ich aber nicht. Die Fahnen, die hinter mir gingen, mir folgten, haben mir schon gezeigt, dass ich eigentlich etwas dazu bekommen hatte. Dass mir etwas gezeigt worden war, das ich nie begriffen hatte. Was ich auch nie später noch in dieser Stärke und Ähnlichkeit mit mir direkt fühlen konnte. Außer einmal, als ein kleines Kind mir von der Beerdigung seiner Urgroßmutter berichtete, dass sie da gewesen sei und dass ihr Vater nicht dabei gewesen sei, als der Sarg mit ihrer Urgroßmutter in die Grube langsam niederging. Schaute sie mich plötzlich an und mir wurde augenblicklich schwindlig, nur für einen Augenblick und dann senkte sie die Augen und wir spielten weiter Lego. Später fragte ich den Vater, ob er nicht dabei gewesen wäre. Doch, er hätte seine Tochter auf dem Schoß gehabt, als der Sarg nach unten ging.

Das ist auch schon wieder Jahre her.

Dann hatte ich den Traum, dass ich in dem hell erleuchteten Leichenschauhaus als Kind am Boden sitze und mit einem anderen Jungen Karten spiele, während hinter uns der Sarg offen da steht. Wir lachten und spielten Karten.

Dann wieder später träumte ich, dass es Sommer ist und warm, und ich sitze auf einer niedrigen Mauer mit einer alten Schulkameradin, die ich tatsächlich seit 15 Jahren nicht mehr gesehen habe, und sie lächelt. Sie hat viele Falten. In Wirklichkeit arbeitet sie auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Sie lächelt und stellt Fragen, von der ich keine einzige verstehe. Sie steht auf und geht zu einem Liegestuhl und legt sich hin. Wir sind auf einer Art Terrasse, es könnte ein verlassenes verfallenes Anwesen aus einem alten Film sein, der in den Südstaaten spielt. Alles ist verlassen und kein Licht ist hier. Plötzlich sehe ich Kotklumpen auf dem Boden liegen, die mit Haaren umwickelt sind, Kotklumpen mit Staub. Ich versuche nicht hinein zu treten, was ich nicht ganz schaffe, da es doch so dunkel ist und dann komm ich an ein Tor, das verschlossen ist. Ich stehe auf einem Vorplatz und vor mir steht ein winzig kleiner Hund. Seine Beine zittern unentwegt und er hat ganz große Ohren. Obwohl er am ganzen Leib zittert, schaut er mich freundlich an. Der Hund wedelt mit dem Schwanz und bedeutet mir, dass ich die Tür zum Palast doch öffnen soll. Der kleine Hund zittert und hat doch keine Angst, was sich hinter dieser Tür verbirgt.

Das was der tote Junge mir damals zeigte, und was ich nicht verstand, weil ich es nicht ertragen konnte. Dass dieser tote Junge damals, mein Zeuge war, für mein Alleinsein ohne einen Menschen, allein in einem Zimmer, selbst ohne einen Ton und ohne eine Stimme auch, und ohne eine Regung in den Wänden in der Luft und in der Welt, die mich umgab. Allein zu sein, das ist das schlimmste, was es für uns Kinder gab, allein zu sein und ohne einen Zeugen, der uns die Einsamkeit bezeugte. Ich musste immer Zeuge sein für Mutters Einsamkeit und Vaters Tapferkeit, für ihre Formen der Gewalt, doch für mich gab es keinen Zeugen, für meine Form der Einsamkeit. Da war niemand, da wollte niemand sein, das wollte niemand mir beweisen, dass Einsamkeit auch andere ergreift. Die Ähnlichkeit, die in dem toten Jungen lag, wie sie mir selbst erschien, wie ruhig er da lag, wie ruhig er da ist, und ohne einen Atem und ohne Wut und ohne eine Regung, so wie ich selbst da lag, erschöpft von meinem Weinen, erschöpft von meinem Husten, erschöpft von meiner Sehnsucht. Der tote Junge war mein Zeuge, er zeugte nur für mich, dass es mich einmal gab. Und dieser Junge war mein Feind gewesen, mein Gegner auch, ich mochte diesen Jungen nicht, er war mir immer über, ihn mochten alle anderen, sie mochten seine Leistungen im Sport, im Fußball und in der Leichtathletik.

