Texte von Hugo Rupp

Das Gedankengut

 

Niemand rutscht einfach aus! Das gibt es nicht! Das kann es gar nicht geben, sagte er.

Der Junge der ertrank. Mein Vater nahm den Tod des Jungen her und hielt mir darauf eine Predigt. Er nahm den toten Jungen her, den ich im Gras gesehen hatte, nachdem sie ihn gefunden und geborgen hatten. Er nahm das Unglück eines Kindes her, um eine Strafpredigt zu schmücken. Er nahm den toten Jungen her, um mir zu drohen. Er nahm den Tod als Strafe her, damit ich mich für ihn bekehrte. Entweder tust du, was ich sage und hältst dich auch daran, oder du wirst so wie der Junge enden. Du stirbst auch irgendwann, so oder einfach anders, doch wirst du auch mal so daliegen, wenn du nicht auf mich hörst. Mein Vater machte Angst. Er nahm den toten Jungen, und machte mit ihm Angst. Er nahm den toten Jungen her, sein Unglück und die Folgen. Was seine Eltern jetzt durchmachen müssten, das malte er mir an die Wand. Das malte er mir in die Luft. Er predigte die Schuld, dass dieser Junge schuldig sei, am Kummer seiner Eltern. Der tote Junge musste ewig schuldig bleiben. Wer tot ist, kann sich nicht verteidigen. Mein Vater gab dem toten Jungen Schuld. Ein Sündenbock zu sein, als Sündenbock zu sterben. Ich konnte nichts darauf erwidern. Mir fiel darauf nichts ein. Ich hatte keinerlei Erklärung für das Verhalten dieses Jungen. Ich sah ihn dort im Gras liegen. Ich habe das gesehen, wie dieser Taucher mit dem Fuß in seiner Hand auftauchte. Ich habe das gesehen. Ich habe seinen Freund gesehen, der dort stand, weinte und so zitterte. Ich habe seine Haltung ganz genau gesehen, dass niemand ihn umarmte, dass er versteinern musste, weil niemand ihn beschützen wollte. Weil niemand diesen Jungen tröstete. Ich habe das gefühlt, dass niemand trösten wollte. Dem Toten und dem Lebenden blieb jeder Trost versagt. Ich habe das erkannt. Ich könnte über Angst noch reden, doch will ich das nicht tun. Nichts hat sich am Gefühl geändert, dass niemand damals etwas tat, was Hoffnung hätte machen können.

Es war für mich kein Traum, dass niemand sich für diese Jungen wirklich interessierte. Dass niemand sie entschuldigte. Dass niemand sie bedauerte. Ich wusste nicht, dass man sein Kind betrauern kann. Ich hörte immer nur vom Schmerz, den Kinder ihren Eltern zufügten, der Schuldigkeit, wenn sie den Eltern Ärger machten. Ich hörte immer nur von Schuld, die Kinder sich aufluden, wenn sie nicht hören und nicht sehen und ihren Eltern nicht gehorchen wollten. Ich wusste nicht, dass man ein Kind betrauern kann. Wenn mir was weh tat, schimpften meine Eltern. Dann war schon wieder etwas los gewesen, dann musste ich doch wieder etwas nicht befolgt, auf etwas wieder nicht gehört, bedacht haben. Ich war selbst schuld. Selbst dafür war ich schuld, dass ich selbst schuldig bleiben musste.

Ich trug die Wut und die Verzweiflung wie Rache mit mir rum, als müsste ich mich selbst damit verjagen und immer nur verscheuchen.

Mein Vater suchte Schuldige, wenn sich Gefühle zeigen wollten. Ich suchte dann mit ihm, ich folgte seiner Spur. Ich suchte nach Mitschuldigen. Ich suchte auch nach Schuld, ohne zu wissen was ich tat, dass ich damit auch mich blockierte. Dass ich die Wut verhindern half, auf jene, die nicht fühlen konnten. Auf alle mit der Seele stummen, tauben, blinden Zuseher, die nichts empfanden, für diesen andren Jungen. Der noch am Leben war. Ich suchte bei ihm Schuld. Nach Mitschuld am Ertrinken seines Freundes. Ich wusste nicht, dass keine Schuld hier war. Hier gab es keine Schuld. Ich wusste nicht, dass meine Suche alles schon blockiert hatte, was an Gefühlen hätte kommen können. Der Vater, seine Worte waren schon in mir mit seiner Suche nach der Schuld und Schuldigen. Er war in mir bereits verewigt, schon lange vor der Rede, seiner Predigt, die er mir später hielt. Er war schon längst mit seiner Schuld in mir. Es gab schon längst mein Schuldgefühl, Bekenntnis, Anerkennung, für einen Glauben, auch ohne den Beweis dafür. Dass immer jemand schuldig ist, egal was auch passieren würde.

Mit Schuld blockiert man Wut. Mein Vater zementierte die Verstörung, die in mir war, nachdem ich diese beiden Jungen dort am See gesehen hatte. Ich suchte nach Gefühlen, ob irgendwo noch welche waren. Ich suchte nach Gefühlen. Ich suchte noch bei meinem Vater. Ich hatte ihm doch schließlich das erzählt, was dort am See geschehen war. Mein Vater wurde sofort wütend. Mich reute das auch sogleich, dass ich ihm das erzählt hatte, weil er schon wütend auf mich wurde. Weil er mich doch auch gleich beschuldigte, warum ich nicht gegangen sei, warum ich mir das angesehen hätte!?

Es gab für mich gar kein Entkommen. Das merke ich erst jetzt. Dass ich bei meinem Vater nie ohne Schuld auskam. Dass ich von meinem Vater nie ohne Schuld wegkam.

Das also war der Grenzstein meines Vaters, mit dem er alles nur blockierte. Die Schuld, dass jedes Fühlen mit Schuld behaftet war, dass alles, was nicht reibungslos sich schinden ließ und funktionierte, in seinen Augen schuldhaft war. Wenn etwas für ihn schade war, dann lag das an der Schuld, die diesen Schaden erst hervor gebracht, geboren hatte. Mein Vater fand, erkannte niemals etwas anderes, wenn etwas traurig war: Gefühle schadeten. Sie machten und sie brachten immer nur den Schaden, und das war ihre Schuld. Ein Teufelskreis, aus dem kein Kind entkommen kann, wenn es wie ich schon so früh schuldig werden musste.

Ich dachte doch tatsächlich, Gefühle wären zugleich immer schuldig. Gefühle gäbe es nicht ohne Schuld. Deshalb war meine Wut als Kind so sehr verzweifelt in mir. Sie steckte in der Schuld selbst fest, die sich doch stets in mir erneuerte, so lange ich noch etwas fühlen konnte.

Und wenn der tote Junge sich gefreut hatte, und auch sein Freund mit ihm? Wenn beide sich doch vorher noch gefreut hatten?

Mein Vater machte nicht nur Tod und Trauer und Verzweiflung schuldig. Er machte den Versuch, sich selbst zu freuen schuldig. Er machte nicht nur das, er machte jeden gleich mitschuldig, der sich mit jemand freuen wollte.

Ich machte das dann später wie mein Vater. Ich gab im Grunde jedem Schuld, der sich lebendig fühlen wollte. Weil ich als Kind nicht merken konnte, wie schlecht und wie verletzend das doch war, was Vater zu mir sagte. Wie schlecht und wie verheerend sein Gerede von der Schuld tatsächlich war. Wie schrecklich sein Gedankengut selbst war. Weil ich mich nicht davon befreien konnte, solange niemand kam, wie Alice Miller für mich beispielsweise, die einem Kind die Unschuld wieder gab.