Texte von Hugo Rupp

blind-bewusst

 

Dass ich glauben musste, dass meine Mutter wegen mir krank ist. Dass mein Gefühl ihr Wohlergehen steuert, wenn ich mitfühle, es meiner Mutter besser geht, als wenn ich nicht mitfühle, das glaubte ich. Dass ganz egal, was auch geschieht, dass wenn ich an sie denke, die Mutter bei mir bleibt und wenn ich das nicht tue, sie dann vergisst, wo ich mich noch befinde. Dass sie mir Orientierung geben kann, wenn ich brav werde, bin, wenn ich ihr nur gehorche, dass dann die Mutter kommt und mir dann hilft, wenn ich an ihre Liebe denke, wenn ich sie lieb hab, sie auch kommt. Die schlimmste aller Lügen. Dass brav sein, lieben helfen kann.

Du denkst auch nur an dein Vergnügen. Während ich allein zu Hause sitzen muss und auf euch warte. Du denkst auch nur an dein Vergnügen, sagt sie.

Dass ich die Mutter leite und auch lenke, indem ich an sie denke. Dass ich sie steuern kann, wohin ich gehe, wo ich bin. Dass ich nur an sie denken muss und schon erscheint sie auch. Dass meine Macht des Denkens, dass ich mit meiner Art des Fühlens, die Mutter zu mir lenke. Das glaubte ich, das war mein tiefster Wunsch. Dass ich selbst Einfluss habe auf ihr Tun, ihr Dasein und ihr Wirken. Dass ich der bin, der sie bewegt. Dass alles von mir kommt, dass ich die Rettung, meine, ihr Wiederkommen, Aufwachen, Erscheinen für mich, mit Gedanken, meiner Art Gefühl bezwecke.

Ich komme wieder, wenn du brav bist. Wenn du aufhörst böse zu sein. Du denkst doch nur an dich. Immer nur an dich. Denk doch nur einmal an die vielen Tage, Stunden, Wochen, die ich mit dir in deinem Bett gelegen habe, sagt sie.

Unentwegt verortete mein Denken/Fühlen mich mit meiner Mutter in Gedanken und rettete doch immer nur mein Denken/Fühlen, wie sie es in mir anrührte. Sie brachte ihre Lügen an, und ich vertraute ihrer Gültigkeit. Der Wahrheit ihrer Lügen. In Wahrheit ihren Lügen.

Ich musste ihre Not beseitigen. Das fühlte ich mit jedem Schrecken, Wort und Bild, das mich von meiner Mutter treffen sollte, wenn sie von Not und Krankheit redete, von ihren Sorgen und den der Anderen. Die Not traf immer unverhofft auf mich. Nie nahm sie davon wieder weg, nie löste sie für sich, vor mir die Notgedanken. Sie ließ sie einfach vor mir stehen, liegen, als Vorwurf meiner Dreckigkeit, Unartigkeit, Bedeutungslosigkeit und Schuld. Sie warf mir ihre Not vor meine Füße und an den Kopf, ans Bett und ging dann einfach wieder weg. Sie ließ mich in der Not allein. In meiner und in ihrer.

Ich bin doch da!

Wenn ich an mein Zuhause denke, in welchem Zustand ist die Mutter? Wenn ich nach Hause gehe, fürchte ich mich jetzt, ich fürchtete den Zustand meiner Mutter. Tot, bettlägerig und aufgelöst in Tränen, die Angst ihr ins Gesicht geschrieben. Ich fürchtete den Zustand meiner Mutter. Ich fürchtete in mir, mich selbst, vor ihr.

Ich fürchtete mich vor ihrer Drohung, mein Leben zu beenden, es aufzuheben und mich einfach zu vergessen. Mich ein für allemal vergessen. Sie kam niemals mit Freude an mein Bett. Sie wollte, dass ich ihre Not begreife. Mit Freude ging sie immer dann woanders hin. Ich durfte meine Not nie merken, weil sie sie nie begriff.

Mein Zittern in der Einsamkeit, mich schüttelt es und beutelt es. Es schüttelt mich, weil ich dort erstmals weinte, allein und ohne einen Menschenlaut. Die Angst vor den Gewittern, dem Donner meiner Wut und meines Zorns und meiner weißen, weißen Wut, dem Zittern meiner Glieder, dem Schrei aus meinem Mund. Ich bellte meine Schreie. Gewitter kommt, fährt jetzt in meine Glieder, ich strample wieder wie ein Kind, schlag aus mit meinen Füßen. Ich schlage mit der Wut um mein Gefühl.

Wie kann ich meine Furcht verbergen, vor Anderen in mir? Wie kann ich vor mir, meine Furcht verbergen? Auch in der Gegenwart der Eltern. Muss ich doch alles, außer Angst, vor ihnen nur verbergen und verstecken.

Ich bin doch da!