Der leere Raum

Die Stimmen deiner Eltern, die deiner Mutter ganz besonders, hörst du in diesem Zimmer/Raum. Dich nicht. Du hörst die Mutter, die dich in dir um Hilfe ruft. Sie spricht in dir um ihre Hilfe für dich Kind. Sie betet für die Kinder. Sie betet neben deinem Bett und du sollst sie erhören. Du Kind sollst ihre Bitte nun erhören.

Ich bitte dich, sei endlich still. Ich bitte dich, bei allem was mir heilig ist, sei endlich still und einmal leise, sonst weiß ich nicht mehr was ich machen soll. Sei endlich still! Ich halte das nicht aus.

Sie betet in mein rechtes Ohr. Sie redet immer weiter. Ich ziehe an meinen Ohren, ich reiß an meinen Ohren. Ich drehe meinen Kopf nun hin und her, ich weiche ihren Worten aus, soweit ich kann. Ich weiche ihrer Stimme aus, der Drohung ihrer Augen. Ich weiche meiner Drohung aus. Ich weiche auch der Nähe aus. Ich weiche allem aus, auch keiner Angst. Ich weiche einer Welle aus, die mich erfassen will und zu ersticken droht, ich weiche ihrem Atem aus. Ich greife meine Nase. Ich fasse mich am Kinn. Ich strample und ich schreie. Ich weiche ihrer Nähe aus und ihrem Rachen. Ich rieche Blumen in der Nähe. Ich mag die Blumen nicht, die sie am ganzen Körper trägt. Ich höre nur die Laute. Mein Blumenwasser ist aus Salz. Ich schreie ihre Worte weg, ich schütte meine Tränen aus und wasche ihre Laute. Ich habe Salz in meinen Augen. Ich bin das Meer. Die Welle und der Sturm, ich bin mein Meer gewesen. Ich bin mein Meer gewesen. Ich bin mein Meer. Die Gischt treibt meine Finger an, die Wellen meine Zehen. Ich höre jetzt mein Rauschen. Ich huste unter Wasser. Ich kann auch unter Wasser sein. Ich schreie gelbe Töne. Das Licht ist in den Augen schwarz, auch wenn ich es verblitze. Sie hält mir schwarze Augen hin. Auch wenn ich Licht erblicke, bleibt sie in ihren Augen schwarz und wendet sich dann ab.

Die ausgestellte Stille, zur Schau gestelltes Leid. Der tote Junge ist das Bild, das in mir ist, von einem Jungen, der tun kann was er will, und schließlich ohne Wut und ohne einen Muckser ist, der nur da liegt, für alle sichtbar, griffbereit, der ausgestellt wird und allein gelassen, der ausgestellt ist und auch allein gelassen, der allen Blicken schutzlos ausgeliefert ist, der seine Krankheit zeigen muss und unaufhörlich zeigt, der nur mehr seinen Zustand zeigt, den alle sehen können, dem keiner helfen kann, dem keiner helfen konnte. Der Junge dort im Sarg, den ich beneidet habe, auf den ich eifersüchtig war, auf dessen Glück, das er bei allen die ihn sahen, wie er aussah und auch Fußball spielte und wie er laufen konnte, bei Wettbewerben auch gewann.

Der ausgestellte Junge, der ich in meinem Zimmer war, der schrie, und schreien konnte. Ich schrie und meine Wut war einzigartig. Ich schrie, und sie kam erst, wenn meine Wut verringert wurde, wenn ich schon still vor lauter Rufen, wenn ich schon so ermattet war, dass meine Wut schon nicht mehr sichtbar, hörbar war, wenn ich schon still, wenn ich schon selbst mich still geschrieen hatte, dann kam sie an mein Bett und lächelte. Die Heilige, die kommt, wenn Stille herrscht. Die Engel die erst kommen, wenn der Tod eintritt, die Helfer die erst kommen, wenn der Schrei verhallt. Die Engel hören deine Schreie nicht.

