Für Ernst Klein
Sie machte mich hilflos; wie sich. Versteckte sich, und ich schrie hilflos nach ihr. Zog Türen zu, versteckte sich dann hinter einem Vorhang und ließ sich reglos auf der Liege liegen. Bewegte sich nicht mehr. Sie ließ mich ohne Hosen da stehen, im Bettstadel allein und angehängt an Stäben stehen. Sie ließ mich ohne Windeln. Ich ging und suchte sie. Sie ließ mich ohne einen Laut. Sie ließ sich untergehen. Bevorzugt ließ sie sich auch sterben. Sie lächelte auf meinen Schock und mein Entsetzen hin. Sie lächelte auf meinen Schmerz. Und wenn ich hilflos war, und sie mich dann erschreckte, noch mehr an mir verbrach, indem sie mich noch einmal schreckte und erschreckte, war ich noch hilfloser.
Sie machte mich noch hilfloser und wütender, sie tat, als würde sie mich nicht bemerken. Wie ich erschrak und weinte, das nahm sie auch gleichgültig auf und wahr. Sie ließ mich hilflos liegen und machte daraus noch ein Spiel. Als eine Zierde ihres Herzens. Wer hilflos ist, muss sich selbst retten. Sie lächelt schelmisch noch dazu. Wie hilflos ich doch war. Wie süß, wenn ich mich furchtbar schämte. Wenn ich mein hilflos sein erwähnte. Wenn ich nach meiner Mutter schrie. Sie spielte mit dem Schrecken und Entsetzen später. Sie spielte mit dem Wunsch nach einer Rettungsmöglichkeit. Sie ließ sich dann auch wieder nieder. Sie setzte sich in meine Nähe und schaute etwas ratlos, dann ging sie wieder weg und schaute mich von weitem an. Ich sah sie einmal an der Türe stehen, nein hinter einer Wand, nein zwischen diesen Ritzen, auf mich und mein Gesicht verborgen amüsiert, wie glücklich, glücklich starrte sie, sie lachte doch tatsächlich glücklich. Ich habe dieses Schauen schon so lang vergessen. Wie sie sich freute, mich zu sehen, wie ich da lag und nach ihr suchte, wie alles in mir nach ihr suchte, wo ist sie denn, wo bitte ist sie abgeblieben? Warum bleibt sie nicht einmal da, wenn ich sie nötig habe. Ich sah sie dort tatsächlich stehen, wie sie mich durch den Türschlitz anblickte, ich sehe nur ein Auge. Ich sah ihr Auge auf mir. Vollkommen unbeweglich. Dann rief sie einmal wie ein Vogel. Das war auch sie. Sie machte die Geräusche, wie ich sie später dann in Horrorfilmen wieder hörte. Geräusche ohne Namen. Bedrohung ohne Grund. Grundloses Grauen. Scheinbar war immer etwas tödlich. Scheinbar verharrte jedes Grauen, um zuzuschlagen. Das Warten auf das Grauen. Mein Warten auf die Angst. Ich sah die Augen. Ich sah, wie meine Mutter mich beobachtete. Wie sie mich liegen sah, ich wusste nicht, dass sie mich hilflos machte, so hilflos wie ich vorher niemals war. An jedem Tag kam hilflos, noch mehr hilflos sein dazu. Mit jedem Ernst und jedem ihrer Spiele. Mit jedem Ernst und Spiel, was immer sie als Ernst und Spiel bestimmte. Sie definierte Ernst. Sie definierte Spiel. Indem sie meine Bilder malte, indem sie meine Legosteine nahm und damit Häuser baute. Indem sie meine Steine wieder wegnahm und den Bau veränderte, indem sie dann beim Halma spielen mir die Wege baute und empfahl, indem sie mich nichts fertig machen ließ, wie ich es doch begonnen hatte, indem sie mir die Freiheit nahm, verstärkte sie mein hilflos sein. Ich musste für sie hilflos sein. Ich konnte mir nicht helfen. Ich musste für sie hilflos bleiben. Ich wollte immer meiner Mutter helfen und merkte nicht, dass ich ihr doch nicht helfen konnte, dass sie sich doch nicht helfen ließ. Sie ließ sich nicht aufwecken. Und ich verhängte mir die Schuld. Ich nahm Schuld an. Dass ich sie nie verändern hatte können. Dass ich sie nicht verändern konnte. Das machte mich noch hilfloser. Indem sie mein versuchen, dann immer nur zerstörte. Wenn ich ihr etwas schenkte, wenn ich für sie was machte, dann freute sie sich nicht. Sie schaute sich was an von mir, dann legte sie es weg. Ich schämte mich dann sehr. Denn nichts von dem, was ich ihr gab, war gut genug. Ich sollte hilflos bleiben.
