Texte von Hugo Rupp

Bejahung

 

Wenn ich Bedingungen aufstellen sollte, die eine wirksame Therapie erfüllen müsste, so wären dies folgende:
1. Die Therapeutin steht ganz auf der Seite des einst verletzten Kindes, sie zeigt ihre Empörung über das, was dem Kind zugefügt wurde, und verbirgt ihre Gefühle nicht hinter der Neutralität. Das ermöglicht dem Klienten den Zugang zu seinen Gefühlen, und parallel dazu taucht immer deutlicher die Realität der Kindheit auf.
2. Die Probleme der Gegenwart, bei denen starke Emotionen erlebt werden, ermöglichen ebenfalls die Aufdeckung der kindlichen Realität. Der Blick in diese Welt erlaubt es, die Intensität der heutigen Emotionen zu verstehen (Auslöser).
3. Dank dieser ständigen Wechselwirkung zwischen Gegenwart und Vergangenheit entsteht ein Wissen über die eigene Geschichte und die eigene Identität, das eine bisher nie gekannte Sicherheit vermittelt.
4. Wenn die Fähigkeit des Umgangs mit alten Gefühlen erarbeitet wurde und die Auslöser positiv bewertet werden können, erübrigt sich die Gegenwart des Therapeuten.

Aus: Was ist Therapie?
 Sunday 24 July 2005 © 2014 Alice Miller – all rights reserved.

Ich habe nie gewagt, mir selbst zu sagen, ich sei besser als mein Vater. Ich schlage keine Kinder. Ich bin doch besser zu mir selbst, das habe ich niemals gesagt. Ich habe nicht gewusst, dass das von meiner Mutter kam. Von ihrer Art der Ablenkung und Ablehnung; von Schmerz und Zorn und Wut nur immer abzulenken. Von ihrer Art Zerstörung meiner Freude. Was ich nicht lernen konnte war, was ich mir niemals merken hatte können, dass ich doch besser als Kind war, als meine beiden Eltern. Ich konnte mir das niemals zugestehen. Ich konnte mir das selbst nicht einmal sagen und zumuten und zutrauen, weil niemand meine Tränen sah. Weil niemand mich allein bedauert, unterstützt hatte, in meinem Zorn und meiner Wut. Niemand war da und gab mir das Gefühl, ich wäre besser als die beiden. Hätte mich jemand unterstützt und meine Wut als Kind bestätigt, ich hätte wissen, lernen, können, dass das gar keine Anteilnahme ist und wirklich keine Liebe, was Mutter macht, und Vater mir antut, was meine Mutter jeden Tag mit mir anstellt, indem sie mich erniedrigt und wie eine Puppe dann hinstellt. Ich kam niemals auf den Gedanken oder die Idee, ich könnte freundlich sein und fein. Ich könnte doch jemanden anders lieben. Ich kam gar nicht auf die Idee, ich wäre kein Verbrecher, Tagedieb. Ich kam nicht drauf, dass ich nicht das war, was mir die Mutter immer nur vorhielt.

Du bist noch klein und das verstehst du nicht. Wenn du groß bist, dann wirst du das verstehen lernen. Einstweilen tust du, was ich dir sage. Wir meinen es nur gut. Wir meinen es doch schließlich gut mit dir.

Ich kam niemals auf die Idee, dass das nicht stimmig war und gar nicht stimmen konnte. Mein angelernter Mutterglaube war, dass ich nichts von mir wusste. Dass ich nichts an mir hatte, das irgendwie bedeutend war, das irgendwie Bedeutung hatte. Nichts was ich fühlte, sagte und empfand, hatte für Mutter auch Bedeutung. Denn alles, was ich meiner Mutter doch bedeuten wollte, das wollte sie nicht haben.