Warum bist du nicht mitgekommen, frage ich.

Ich habe es dir doch gleich gesagt. Tu das nicht. Aber du wolltest ja auf mich nicht hören, sagt sie.

Warum bist du nicht mitgekommen, frage ich.

Sie wendet sich ab. Sie hantiert mit Teilen in der Küche.

Warum!? Warum! Warum muss du immer alles wissen, sagt sie verärgert. Du willst immer alles wissen. Mir hat auch nie jemand etwas erklärt, oder ist bei mir geblieben. Ich wäre da nicht hingegangen, sagt sie und zögert. Das hätte ich getan. Ich wäre da nicht hingegangen. Ich hätte halt auf mich gehört, sagt sie. Du wolltest nicht auf mich hören. Jetzt siehst du, was du davon hast, sagt sie. Jetzt siehst du endlich selbst einmal, was du von deiner andauernden Neugierde hast. Was musstest du dich auch dafür interessieren, dir einen toten Jungen anzusehen. Wer hat dir überhaupt davon erzählt.

Sie haben es im Sportverein erzählt, sage ich.

Wer ist denn so dumm, das zu erzählen, sagt sie. Warum bist du nur hingegangen, fragt sie mich.

Ich schweige. Wie könnte ich ihr sagen, dass mich der Junge eifersüchtig machte, dass ich dem Jungen neidisch war, in allem, wie die anderen dem Jungen gegenüber waren, wie sie ihn auch bewunderten, wie sie auch stolz auf seine Leistung waren, wie wichtig er für ihre Begriffe war, wie wichtig dieser Junge andern war, und dass ich einen Stich bekam, dass ich mich freute, die Reaktion, dass ich mich insgeheim doch freute, dass dieses Glückskind, der wie ein Engel schaute, und doch für mich der allerletzte Angeber war, nun plötzlich nicht mehr lebte und niemanden mehr begeistern konnte. Der tote Junge gab mir Hoffnung, dass auch die andern alle, die Vater auf dem Sportplatz auch bewunderte, die er mit Blicken auch verfolgte, die er bewundernd auch erwähnte, wie großartig ihre Leistungen seien, und wie daraus vielleicht noch etwas großes werden könnte. Nur aus mir würde niemals etwas großes werden, das sah ich seinen Blicken an. Die Form, die Art Enttäuschung, die in dem Augenblick die Augen meines Vaters hatten, wenn er die Leistung anderer beschrieb und mich dann musterte, dass ich das alles nie erreichen würde können. Das traute er mir zu, dass ich das alles nicht erreichen würde. Das wollte er für mich, das sahen seine Augen für mich vor. Dass ich auch darin wieder Zeuge werden müsste, für das Versagen, für die Erfüllung aller seiner Prophezeiungen. Der Vater sah schon alles immer voraus, wie sich die Welt ereignen soll. Wie sich in seinem Sinn die Welt verhält und auch verhalten soll. Der Vater war mein Zeuge für das Versagen aller nur, und dass es bald schon wieder Krieg wird geben. Jetzt gibt es wieder Krieg, das war sein Glauben auch. Die Russen greifen wieder an. Die Russen provozieren wieder.

Was hast du dir dabei nur gedacht, dir einen Toten anzuschauen, sagt sie mehr zu sich.

Sie schüttelt den Kopf.

Ich brauche auf niemanden eifersüchtig sein, sagt Vater. Ich habe die hohen Herren erlebt. Ich habe die Intellektuellen im Lager erlebt, wie sie unfähig waren Brot aufzutreiben. Wir mussten sie durchfüttern. Ohne den einfachen Soldaten wären sie alle verhungert. Ich bin auf niemanden eifersüchtig. Ich bin nicht stolz darauf, was passiert ist und was alles passiert ist, aber ich fühle mich auch nicht verantwortlich dafür, sagt er.

Wenn ich das deinem Vater erzähle, dass du dir einen Toten angeschaut hast und dich erschrocken hast, dann wird der wahrscheinlich nur darüber lächeln. Was meinst du, wie viele Tote der im Krieg gesehen hat?, sagt sie. Was meinst du, was der alles erlebt hat? Dein Vater hat vom Krieg aus Briefe geschrieben. Für die Angehörigen, dass der und der aus der Familie gefallen ist.

