Texte von Hugo Rupp

Büßen an sich

 

Am Friedhof stehen wir und sie erzählt von all den Toten. Ich schaue sie groß an, und meine Mutter lächelt und deutet auf die Gräber und die Namen auf den Grabsteinen.

Die kannte ich! Die nicht. Dein Vater kennt sie alle.

Die Geister der Gehässigkeit, die scheinbar nichts von ihrem boshaft sein selbst wissen. Die treiben meine Hände an, was ich in meine Bilder male. Wie Mutter mich anschrie, und mir den Pinsel aus den Fingern riss und wieder alles übermalte.

Den Affen für jemanden spielen – einer anderen Person gehorchen, sich für diese unter Umständen auch lächerlich machen. Auf Jahrmärkten traten früher häufig Gaukler mit Tieren wie Affen auf, die alle möglichen Kunststücke vorführen mussten, für die sie teilweise schikanös dressiert worden waren.

Aus: Liste deutscher Redewendungen, wikipedia.de

Warum ich niemals ohne Vorbehalt und ohne Vorsicht war. Warum ich mir nicht selber traute. Warum ich log.

Wie unterdrückte Wut in meinem Nacken zieht und juckt wie frische Bienenstiche.

Halt dir die Hand gefälligst vor den Mund, damit du mich nicht anspuckst, wenn du hustest!

Wie ich auf Zuspruch angewiesen war und dafür immer nur Gehässigkeit geerntet habe.

Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dir deine Hand vor deinen Mund halten!?

Wenn ich zu langsam für sie war, und schaute, stehen blieb, auch etwas von den Kleidern, Stoffen, anfasste, mit meinen Fingern maß und große Augen machte; da stand und etwas roch, und sie nur weiter wollte, jetzt raus aus dem Geschäft, dann ließ sie mich allein. Verloren plötzlich zwischen stillen Stoffen, stummen Kleiderpuppen. Und kein Gesicht das half, weil der Verkäufer sich für sie vor mir verkroch.

Was weinst du denn?! Ich bin doch da! Du brauchst doch nicht zu weinen!

Sie wusste, wie sie mich erschreckte. Sie wusste immer, wie sie mich erschrecken und verzweifeln konnte.

Jetzt ist schon wieder wer ertrunken! Stell dir nur vor. Das dritte Kind in einer Woche.

Doch wer ertrank, ist immer selber schuld gewesen.

Jetzt ist schon wieder was passiert.

Wer etwas machte, wagte, unabhängig sich gebärdete, für meine Mutter war das immer ungehörig sein und das verdiente büßen.

Wie Vater mir dann immer was verbot. Wie er mir etwas schlecht redete. Weil ich für meine Wünsche büßen sollte.

Warum steigt der dann in den See!? Wenn er nicht schwimmen kann! Wie blöd kann man denn sein?! Geschieht ihm recht!

Wenn jemand krank wurde? Wenn jemand sich ein Bein brach, stolperte? Wenn ich hinfiel?

Geschieht dir recht. Was musst du so schnell laufen?!

Aber hier ist der Umweg, auf dem ich diese Wut und den Haß aufeinmal doch spürte: meine tagtägliche Einsamkeit hat dazu geführt, daß ich mir ein Paar Papageien angeschafft habe, damit ich wenigstens zwei Geschöpfe habe, mit denen ich sprechen kann. Diese beiden Tiere aber beschäftigen sich nur miteinander; es gelang mir trotz entsprechender Vorkenntnisse nicht, diese beiden Vögel zu zähmen. Im Gegenteil, sie reagieren auf mich nur mit Angst, sie schreien und springen im Käfig herum, wenn ich mich nur nähere. Sie fressen Tapeten, Holzrahmen von Türen und Bildern, nagen Möbel an und ich springe deshalb ständig hinter ihnen her, beschimpfe sie, jage sie – und habe nun nach acht Monaten, in denen sie mich „zur Weißglut getrieben haben“ nur noch einen unbändigen Haß auf sie. Es ist ganz klar, daß sie instinktiv meine Abneigung spüren – wie anders sollten sie sich auch verhalten!? Meine Wut ist manchmal so unerträglich, daß ich auf ihrem Käfig herumschlage, nur um sie noch mehr einzuschüchtern. Natürlich überwältigt mich dann auch die Scham, daß ich die Tiere quäle, die nur ihren Instinkten folgen. Inzwischen habe ich mich entschlossen, jemanden zu suchen, an den ich die Tiere abgeben kann; manchmal überwältigt mich der Gedanke, ich könnte sie einfach aussetzen oder ihnen den Hals umdrehen. Das könnte ich allerdings nicht tun – davor habe ich die größte Angst; denn eigentlich tun mir die Tiere entsetzlich leid. Ich habe von ihnen Zuwendung erwartet, die sie mir nicht geben können – es sind eben Tiere mit größtem Freiheitsdrang.

