Texte von Hugo Rupp

Antikörper

 

Manchmal habe ich Angst vor dir.

Reeva Steenkamp

Wir wissen niemals wirklich, was uns hilft, solange wir nicht fühlen können, was das heißt, sich selbst nicht mehr zu helfen wissen. Wer Leiden will. Warum wir Angst haben. Wovor, vor allem anderen. Warum wir uns selbst fürchten müssen. Uns selbst, ohne die Eltern überhaupt nur zu erwähnen. Wovon wir unaufhörlich in uns reden. Ohne zu hören, woher das stammt, der Singsang unsrer eignen Stimmen. Die Melodie der Angst. Die Sehnsucht, nur nicht wieder fallen müssen. Warum wir uns nicht helfen konnten und versagen mussten. Warum wir niemand anderem dann später helfen konnten und wirklich niemand retten. Zum nicht erinnert werden reicht das nicht. Weder das Leid in uns, noch unsre Not, noch die der anderen war jemals wirklich tot.

Die Toten tun dir nichts, sagt Vater, lächelt und geht weg.

Wie kann das sein, dass jemand Tote, Sterbende, Unglückliche, Erbarmungswürdige, Hilflose und zutiefst Verzweifelte betrachtet, und dabei keine Angst mitfühlt? Dass jemand nichts von alledem, als Teil von sich begreift?

Wir haben euch besiegt, sagt er.

Was redest du?! Ihr habt nicht eine Schlacht gewonnen.

Wir haben euch besiegt, sagt er.

Ihr habt gar nichts erreicht. Nicht einen Grenzzaun gibt es weniger.

Ihr habt jetzt Angst!

Wie ich als Kind am ganzen Körper fror und zitterte vor Kälte und vor Angst, und meine Mutter lächelte und wurde wütend. In Angst sollte ich unbedeutend sein und unbedeutend bleiben.

Ich muß so schnell als möglich auf den Friedhof, sagte ich mir, ich weiß nicht, aus was für einem Grund aufeinmal mit einer entsetzlichen Entschiedenheit. Ich bestellte noch vor sieben Uhr ein Taxi und fuhr zum Friedhof. Dort hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, die letzte Ruhestätte des jungen Härdtl zu finden. In wenigen Minuten war ich dort. Aber zu meiner Verblüffung standen jetzt auf der betreffenden, in den Beton eingelassenen Marmortafel nicht mehr, wie vor eineinhalb Jahren noch, die Namen Isabella Fernandez und Hanspeter Härdtl, sondern, beide schon eingemeißelt in den Marmor, Anna und Hanspeter Härdtl. Ich drehte mich augenblicklich um und ging rasch zu dem neben dem Leichenkühlhaus Dienst versehenden Friedhofspförtner. Nachdem ich diesem meine Frage ganz deutlich und wie ich sehen konnte, selbst auf spanisch sehr gut verständlich machen hatte können, sagte der Portier nur mehrere Male das Wort suicidio. Ich lief zum Irrenhaus hinüber, um mir ein Taxi kommen zu lassen, was vom Friedhof aus nicht möglich gewesen war und fuhr sofort ins Hotel zurück. Ich zog die Vorhänge meines Zimmers zu, schreibt Rudolf, nahm mehrere Schlaftabletten ein und erwachte erst sechsundzwanzig Stunden später in höchster Angst.

Thomas Bernhard Beton

Sich nicht zu helfen wissen.

Jetzt wird mir plötzlich schwindelig, dann drehte sie sich augenblicklich um und ging und hinterließ so die Verachtung für die Schwäche. Kein Trostversuch. Verachtung von Verzweiflung und von Liebe und von Fürsorge. Und Neid auf jeden, der das hat und kann: dableiben, nicht weggehen, und nicht verschwinden.

All jene stehen in mir auf, die ich verlassen habe, denen ich Trost verweigerte. All jene tauchen auf, bevölkern meine Nacht und dann auch Tagträume, denen ich nicht geholfen habe. All jene stehen auf in mir, mit dem Gefühl Verzweiflung und Mutlosigkeit, mit rasender Besorgnis, und panisch, voller Angst, mit weniger als machtlos sein, wie ich als Kind gewesen bin, hilflos. Ich musste mich verstecken lernen.

Dann ging ich blindlings auf die Menschen zu und suchte mir nur solche aus, die keine Angst, wie ich, empfinden konnten. Mir selbst war dabei niemals klar, was ich auch nicht empfinden hatte können. Wir waren uns ein schlechtes Vorbild, immerdar.