Angebliche Liebe

Saturday 16 June 2007

Liebe Frau Miller,

vor einer Weile habe ich all ihre Bücher verschenkt, die ich mir gekauft und oft gelesen hatte. Weil ich ihre Bücher jetzt nicht mehr brauche, denn ich hab endlich emotional verstanden, was ich bei Ihnen gelesen habe. Ich habe verstanden, dass meine Mutter mich wirklich nicht geliebt hat, auch wenn sie immer davon gesprochen hat, weil ihr strenges Gewissen ihr nicht erlauben würde, ihren tiefen Haß und Neid auf die Lebendigkeit ihrer Kinder zu fühlen. Endlich wird mir mein großer Zorn und die ungeheure Wut auf meine Mutter völlig verständlich. Dies ist die Reaktion auf ihre mir unbegreifliche Ablehnung, die sie aber immer wieder verleugnet hat. Und ich habe es verzweilfelt glauben wollen. Aber sie kann bloß schön reden! Nicht fühlen! Dabei muß ich bloß hinschauen, und ich sehe, daß diese Frau keine echte Liebe empfindet, und ich mich meine ganze Kindheit verzweifelt nach der Liebe, der Zuwendung und dem Schutz einer gefühllosen Frau gesehnt habe. Noch immer schützt sie ihre eigene Mutter, die kalt und grausam ist, und eigentlich ganz offensichtlich niemanden liebt (auch wenn ihre entsetzten Kinder das nicht wahrhaben wollen). Für mich ist es solch eine Befreiung die Wut auf meine Mutter zu spüren, die ich mir nie wirklich erlauben durfte, weil mich meine Mutter offiziell ja liebt. Das tut sie nicht, und sie hat es noch nie getan. Sie hat mich nie vor meinem Vater beschützt, ihre Augen haben nie vor Freude geleuchtet, wenn sie mich gesehen hat, sie hat nicht mit mir gekuschelt, sie hat sich nicht gefreut, daß ich ein Mädchen bin, sie hat mich nicht gestillt, sie hat mich nach meiner Geburt 4 Wochen allein im Krankenhaus gelassen (wo ich zwischen Leben und Tod schwebte), sie hat meine Wut nie akzeptiert, oder gar als Reaktion auf tiefe Verletzungen, die sie verursacht hat begriffen, sie hat MICH NIE GESEHEN.
Diese Frau hat meine volle Wut verdient! Und wissen Sie, ich denke, meine Mutter ist längst zu einem Zombie geworden, von dem kleinen gequälten Mädchen, das sie mal war, ist nichts mehr da. Und diesem Zombie werde ich nicht meine wahren Gefühle opfern. Ob sie das kleine Mädchen in sich befreit, ist ihre Sache, aber ich werde nicht mehr ihre Verdrängung bestätigen, indem ich ihr ihre angebliche Liebe abnehme. 

Liebe Frau Miller, vielen vielen Dank für Ihren Kampf um Ihr eigenes inneres Kind, den sie mit anderen Menschen geteilt haben, mit mir, und mir damit geholfen haben, meinen eigenen Kampf zu führen.

Liebe Grüße,

A. K.

AM: Es ist sehr qualvoll an Liebe glauben zu müssen, wenn man genau spürt, dass die Versicherungen der Liebe verlogen sind, weil die Fakten die Lüge aufdecken (vier Wochen allein im Spital z.B.). Ein Kind kann sich nicht leisten, dieses Spüren wahr zu nehmen und es für wahr zu halten. Aber als Erwachsene haben Sie diesen Schritt gewagt, und nun brauchen Sie meine Bücher nicht mehr, das scheint mir ganz folgerichtig und logisch. Ich freue mich mit Ihnen, dass es Ihnen gelungen ist, Ihre Gefühle ernstzunehmen.

© 2014 Alice Miller – all rights reserved.

Erst als die Wut in mir tatsächlich auf die Mutter kam, erkannte ich, dass niemals jemand so bedeutsam und gefährlich war und niemals wieder werden kann wie sie. Niemand hat jemals mir so weh getan und meine Hilfsbedürftigkeit so schamlos ausgenutzt. Niemand hat mich so angelogen, manipuliert, verwirrt und in die Irre, Einsamkeit geschickt. Niemand war so gehässig und bösartig. Niemand hat mich verfolgt und immer wieder nur ermahnt, ich würde sie zuwenig lieben. Und immer war das alles offenbar, doch konnte ich das nicht empfinden. Erst mit der Wut und meinem Zorn, wurde mir klar, dass ich nicht länger bei ihr bin und niemals wieder an ihr hängen werde.

Denn Wut bedeutet Mut.

Ich sagte später immerzu, wenn Mutter oder Vater oder irgendjemand anderer mich schreckte und aufregen wollte, das sei mir doch egal. Ich tat das gleiche wie die Eltern, ohne zu wissen, woher das kam, mir alles Leid und jede Emotion und jede Art Empfindung abzustreiten. Ich sagte das, was Mutter immer mir bedeutet hatte, auf jede meiner Äußerungen hin; ich war gleichgültig und nichts bedeutete mir wirklich was.