Sie gab mir immer recht, wenn ich mich hilflos fühlte, dann unterstützte meine Mutter mich und meine Sicht, dass meine Tränen auch nichts helfen würden. Das nützt doch nichts. Das hilft jetzt auch nichts mehr, sagt sie. Ich wusste niemals und verstand das auch nie wirklich, dass sie mein hilflos sein nur unterstützte, dass sie mein hilflos sein bestärkte. Dass sie ihr hilflos sein damit beherrschte. Dass sie mir dabei half, noch hilfloser zu sein, noch hilfloser zu werden. Dass sie mich hilflos, hilfloser werden ließ und mich das lehrte. Dass sie mich hilflos machte. Dass sie mir das beibrachte, wie ich mich später hilflos machen konnte. Wie ich mich später hilflos gab. Dass sie mich nicht nur hilflos ließ. Nein sie bestärkte mich darin, dass nichts von dem, was ich versuchte, ob das nun Wut und Trauer oder Hass auch war, nichts von mir, keine Reaktion, für sie, in ihren Augen etwas ändern würde, was mich betraf, was mich erschreckt hatte und auch bestürzt hatte, was mich verletzen und verwunden würde. Nichts was ich gab und geben konnte, war für sie gut genug. Sie unterstützte mich, mein hilflos sein, und sonst nichts anderes. Ich sollte ihr damit gehören. Hilflos und ohne eine Rettungsmöglichkeit, verließ mich schließlich jeder Mut. Die Mutter lag nur da und zugedeckt mit einem Kissen. Sie rührte sich nur träge, wenn ich sie anstieß und anstupste, dann zog sie sich die Decke über ihren Kopf um zu verschwinden, vor mir. Ich fühlte mich ausschließlich hilflos mit ihr. Ich fühlte mich vor ihr allein und hilflos, allein gelassen hilflos war ich vor ihr, egal was ich auch fühlte. Ich sollte hilflos sein und hilflos bleiben. Sie zeigte mir das hilflos sein. So blieb sie hilflos vor mir liegen. Und sagte auch kein Wort. Sie schaute ohne Regung. Die Maske, die mich Kind verrückt machte, wenn keine Regung mehr stattfand. Gesicht, tot, ohne Spiegel, war keine Maske. Das war doch meine Mutter.
Hilflosigkeit im Traum. Die Mutter ändert ihr Gesicht in einem Spiegel. Sie schminkt sich und verändert sich. Kein Halten in den wohlvertrauten Zügen. Ich wollte immer darin eine Botschaft lesen. Wie jedes Kind das immer unentwegt versucht, Botschaften aus den Zügen abzulesen. Aus ihren Augen, auch um die Augen noch zu lesen, was diese Frau bewegt. Das stille, tote, reglos Schauen, erschreckte mich wie nichts, denn keine Botschaft konnte ich als Kind, das kann kein Kind, nicht sehen und erkennen. Ein Kind muss alles messen und begreifen. Die Mutter musste eine Qualität doch haben. Ich sah die Botschaft für mich und ich lernte. Ich konnte keine andre Botschaft sehen und begreifen. Nur hilflos sein und hilflos bleiben müssen. Hilflos mag ich dich sehr. Hilflosigkeit, nichts sonst, damit beschäftigst du die Mutter. Hilflosigkeit mag sie, auch wenn du hilflos bleibst. Auf deine Mutter angewiesen, auf jede ihrer Taten hilflos sein. Egal was sie auch tut, du bleibst hilflos.
Das nannte der Vater dann bemuttern. Das nährte meine Scham wie nichts vor ihm. Dass er mich feige nannte. Als müsste ich mich selbst mit meiner Scham begraben. Mit meinem hilflos sein, mit meinem hilflos sein müssen. Denn meine Wut war jetzt verschwunden. Wer hilflos ist, kann sich nicht länger wehren. Mein Vater wollte mir nicht helfen. Mein Vater mochte keinen, der hilflos war. Er hasste hilflos sein. Er hasste den, der hilflos war, hilflose Menschen. Ich hatte auch niemand, das sagte er und drehte sein Gesicht. Ich musste mir auch alles selbst beibringen. Für Tränen kann man sich nichts kaufen, das sagte er. Als wären Tränen eine Schuld. Als würde sich, der weint, was dafür selbst auch schuldig bleiben müssen.