Ich habe nie erlebt, dass einen der Tod wütend machen darf, dass einer sich empörte gegen diese Art des Umgangs mit dem Toten. Dass einer seine Stimme dort erhebt, wo mit den Toten umgegangen wird, als wären sie nur Stücke und Objekte, nur Dinge, in denen niemals Leben war.

Du brauchst doch über diese Toten nicht nach denken, höre ich in meinen Ohren klingeln, du brauchst dich doch mit denen nicht beschäftigen, sie haben es doch hinter sich, das höre ich jetzt mit dem Klingeln, da brauchst du nicht zu weinen, das spüre ich in meinen Zähnen. Dir fehlt doch nichts, du brauchst dich doch nicht darum kümmern. Was geht denn dich der Tod der andern an. Sei lieber dankbar, dass du lebst und dass du gesund bist, wie du bist. Du brauchst doch über diese Toten dir keinerlei Gedanken machen. Dir fehlt doch nichts. Das höre ich. Mir fehlt doch nichts. Dem Toten fehlt nichts mehr. Schau hin, dem Toten tut nichts weh, dem fehlt doch nichts. Das sagen alle Stimmen. Was kümmert dich ein fremder toter Junge? Den du doch außerdem nicht mochtest. Er fehlt mir nicht. Das ist es nicht. Das ist es nie gewesen. Dass mir nichts fehlen darf, das ist es schon gewesen, dass mir nichts mangeln darf, dass alles, was sie von sich geben, dass dieses alles ist. Mehr gibt es nicht, mehr soll nicht sein.

Was interessiert dich an diesem Jungen. Der ist tot. Den drückt kein Schuh mehr, sagt er, nachdem ihm Mutter doch alles erzählt hat. Was interessieren dich immer die anderen?

Ich schaue.

Dich interessieren immer die anderen. Wenn mich im Krieg die anderen interessiert hätten, wäre ich heute nicht hier. Das kannst du mir ruhig glauben. Dann wäre ich heute nicht hier und deine Mutter hätte wahrscheinlich deinen Onkel geheiratet, sagt er und lacht.

Mutter lacht auch.

Die Toten beißen nicht, sagt er.

Der Mangel

Ich wusste als Kind nicht, dass das Gefühl mir fehlte. Dass ich für mein Gefühl hier niemals einen Zeugen hatte, für diesen armen Jungen, den ich nicht einmal mochte, den sie dort einsam und allein, als totes Kind, den Blicken aller ausgesetzt hatten. Ich meine jetzt, dass ich von mir und jenem toten Jungen spreche. Die Bilder überlagern sich.

Dem toten Jungen selbst, dem fehlte auch Gefühl, für sich und alles andere. Es gibt den Zustand also doch, dass kein Gefühl mehr ist, dass nichts mehr übrig ist, dass eben alles fehlt, dass dieser Mangel, der Mangel dieses Jungen ist. Dass dieser Mangel immer schon da war. Der Hunger nach Gefühl. Ich wich den Blicken aus.

Das Kind weicht allen Blicken aus, es kann nicht mehr, da es begreift, dass jeder Blick, den dieses Kind heut sehen wird, nur wieder jene Kälte wiedergibt, die es gesehen hat, in sich und seines gleichen.

Nur Wut begreift erst wirklich und eindeutig, dass da etwas ist, das schmerzhaft ist, wenn es dir fehlt. Dass auch der Mangel fühlbar ist. Dass auch der Mangel, die Abwesenheit, schmerzhaft fühlbar ist, der Mangel an Gefühl. Das Mitleid mit dem Kind. Das Kind weiß jetzt, was ihm die ganze Zeit doch über fehlte, dass es das gibt, was es nicht gab für dieses Kind. Dass dein Gefühl, DAS ETWAS ist, das für dich ist und niemals gegen dich. Dass dies Gefühl für dich, dein Sinn erst ist.

Wenn ein Kind wütend ist, dann zeigt es sich und somit seinen Mangel.