Aus: Leserbrief, Haß und Wut, Sunday 22 July 2007 © 2017 Alice Miller

Wie grob sie ist und wie sie tobt, wenn ich nicht gleich pariere, wenn ich nicht gleich nach Angst und Schuld und Reue rieche. Sie blitzt mich mit den Augen an und rümpft die Nase, als würde ich nach Sünde stinken.

Jetzt geh ich weg und lass dich ganz allein.

Weil du nicht richtig schaust. Jetzt hast du dich geschnitten! Hab ich dir nicht gesagt, pass auf!? Pass auf, wohin du schneidest!

Jetzt kommt der Schwarze Mann, wenn du nicht schlafen willst!

Endlich verstehe ich das büßen müssen, warum ich selbst danach so Ausschau hielt und so verzweifelt in mir danach schrie. Weil alle anderen auch büßen müssten.

Schau weg! Jetzt frisst er sie, sagt Mutter immer wieder, wenn sich im Fernsehen zwei küssen.

Deswegen saß ich später dann allein im Kino, am liebsten Nachmittags im Sommer. Denn dort versuchte ich mich nicht zu schämen, für das, was ich dort sah, und was ich dabei noch empfand. Im Dunkeln und allein versuchte ich noch insgeheim, für meine Neugier und die Sehnsucht nach Nähe und nach Zärtlichkeit, nicht gleich zu büßen. Denn draußen in der Wirklichkeit war für mich jeder Widerspruch verhasst. Weil jeder Widerspruch, verlassen werden und ganz allein in einer Welt zu sein, bedeutete, nur wieder büßen müssen für mein Leid.

Ein Beispiel: immer wenn meine Geschwister und ich sie fragten, mit was wir ihr denn zum Geburtstag oder zu Weihnachten eine Freude machen könnten, dann bekamen wir zu hören: „ich will doch gar nichts, ich will doch nur liebe und brave, artige Kinder.“ Das ließ uns hilflos zurück, weil wir natürlich dachten, egal, was wir ihr schenken, es reicht nicht – und wir dachten: was müssen wir bloß für schreckliche Kinder sein, wenn das ihr einziger Wunsch ist…

Aus: Leserbrief, Haß und Wut, Sunday 22 July 2007 © 2017 Alice Miller

Sie hatte mir das beigebracht, alles zu hassen und in mir zu entwerten, was ich für sie stets büßen hatte müssen.

Auf einem Spaziergang mit ihrer dreijährigen Enkelin, fing das Kind schrecklich an zu weinen. Nach unserer Mutter habe sie gar keinen Grund dazu gehabt. Das Kind hat sich so sehr ins Schreien und Weinen hineingesteigert, daß die Großmutter es rasch wieder nach hause zerrte. Dort teilte sie meiner Schwester mit, sie werde nicht mehr mit dem Enkelkind ausgehen – es sei ihr schrecklich peinlich gewesen, daß das Kind so ungezogen geschrieen habe. Die Passanten hätten ja denken müssen, das Kind sei unerzogen und sie habe es nicht im Griff. – Daß etwa die Passanten auf den Gedanken hätten kommen können, sie habe dem Kind etwas angetan, darauf kam sie nicht. Heute weiß ich, nicht das Kind kümmerte sie, sondern nur ihr Ansehen wildfremden Menschen gegenüber.
Eine zweite Geschichte bestätigt das – meine Schwester hatte einmal wohl vergessen, daß sie sowohl unsere Mutter als auch mich gebeten hatte, die dreijährige Tochter zu sitten. Wir hatten beide Zeit und waren gleichzeitig erschienen. Da kam meine Schwester auf den fatalen Gedanken, das Kind zu fragen:“wer soll denn bei dir bleiben, die Oma oder M.?“ Das Kind sagte ohne Umschweife:“ja, dann M.!“ – Da fing unsere Mutter an, bitterlich zu weinen; sie fühlte sich von dem kleinen dreijährigen Mädchen zurückgewiesen. Ich bot an, zurückzutreten – aber beleidigt wehrte sie ab und verließ die Wohnung. Und das Kind konnte gar nicht verstehen, weshalb sie die Oma so traurig gemacht habe und hatte bereits ein schlechtes Gewissen.

