Texte von Hugo Rupp

Das Gebrechen

 

Ich kann ihn suchen, wenn er nicht da ist, aber ihn nicht hängen, wenn er nicht da ist. Man könnte sagen: >Dann muß er doch auch dabei sein, wenn ich ihn suche.< – Dann muß er auch dabei sein, wenn ich ihn nicht finde, und auch, wenn es ihn gar nicht gibt.

Ludwig Wittgenstein

Man kann sich auf dich nicht verlassen, sagt er. Man kann sich nicht hundertprozentig auf dich verlassen. Wenn ich mich im Krieg nicht hundertprozentig auf meine Kameraden und die sich nicht auch hundertprozentig auf mich verlassen hätten können, dann wäre ich nicht hier. Dann wäre ich nicht heil aus dem Krieg nach Hause zurück gekommen, sagt er. Wie oft habe ich dir gesagt, pass auf. Oder geh da nicht hin. Oder tu das nicht. Aber du hörst nicht, sagt er. Dir kann man alles doppelt und dreifach erklären, aber du willst nicht hören. Wenn man sich auf jemanden nicht voll und ganz verlassen kann, dann wird man ihm auch niemals voll und ganz trauen können. Lass dir das von mir gesagt sein, sagt er. Wenn man einem Menschen erst nicht mehr traut, dann ist es aus. Dann traut man ihm auch nichts mehr zu. Dann gibt man ihm nur mehr unwichtige Aufgaben. Irgendwann traut man so einem Menschen gar nichts mehr zu. Das ist doch unfassbar. Da lässt man dich mit deiner Schwester allein, und dir fällt nichts blöderes ein, als ihr Apfelstücke in den Mund zu stecken und sie wieder herauszuholen. Bist du noch zu retten! Wie kommt man denn nur auf so einen Blödsinn, sagt er. Wie blöd muss man denn sein, um sich so etwas einfallen zu lassen, sagt er. Man kann dich noch nicht einmal mit deiner kleinen Schwester allein lassen, ohne dass etwas passiert. Weil du nur Blödsinn im Kopf hast. Weil dir anscheinend alles egal ist. Weil es dich offenbar gar nicht kümmert, was mit deiner Schwester geschieht. Das mindeste ist doch, dass du das einsiehst und bereust, was du getan hast und was dabei passieren hätte können. Wie kann man nur so dumm sein, sagt er und schaut mich an.

Ich wollte meine Schwester nicht töten. Das interessierte meinen Vater aber nicht. Sie kamen immer wieder darauf zurück, dass man mir nicht vertrauen könnte. Sie blickten nicht nur vorwurfsvoll, sie schauten auch verletzt, als hätte ich nur immer ihnen weh getan. Ich war für beide schuldig. Das stand jetzt ein für alle Mal für meine Eltern fest. Egal was ich noch sagen und versuchen würde. Nach ein paar Tagen damals, musste ich meinen Eltern dankbar sein, dass sie mit mir nun wieder sprachen.

Man kann sich nicht auf dich verlassen. Das war das schlimmste, was ich von ihm über mich gehört habe. Mir wollte niemand glauben, das habe ich gemerkt. Was immer ich auch sagen wollte, es wollte niemand hören. Ich redete zu mir dann unaufhörlich, dass ich jetzt gut sein müsste, wieder gut, und dass niemals was ähnliches passieren würde dürfen. Ich redete mir selbst solange zu, bis ich von meiner Schuld vollkommen überzeugt war. Dass ich etwas getan hatte, das wirklich unentschuldbar sei.

Ich habe damals niemand was davon erzählt, und niemand wusste was davon. Ich hatte doch so eine Angst gehabt. Unglaublich diese Schritte, wie meine Mutter wiederkam, die Treppe rauf, mit meiner Schwester jetzt im Arm, und meiner Schwester Augenränder, wo ihr die Adern alle geplatzt waren. Unglaublich meine Angst und die Erleichterung, dass meine Schwester lebte. Verschreckt, verzweifelt war ich, was meine Eltern nicht begriffen.

