„Erlauben Sie, Herr Vorsteher, daß ich Sie mit einer Frage unterbreche“, sagte K., „erwähnten sie nicht früher einmal eine Kontrollbehörde? Die Wirtschaft ist ja nach Ihrer Darstellung eine derartige, daß einem bei der Vorstellung, die Kontrolle könnte ausbleiben, übel wird.“
„Sie sind sehr streng“, sagte der Vorsteher. „Aber verstausendfachen Sie Ihre Strenge und sie wird noch immer nichts sein, verglichen mit der Strenge, welche die Behörde gegen sich selbst anwendet. Nur ein völlig Fremder kann Ihre Frage stellen. Ob es Kontrollbehörden gibt? Es gibt nur Kontrollbehörden. Freilich, sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst wenn einmal ein Fehler vorkommt, wie in Ihrem Fall, wer darf denn endgültig sagen, daß es ein Fehler ist.“
„Das wäre etwas völlig Neues!“ rief K.
„Mir ist es etwas sehr Altes“, sagte der Vorsteher.
Aus: Franz Kafka, Das Schloss
Ich dachte, ich sei ein schlechter Mensch, weil ich mich nicht immer nur um Mutter kümmern wollte. Ich dachte tatsächlich, dass wenn ich nicht andauernd an sie denken würde, ich doch ein schlechter Junge und Sohn sei. Wenn ich mich nicht andauernd um sie sorgen würde.
Ich fürchtete, ich würde ein Zuchthäusler, ein nachlässiger und nichtsnutziger Mensch, wenn ich was verlor, wenn ich nicht schnell genug was für den Vater machte, wenn ich nicht schnell genug gehorchen wollte. Wenn ich nicht schnell genug gehorchen wollte, dachte ich, ich sei ein schlechter Mensch und würde Vater nicht genügend achten und verehren, ich würde ihn nicht mehr gebührend lieben. Dass wenn ich nicht sogleich das alles was er von mir wünschte und sich von mir erhoffte, auch tatsächlich erledigen und vollenden würde, ich doch ebenso ein Zuchthäusler sei, wie alle anderen, von denen Vater sagte, dass sie Zuchthäusler seien. Dabei wusste ich gar nicht was ein Zuchthäusler ist.
Sie wollte immerzu geliebt werden, beachtet und dass ich immer auf sie achtete und aufmerksam sein sollte. Doch wenn sie jemand anderen da hatte, wenn Vater da war oder einmal meine Tante, oder ihre Schwester, oder überhaupt ein anderer Erwachsener, dann war sie nicht mehr so bedürftig.
Willst du nicht gesund werden, fragten sie.
Ich fühlte Schuld und Ungeduld mit jeder Krankheit wachsen.
An jeder Art von Zuwendung war eine Bedingung angehängt. Ich kriegte nichts umsonst.
Das erste Mal verstehe ich den Vater richtig.
Du kriegst im Leben nichts geschenkt. Glaubst du, mir hat jemand etwas geschenkt? Ich musste mir alles hart erarbeiten. Ich habe nie etwas geschenkt bekommen. Das sagte er mir immer wieder, wenn ich misstrauisch schaute und etwas doch erhoffte und mir noch wünschte und wenn ich mich auf etwas freute.
Ich kriegte und bekam tatsächlich nichts umsonst. Sie gaben nichts umsonst. Sie wollten von mir immer etwas haben. Ich weiß nicht, was noch schlimmer ist, als Nichts behandelt werden und dann noch etwas geben müssen?
Wie soll ein Nichts was leisten und hergeben? Wie soll ein Kind, dem immer nur gesagt wird, es sei nichts, solange es nichts darstellt und verdienen würde, ein Nichts und würde niemand anderen auch finden, wer sucht sich schon ein Nichts, der nichts darstellt und ist, als Partner und als Freund. Wer sucht sich denn ein Nichts als Freund?
Der Preis!
Ich dachte immer alles hätte einen Preis. Dass alles auch gewogen und bewertet werden muss. Dass das Naturgesetz auch sei. Dass alles das nichts sei, was unbewertet bliebe.
Denn jedes Zeichen das ich gab und jeden Laut den ich nur machte und jede Art Bemerkung die mein Körper machte, wurde bewertet und kontrolliert, gemessen und verurteilt.