Mein Mut kam nicht als Vater starb.

Als Vater starb, verschwand nur etwas Angst, doch Mut wurde nach seinem Tod nicht frei. Nicht Vater hatte mich so früh mit Einsamkeit bestraft und mir gedroht, mich ganz allein zu lassen, wenn ich nicht endlich meinen Zorn und meine Wut verschwinden lassen würde.

Verschwinden und verleugnen.

Mutlosigkeit kam nicht von ihm. Sich fügen und nur ja nichts sagen, wagen, nur einverstanden sein und Ja und Amen sagen, das stammt von ihr. Mir selbst nichts eingestehen, von Wut und Angst und Leid nichts wissen und nichts wirklich zu verstehen, und nichts erkunden und erfragen und erleben wagen. Den Mut, mich zu entfernen, von jemandem, der mir nur schadet, den habe ich als Kind niemals gespürt, weder bei meiner Mutter, noch bei meinem Vater.

Nur Wahn, scheinbare Sicherheit und Abgeschiedenheit, allein sein habe ich gelernt. Nur wie man sich benimmt, mit Geld, was man mit Geld bezahlen und sich leisten kann.

Was ich solange nicht verstand, dass meine Wut, mein Mut von meiner Mutter schon so früh bekämpft wurden. Und dass ich Mut niemals von meiner Mutter lernen konnte. Weil meine Mutter diejenige doch war, die Mut nicht sehen und nicht hören und nicht spüren hatte wollen, von niemandem. Ich sollte gar nicht mutig sein, schon gar nicht gegen sie und auch nicht gegen meinen Vater.

Denn sie bestrafte mich von Anfang an. Nicht nur mein Weinen und mein Leid, auch meine Freude. Ich weinte nicht, als meine Mutter starb. Mir war seltsam, doch spürte ich gar keine Traurigkeit. Ich sprang nicht auf. Ich wagte nicht, mich über ihren Tod zu freuen. Denn meine Mutter hatte immer schon gestraft, viel mehr als Vater mich bestraft hatte. Sie hielt ihn ja zum Strafen an und fragte und befragte ihn nach Strafen für mich, ständig. Sie predigte, dass ein Kind alles meiden und vermeiden sollte, und wenn es das nicht tun würde, was man ihm sagt, dann müsste es dafür bestraft werden. Die Predigten zur Achtsamkeit, damit ich meine Freude löschte und meinen Wunsch danach. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte nie ein Kind gewagt, nur einmal hochzuspringen und zu lachen.

Sie hatte mich vor jeder Art Bewegung stets gewarnt, mich nicht zu sehr und nicht zu früh zu freuen.

Ich redete mir später ein, wie Mutter mir das beigebracht hatte, dass sie doch Liebe, immer nur die Liebe von mir bekommen hatte wollen. Doch das ist gar nicht wahr. Sie wollte alles Tote in sich halten und beherrschen und alles noch Lebendige, tot machen. Empfindungen bestrafen, Gefühle ächten und beschämen. Das lernte ich von ihr. Denn meine Mutter war nie anders.

Are you afraid you might harm your baby?“ asked the policeman.

My baby is fine,“ said Christine. „It’s me who’s in danger.“

In danger of what?“

In danger of ceasing to exist.“

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A thirtysomething female in a police uniform was asking questions.

Are you afraid you might harm your baby?“

My baby isn’t the one in danger. I’m in danger,“ said Christine.

What makes you think so?“

I used to be human being. I’m turning into a machine.“

The policewoman smiled wryly.

I’m sure we all feel that way sometimes.“

I feel that way all the times,“ retorted Christine.

So what would you like us to do?“

I want you to take my baby away.“

You don’t feel you can care for your baby anymore?“

I can care for him perfectly well. It’s the only thing I can do nowadays.“

So what are you hoping the police department could do with your baby?“

I thought you might be able to organise giving him to a female prisoner in a gaol. They’re stuck in a cell all day and night anyway. I’m sure it would work out fine, with the right person.“

.

.

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The conversation went round and round like this for three or four minutes. The urgent message Christine had wanted to put into the policewoman’s mind kept being deflected, as if by an instinct of avoidance, like an infant turning away from a spoon.

But I’m in danger,“ she kept insisting.