Die Schuld war wie ein Sog, ein Strudel, in dem ich mich befand und immer tiefer fiel bis auf den Grund. Ich täuschte mich. Ich sollte meinen Vater und die Mutter achten. Ich sollte mich nicht länger lieben. Ich konnte mir nicht treu bleiben. Ich konnte nicht nein sagen. Wenn ich es dennoch später tat, dann quälte mich etwas, von dem ich nicht mal wusste, was es war. Ich fühlte mich bei jedem Widerspruch gleich schuldig, wenn ich der Mutter und dem Vater widersprach. Ich konnte nichts dagegen tun. Wenn Zorn und Wut auftauchen wollten, dann war ich alarmiert.

Ich wollte nicht mehr schuldig werden. Nicht ewig schuldig sein. Nicht wütend werden. Bitte nicht! Man sollte sich doch auf mich verlassen können.

Da saß ich doch an diesem Nachmittag, an dem die Schwester beinah gestorben wäre, auf meiner Bettkante und wartete, ob sie wohl überleben oder tot sein würde. Doch war das einerlei, weil mich die Eltern so behandelt haben, obwohl die Schwester überlebt hatte, als wäre ich trotzdem ein Mörder; mit ihrem festen Glauben an die Schuld. So habe ich die Niedertracht erhalten.

Du kannst nur Schwierigkeiten machen, sagt er und machte eine Pause. Mit dir hat man nur Schwierigkeiten und Verdruss. Er schüttelte den Kopf und ging.

Das hat aus mir den Sündenbock gemacht. Ein Sündenbock muss immer Sündenböcke suchen, solange er nicht seine Wut ergreift, um dieses Kind endlich zu befreien, das unter Ungerechtigkeiten stumm leidet, weil es doch ohne seine Wut sich selbst nicht einmal fragen kann, warum es so sehr leidet.

Feigheit, Verachtung gegen Schwäche. Verachtung eines schwachen und Verwundeten. Verachtung von Hilflosigkeit. Verachtung jeder Schwäche, jedes Leids. Ich stand derart verloren da, und er beschimpfte und erniedrigte mich. Je kleiner meine Würde wurde, je größer meine Angst, je böser und verletzender, beleidigender wurde mein Vater gegen mich, Und meine Mutter schwieg beharrlich. Er schlug auf meine Schwäche ein. Das ist die wahre Niedertracht, ein Kind im Angesicht des Schmerzes, der Wunde und Verwunderung, Verwirrung seines Herzens, gerade damit zu verachten. Ich fürchtete mich fürchterlich und zitterte. Die Angst, die in mir Flügel kriegte, um weg, um weg zu kommen, weg zu fliegen, denn fliehen wollte ich und wünschte mich so weit wie möglich weg.

Die Rachsucht, die von seinen Augen kam.

Als ich dann ein paar Wochen später mit meinem Freund, dem Robert spielte, da wurde ich so wütend und wusste nicht warum. Ich wollte nicht mehr länger mit ihm spielen, obwohl ich ohne Robert einsam war. Ich konnte ihn, wie er so glücklich einfach spielte, nicht mehr ertragen. Ich sagte: Was hast du eigentlich? Du hast noch nicht mal einen Vater!

Ich sah, wie Robert, dessen Vater nicht mehr lebte, gleich traurig wurde. Ich kann doch nichts dafür, war alles was er sagte. Er stand nur da und schaute traurig. Er hat mir augenblicklich leid getan, doch wusste ich tatsächlich nicht, warum ich Robert eigentlich verletzt hatte. Das ging mir Jahre durch den Kopf, doch fand ich dafür keinerlei Erklärung. Mit Niedertracht in mir, suchte ich meinen Freund, den Robert mir als Opfer aus, um mich an ihm für was zu rächen, das in mir war, im Grunde ohnmächtig. Die Rachsucht, ohne Gnade, niederträchtig sein. Weil meine Wut in mir als Kind ohnmächtig war, ohnmächtig auf die Eltern hatte bleiben müssen.

Ich wurde das Gefühl nicht los, ich hätte meiner Schwester damals wirklich etwas antun wollen.

Ich konnte ohne Angst nicht mehr zurück, nicht rückwärts und nicht vorwärts. Ich wollte nicht mehr heim und musste dennoch jeden Tag heimkommen. Ich suchte unentwegt nach Beistand und Begleitung. Nach einem Schutz für mich. Ich wusste nicht, dass ich das jemals selbst sein könnte, der sich beschützen kann und mit sich nimmt und niemals wieder einen Menschen so ausliefert, wie ich den Eltern ausgeliefert war.