Ich blieb mir immer etwas schuldig. Ich fühlte Schuld, als hätte ich etwas vergessen. Als hätte ich mich selbst damit verbraucht. Als hätte ich selbst meine Not bezweckt, um meine Eltern zu verjagen. Um meine Eltern zu verschrecken. Ich machte sie hilflos, das war die Botschaft meines Vaters. Sie konnten mir, sie würden mir nicht helfen, und das sei ganz alleine meine Schuld. Sie blieben unsichtbar. Ich kam als Kind niemals auf die Idee, mein Vater könnte hilflos sein. Die Mutter hilflos? Gibt es nicht.
Sie waren doch tatsächlich hilflos. Auch hilflos in Gedanken. Hilflos auch in der Phantasie. Sie hatten keinen Trost. Sie waren hilflos in der Not. Sie waren ohne Hilfe: Für sich, für mich. Für sich, für mich im Grunde tot. Sie hatten keine Hilfe übrig. Nur hilflos sein und bleiben müssen. Das konnten sie. Das war die Lehre ihres Kindes. Lebendig hilflos sein zu müssen. Das war ihr Kinderdasein selbst gewesen, von dem sie nichts mehr wussten. Was habe ich geschrien, und sie erkannten nicht die Not, das hilflos sein.
Die Drogen und der Alkohol, Schauspielerei und Masken, Versteckspiele, Komödien, Verwechslung, Größenwahn, das Drama des begabten Kindes, Geniedasein verdrängt wie nichts ein hilflos sein. Der Glaube an was übersinnliches, an einen Gott in allen Dingen. Die Illusion von einer fremden Macht. Als könnte man nachträglich etwas damit richten. Als könnte man nachträglich nicht mehr hilflos sein. Als könnte man das ändern, die Reihenfolge, als wäre hilflos sein und wehrlos ausgeliefert, nicht mein Gefühl von Anfang an gewesen.
Ich hatte diesen Blick. Ich habe ihn verwendet. Ich habe diesen Blick auf mich, auch ebenso auf andere gerichtet. Mit gleicher Gleichgültigkeit, mit selber Kälte wie sie auf mich fiel. Mit dem Gespür für Isolierung, Einsamkeit, Kontrolle. Das war ihr Blick, den ich verwechselt habe. Ihr Blick für mich, wie ich dann später schauen konnte.
Verrückt.
Sie schaut mit einem Auge, starrt den Türschlitz durch, wie sie beobachtet. Das ist nicht gut gemeint. Das ist nicht freundlich sein. Das ist nicht, wie man sagt, ein Auge haben auf etwas. Ein Auge werfen auf jemand. Das ist Gleichgültigkeit, forschender und kalter Blick, der Blick ist ohne Mitgefühl, wie Wissenschaftler, die an Tieren Menschen forschen, das ist ein Blick für ein Versuchskaninchen. Der ohne Herz und Anteilnahme, das ist der kalte Blick eines Beobachters. Der Blick, der wollte mir nicht helfen. Der war nicht bei mir, nein, der schaute teilnahmslos, das Auge meiner Mutter, unheiliger Geist, der nur zuschaut. Ihr Blick, ihr Auge das ich damals sah, verrät mir heute erst, was ich bei ihrem Anblick damals fühlte. Die nackte Angst allein mit ihr zu sein. Wenn ich dann später diesen Blick auf mir bemerkte, verflachte sich mein Atem unwillkürlich, augenblicklich. Versteck dein hilflos sein, lass dir nichts anmerken, jetzt nur nicht wütend werden und nicht schreien, das Auge dort will dich nicht wahr haben. Das Auge dort will dich nicht haben, wenn du dich wehrst und schreist. Begreif dein hilflos sein, als etwas Unabänderliches; naturgemäß, naturgegeben.
Das was ich damals lernte, war die fatalste Lüge. Dass ich die Wut in mir bekriegen sollte, dann wäre ich nicht länger einsam und verlassen. Dass meine Wut mich hilfloser nur machte, das war gelogen, das war nicht wahr.
Das Gegenteil von hilflos, ist unabhängig sein. Wer ein Kind liebt, gerade in der Not, und ihm die Wut gestattet, macht diesem Kind erst Mut und lässt es unabhängig werden. Die Liebe und die Hilfe in der Not, macht dieses Kind erst unabhängig, auch von der Not. Die Liebe in der Not zeigt einem Kind, dass es mit Fühlen leben kann und sich selbst damit heilen, was ein Gefühl erleben heißt, dass Schmerzen erst gefühlt, wirklich vergehen können. Dass du mit deinem Fühlen dich befreien kannst.
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