Sie war zu Hause. Sie blieb zu Haus. Doch nicht für mich. Ich war allein zu Haus. Ich wartete. Ich wusste nie, wo sie denn war, wenn sie die Türe schloss. Ich wusste nie, was sie dann tat. Sie wartete. Das was sie mir beibrachte. Zu warten. Auf den Vater. Sie wartete. Sie rächte sich und wartete auf meinen Vater, der immer wegging und dann wieder kam. Sie ging nie wirklich aus dem Haus. Ich konnte das nicht wissen. Dass sie nur mich verließ und immer nur für mich die Drohung wiederholte, dass sie für immer gehen und mich das kleine Kind alleine lassen würde. Sie drohte mir. Ich wusste nie, dass sie nur immer mich damit bedrohte. Dass ihre Drohung Rache war. Sie rächte sich am Vater, indem sie mich alleine ließ. Sie ließ die Wut an meinen Augen aus. Sie drohte, war nervös und panisch, voller Angst, und niemals wusste ich wieso. Sie ließ mich büßen, dass Vater sie verließ. Dass Vater kam und ging, wie er es wollte. Das was der Vater mit ihr machte, das tat sie dann mit mir. Für jede Angst vor dem verlassen werden, bestrafte mich die Mutter. Der Vater ging und sie versteckte sich vor mir. Und später, als ich in die Schule kam, nach Hause ging, versteckte sie sich wieder. Sie strafte mich, dass ich zur Schule ging und in den Kindergarten. Dass ich auch nicht zu Hause blieb. Bei ihr. Verfügbar. Sie spielte tote Mutter. Sie spielte mir verlassen werden vor und war zu Hause dabei voller Angst und Schrecken. Ich konnte das niemals verstehen. Sie rächte sich für jede Einsamkeit, die sie empfand an meinem Bett. Sie rächte sich für jeden Schrecken Einsamkeit, der in ihr war und zu ihr kam, an mir. Ich war dafür verfügbar.

Der Freund

Mein Vater kam niemals zu mir um mich aus meiner Einsamkeit zu retten. Er half mir niemals auf. Er sah nur zu und schwieg. Er half mir nicht.

Ich sah, wie er ausrutschte. Er lag mit seinen Skiern da am Boden, zwischen zwei Parkplätzen. Ich sah ihm zu, wie er versuchte aufzukommen. Wir waren damals zwölf. Sein Vater starb, da war er drei. Jetzt lag er da. Ich sah, wie sich ein Auto seinem Körper näherte. Er ließ sich Zeit beim Aufstehen. (Nie durfte ich beim Aufstehen trödeln) Ich stand vor unsrer Haustür auf der gegenüberliegenden Seite und schnaufte leise vor mich hin. Ich wartete darauf, dass ihn das Auto überfahren würde. Dann kam jemand, Passant, und sah ihn liegen und dieses Auto auf ihn rückwärts zufahren. Der Mann hob seine Hand und winkte, fuchtelte damit. Das Auto hielt, der Fahrer stieg gleich aus, und beide halfen sie dann meinem Freund auch auf die Beine. Sie klopften ihm den Schnee von seinen Schultern. Sie lächelten. Ich drehte mich und ging ins Haus.

Ich war doch wie mein Vater. Wie er zu mir. Wie er für mich gewesen ist. Was er für mich bedeutet hat. Wir waren alle wie unsre Väter. Stets abwesend und abweisend, für eine Nähe, Hilfe nicht zu haben. Uns selbst und allen anderen gleichgültig gegenüber. Wir hassten niemals unsere Väter. Wir mussten einfach andre hassen. So haben wir das doch von Anfang an gemacht, von unsren Vätern abgeschaut.

Ich spürte diesen Hass und wusste niemals, was das war, was mich damit bedrohte. Weil Vater mir nicht helfen wollte. Die andauernde Lieblosigkeit war meine größte Art Bedrohung.

Unglaublich, wie wir immer nur die andern hassen konnten.

Wir hatten alle Angst vor unsren Vätern.

Wir zitterten vor Angst und ließen uns das nicht anmerken. Mein Vater lehrte mich die Angst ertragen. Angst haben und ertragen und keinem dabei helfen. Kein Zeuge sein. Kein Wissender. Zusehen, ja. Doch blind für jede Anteilnahme und Empörung. Eiskalt und unbarmherzig in Gedanken und auch Taten. Im Unterlassen auch. Die Duldung aller Schrecken und Verbrechen, Grausamkeiten.

Ich bin zurückgekehrt und richte meinen Blick auf meinen Vater. Er war nie für mich da, als ich ihn brauchte.

Die Eltern waren überhaupt nicht abwesend. Sie waren da. Wie ich. Sie sahen zu und hörten zu und taten nichts. Das was ich immer wieder sehen und ertragen musste. Niemand half einem Kind in seiner Not. Sie sahen zu und taten nichts.

Die Wut darüber, nie Wut darüber zu empfinden dürfen, nur dazustehen müssen, als Kind, nur immer Schmerzen reglos zu ertragen, die unterlassene Hilfeleistung nur schweigsam, still auch zu erdulden, die wird jetzt endlich frei. Meine Empörung, für mich Kind, für alle unsre Kinder. Meine Empörung gegen meine anerzogene Lieblosigkeit. Ich musste alles nur erleben, doch ohne ein Gefühl dabei zu haben. Sie duldeten doch kein Gefühl. So durfte ich als Kind nicht mal mein eigner Zeuge sein.

Verrat, Verlogenheit. Das ungeliebt und ungewollt sein müssen. Verraten und verkauft und keinem Menschen trauen können/dürfen. Das alles musste ich von meinen Eltern lernen und musste mich, wie jedes Kind, dabei noch schuldig fühlen. Ich lernte immer unter Schmerzen. Ich übte schließlich jene Lieblosigkeit auch aus, so wie sie mir als Kind selbst anerzogen wurde. Stets regungslos und ohne Mitgefühl.

Dein Herz ausschütten!

Es ist sehr mühsam und auch schwer, die eigene Lieblosigkeit an sich selbst zu finden und zu verstehen, und auch als solche zu empfinden. Woher sie kommt und auch abstammt. Doch diese Wahrheit befreit das Kind und sein Gefühl für sich. Es darf jetzt seine Not auch merken.

Ein Kind, dem in der Not niemals geholfen worden ist, das kann doch seine Not als Kind niemals begreifen, solange niemand ihm dafür ein Zeuge ist.

Nur deine Wut hat dich als Kind begriffen. Sie weckt dich heute, wie schon früher, auf. Denn DEINE Wut beachtet DEIN Erleben und Erleiden.