You think you might harm yourself?“

The harm’s already done.“

You feel you’re not coping?“

Coping is all I’m doing.“

You mean you’re barely coping?“

I’m coping perfectly well.“

Well … that’s good.“

You don’t understand,“ pleaded Christine. „Look at you. You’re here. You’re not sitting next to a baby’s cot all day.“

Michel Faber The Smallness Of The Action

Das schlimmste war, dass es ja keinen Zeitpunkt gab, an dem ich mich entfernen oder bessern, oder vor ihr schützen und zurückziehen hatte können. In mich zurückzuziehen, war doch die einzige Option. Es gab gar keine andere. Und immer, wenn ich später dachte, das muss ich jetzt noch tun, das muss jetzt gleich geschehen, das duldet keinen Aufschub mehr, jetzt los, sofort, verdammt, jetzt gleich, das muss ich unbedingt erledigen, dann rannte und rumorte in mir eine Macht, ja eine Art Maschine. Ich rannte noch im Traum, um rechtzeitig was abzuliefern, abzugeben.

Dabei war meine Mutter unablässig hinter mir, wie eine Kampfmaschine her, ein Alien, der alles mir zunichte macht, was sich lebendig anfühlte und nicht maschinenhaft. Ich konnte mich nie rechtzeitig als Kind vor ihr verstecken; solange ich lebendig war und was lebendiges noch machte.

Endlich bist du jetzt wirklich tot. Und jetzt hört auch mein Rasen in mir auf, denn endlich fühle ICH, MICH sicher, vor dir; Mutter.

Denn niemals durfte ich und niemals sollte ich mir meines Zorns und meiner Wut selbst sicher sein. Nur Trauer war erlaubt. Niemals der Freude und der Liebe sicher sein zu dürfen, verwehrt Empfindung und in Wahrheit das Gefühl, sich selbst auch noch zu lieben dürfen. Nur Trauer war erlaubt und Angst. Ich sollte mir als Kind und niemals als Erwachsener bei meiner Mutter Trost suchen. Ich sollte nie, was ich empfand, auch vor ihr fühlen und aufführen.

Ich wünsche mir, du würdest mich nicht derart hassen, sagt sie.

Wegschauen und weggehen und tot stellen, wenn ich etwas empfand, das meiner Mutter so nicht passte. Ich sollte ohne sie nie sicher sei. Ich sollte mir nie sicher sein, wenn ich etwas empfand, das meiner Mutter nicht behagte. Ich sollte mir nicht sicher sein, was ich empfand, wenn meine Mutter mich bestrafte. Ich sollte mir nie sicher sein, was ich empfand, wenn sie mich in die Ecke stellte und beschämte und alleine ließ. Ich sollte mir nie sicher sein, was ich empfand, wenn sie mich warten ließ und warten, warten.

Ich konnte mir nicht sicher sein, was ich empfand.

Die tiefste Furcht und größte Angst um mich und den Verstand, begreife ich erst jetzt. Wenn meine Mutter so da lag. Sie spielte schon von Anfang an, sich vor mir tot zu stellen. Ich hatte das die ganze Zeit in mir gehabt und nicht wahr haben können. Ich hatte das in mir gehabt, so wie sie mir das beigebracht hatte. Mich selber tot zu stellen. Sie hatte das mit mir gemacht, da war ich noch ein Baby. Mich einfach hingelegt und nichts gemacht. Und wenn ich neben ihr dann aufwachte, erschrak ich jedes Mal. Deshalb juckt mir die Haut an meinen Schienbeinen und meine Füße sind so kalt. Sie rührte sich nicht mehr, als ich sie wach berühren hatte wollen. Ich dachte doch tatsächlich, sie wär tot. Und all die Jahre und während meiner ganzen Kindheit über, betrieb sie ihre Todesspiele; und wachte scheinbar immer wieder plötzlich auf und lächelte, als wäre nichts dabei gewesen.

Ich sollte mir nie sicher sein, was ich außer Angst und Trauer um sie noch empfand. Zorn, Wut und tiefen Hass. Ich sollte nicht auf meine Mutter wütend werden. Mein Hang mich tot zu stellen und Wut zu unterdrücken. Es blieb mir gar nichts anderes mehr übrig.

Nur meine Haut wusste von meinem Zorn. Ich hatte eine solche Abneigung gegen meine Mutter. Nur meine Haut hat sich das so gemerkt, dass schließlich all die Stellen juckten, mit denen ich nach Wärme einst gesucht hatte und nur die kalten, toten Hände meiner Mutter fand. Und wie sie mir die kleinen Finger mit ihren Händen quetschen konnte, wenn ich für sie gerade nichts empfand.