Das Leben eines Kindes das so wie meins behandelt wird, ist stets ein Schnellgericht, solange nicht die eigne Wahrheit steht: Du konntest das doch nicht begreifen. Du hattest keine Schuld. Du warst nie ein Gramm weniger nur wert als deine Eltern. Die Seele hat unschuldig kein Gewicht. Nur mit der Schuld wird sie gewichtet.
Ich konnte Schuld nicht ausweichen. Und was noch schlimmer war, ich konnte meine Schuld auch nicht begleichen. Ich fühlte mich nie unschuldig. Ich wurde nie so „unschuldig“ wie meine Eltern. Ich war nicht nur ein Nichts, ich war als Kind noch weniger. Ich war ein nichtsnutziges und böses Kind. Ich war nie unschuldig für mich.
Solange niemand sich hinstellt mit seiner Gegenwart und ein Kind schützt, mit Unschuld und Empörung, verzeiht ein Kind sich nicht. Es weiß ganz einfach nicht, wie es das machen soll, wie so was geht.
Die Pfarrer, Geistlichen und Nonnen, Gläubigen, denen ich begegnet bin, bekräftigten und bejahten, meist noch mit einem Lächeln, nur immer wieder Schuld. Sündhaftigkeit des Herzens eines Kindes. Da war niemand, der einem Kind Unschuld zutraute. Sie waren alle viel zu feige dafür. Sie hatten alle Angst vor ihrem übermächtigen Vater und einer Strafe für ungebührliches Verhalten.
Wie soll jemand, der Angst hat vor Bestrafung, vor Schuld und vor Versündigung, bedingungslos denn lieben können?
Wie soll jemand der folgen muss, bei sich selbst bleiben?
Du bleibst gefälligst hier bei mir, solange ich nichts anderes dir sage. Hörst du! Du bleibst bei mir, bis ich dir sage, dass du gehen kannst. Solange bleibst du hier. Solange ich dir sage, du bleibst hier, bleibst du bei mir.
Der Riss geht durch die ganze Welt. Bedingungslos gehorchen müssen, bedeutet ungerührt zu bleiben. Für sich selbst nichts zu fühlen, nicht einmal eine Rührung mehr zu zeigen. Bedingungslos Gehorsam üben.
Du rührst dich nicht vom Fleck! Du bleibst gefälligst stehen. Du bleibst gefälligst hier bei mir. Hör mir gefälligst zu. Du bleibst jetzt so da stehen. Bleib einfach wo du bist. Du bleibst ganz einfach stehen. Du rennst mir nicht mehr weg. Du bleibst gefälligst hier.
So kann es keine Freiheit geben und kein Gefühl dafür. Gehorsam ist so schwer, weil er Lebendigkeit in jedem Fall verbietet und verhindert.
Ich hatte einen Kindertraum. Ich träumte, dass wir beide nebeneinander knieten, geradeaus schauten und dabei schwiegen. Ich träumte so von mir und meinem Vater. Dass er doch still sein sollte, dass ich von ihm nichts hören wollte. Ich träumte vom gehorsam sein und vom gehorsam bleiben. Wir hingen fest. Wir kamen keinen Deut vom Boden weg.
Es zeigt, wie ich mich bei ihm fühlte. Ich kam mit Schuld nicht mehr zurecht. Ich kam nicht mehr zu mir. Mein Vater ignorierte meine Wut, nachdem er mich geschlagen hatte. Die Wut hielt ich seitdem für ihn zurück und meinen Wunsch, den meines Körpers und meiner Seele nach Wiedergutmachung. Mein Vater ignorierte seine Schuld. Die Schuld, die ich nicht loswurde. Ich konnte nicht unschuldig werden. Ich hatte davor Angst, den Vater neben mir wie meines gleichen zu behandeln. Ich hatte vor ihm Angst. Ich hatte Angst ihn zu beschuldigen. Ich dachte doch tatsächlich später noch, ich würde mich selbst schuldig machen und versündigen, wenn ich ihn so behandelt würde, wie er mich. Doch heute kann ich meinen Eltern Schuld zuweisen, wie jedem anderen, der ein Kind schlägt und zusieht wie es leidet.
Wer ein Kind schlägt und demütigt und sonst auch irgendwie misshandelt, der macht sich schuldig.
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