Aus: Leserbrief, Haß und Wut, Sunday 22 July 2007 © 2017 Alice Miller

Solang ich schrie und weinte, wütend war, solange ließ sie mich auch büßen.

Aber noch immer scheue und schäme ich mich, die Wut über meine Mutter vor allem herauszulassen; obwohl ich zuweilen innerlich vor Wände laufe und mich fühle als hätte ich mir daran die Stirn blutig geschlagen. Und dann schäme ich mich natürlich auch, daß ich Wut auf eine Tote habe – meine Mutter starb übrigens ganz unerwartet ein Woche, bevor ich zwanzig Jahre nach meiner Volljährigkeit, endlich den Mut aufbrachte, aus der gemeinsamen Heimatstadt wegzuziehen. Ich sehe das immer so, als sei das ihr letztes Mittel gewesen, mich zu halten; als sei sie vor Verzweifelung, mich nicht mehr in der Hand zu haben, gestorben.

Aus: Leserbrief, Haß und Wut, Sunday 22 July 2007 © 2017 Alice Miller

Was hat mich meine Mutter ausgelacht, wenn ich mich duckte und erschrak. Was hat sie über mich gelacht und meine Angst. Wie ich mir immer lächerlich vorkam, wenn mir etwas passierte. Wenn etwas mich erschreckte, lachte sie, wie ich dann später ganz genau so lachen konnte über Angst. Wie lächerlich mir Angst vorkam, wie affig und zum in den Boden kriechen.

Ich war darauf dressiert die Wut auf sie zu büßen. Ich fand mich selber schließlich lächerlich damit. Ich machte jeden lächerlich, der sich selbst ohne Hohn und Spott beschrieb. Wer sich selbst nicht als Clown sah, Untergeher, Zyniker, als Prediger des Untergangs, der war für mich ein Narr, der nichts verstand. Ich machte mich zum Affen meiner selbst und spottete über Gebrechen. Dressierter Affe, das war ich. Ich war darauf dressiert mich und mein Leid und das der anderen nur zu verspotten.

Und konnte mir nicht selbst vergeben.

Siehst du, hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht so schnell essen!?

Ich hatte Bauchweh und ich träumte von Ertrunkenen.

Für jede Antwort, die ich meiner Mutter ehrlich gab, ließ sie mich büßen. Und sie vergab mir niemals ein Wort. Ich habe jede Äußerung von Leid ihr gegenüber später immer nur bereut, weil keine Anteilnahme von ihr kam. Als ich ein Kind gewesen bin, hat sie mich deswegen nur angeschrien und später hat sie nur geschwiegen.

Und ich verweigerte mir selbst und jedem anderen dann später jede Art von Anteilnahme. Das war die Art, wie ich mich selbst und alle anderen verspottete und an sich büßen ließ; ich weigerte mich Ihnen wirklich zuzuhören und zeigte kein Mitleid.

Die Lehre meiner Mutter war, ich sollte jede Art von Anteilnahme büßen, solange sie nicht ihr und ihren Sorgen galt.

Auf dem Weg vom Kindergarten dann nach Hause.

Wirst schon sehen, irgendwann steh ich nicht hier. Irgendwann werd ich nicht wiederkommen. Irgendwann bin ich nicht länger hier. Wirst schon sehen, was passiert!

Sie entwertete die Liebe und sie ließ mich für sie büßen; für die Liebe zu den andern. Vater, Oma, Onkel, Tante, meine erste Kindergartenschwester, erste Lehrer, Freunde, Freundinnen.

Wenn ich von der Schule dann nach Hause kam, lag sie da wie tot. Immer wieder ihre Todesspiele.

Dass ich überhaupt jemanden anderen anstrahlte, überhaupt mich traute jemand anderen zu fragen, war ihr schon zuwider.

Deshalb fallen mir jetzt angeleinte, ausgesetzte Hunde ein. Ausgesetzt, entwertet und verraten und beschämt, mussten sie für Liebe büßen. Und sie winselten nach jenen, die sie so dressiert hatten.

Als Kind hatte ich glauben müssen, dass jeder Mensch für seine Freiheit und für seine Liebe büßen muss. Ich habe das von Anfang an gelernt und das war falsch.

Wenn dein Selbstbild zerfetzt wurde, wenn du tief verletzt wurdest, und man dir das Gefühl gab, die Verletzung wäre nur deine Schuld, wenn du nach Anerkennung bei jenen suchst, die sie nicht verschaffen können oder wollen – spielst du die Rolle, die dir von deinem Misshandler zugewiesen wurde.

Andrew Vachss

Ich hatte immer Angst davor, mich zu verhalten wie ein Kind.