Zuhause bei den Eltern. Wenn Vater Mutter töten will, dann soll ich still sein und den Schnabel halten. Nachdem der Vater wieder weg gegangen war, sollte ich für die Mutter meinen Mund halten.

Die Angst, niemand mehr zu erreichen. Niemand mehr vorzufinden nach dem Krieg. Niemanden mehr für sich zu haben. Nur mehr allein zu sein.

Die Angst des kleinen Kindes vor den Eltern, das sich nicht helfen kann.

Alles Verbrecher, alles Pack. Zigeuner, Hungerleider und Gesindel. Man sollte sie ins Arbeitslager stecken; das ganze Pack. Studenten, Intellektuelle, Künstler, das ganze arbeitsscheue Pack. Nur Wehrzersetzer, Vaterlandsverräter und Verbrecher. Das ganze Pack soll endlich arbeiten. Mir wurde nichts geschenkt. Wer sich selbst nicht zu helfen weiß, dem kann auch nicht geholfen werden. Was kümmern mich denn andre Leute!? Was kümmert mich, was andre tun!?

Es gibt die gute Angst, die einen schützt und heilt, und eine angelernte fremde, die man Verstörung heißt. Mit Angst ununterbrochen stören, sich selbst und alle anderen. Das heißt, sich selbst nicht mehr zu hören und in die Leere einzutauchen.

Ich schlag dich tot, wenn du nur einmal noch dein Maul aufmachst, sagt er zu mir.

Ich weiß, was Vater tut. Ich weiß, dass Vater die Versprechen hält, wenn er mir weh tun wird.

Auf was ich neidisch war, wenn jemand ruhig sprach, verständnisvoll und wirklich lächeln konnte und sich freuen. Wenn jemand ohne Vaters Zähne war. Wenn jemand zu mir freundlich war, vermisste ich etwas. Mir fehlte die Gewalt. Dass ich vor allem Angst hatte, das wusste ich gar nicht.

Ich hab gesehen, wie du seinen Arm berührt und mich ignoriert hast. Das hat mich sehr aufgeregt.

Oscar Pistorius

Ich war so neidisch auf gewaltlos sein. Auf Freiheit ohne Angst. Das machte mich so rasend, wenn jemand seine Angst mir zeigen konnte. Wenn jemand ängstlich vor mir war.

Wie kann man nur so Angst haben!?

So schwach sein und so ängstlich sein und trotzdem noch was sagen?

Bist du jetzt endlich still!

Wie kann man nur Gewalt nicht lieben? Wie kann man nur mich nicht so lieben wie ich bin!?

Die Antwort weiß nur, wer Gewalt auch fühlen und empfinden kann. Davor floh ich mein Leben lang, vor der Empfindung von Gewalt. Nicht vor der Liebe.

Das eingesperrte Kind in mir, hat unaufhörlich nachgedacht. Im Traum, auf alle nur erdenkliche Art und Weise. Ich bin in Nächten aufgewacht, mit Krämpfen in den Beinen. Jetzt weiß ich endlich, was das war, warum ich selbst im Schlaf noch zitterte und hin und her rutschte und aus dem Bett fiel dann und voller Angst dann aufwachte, oft orientierungslos, als wäre ich allein, im Weltraum ohne einen andern Menschen. Ich muss hier weg. Ich will hier raus, hat alles in mir aufgeschrien. Doch ohne Widerhall am Tag und nicht bewusst erinnert, denn meine Eltern sollten nichts erfahren. Ich konnte mein Geschrei und meine Träume nicht loslassen. Ich konnte doch bei ihnen nichts loswerden. Denn Vater hätte mich doch umgebracht dafür, und meine Mutter wär verrückt geworden.

Was übersehe ich? Was übersah ich immer nur bei ihr. Wenn Mutter zu mir kam. Dass sie nie wirklich freundlich wirken konnte. Was alles unter Wasser lag. Dass Ruhe nie in ihrem Wesen war. Dass sie nie wirklich friedlich und zufrieden war, dass sie nie wirklich friedlich und zufrieden sein konnte.

Dass da niemals Verständnis war. Und immer nur ein weiterer Vorschlag, wie ich mich noch verbessern würde können. Dass darin immer nur Erziehung war. Dem Affen immer Zucker geben. Nur um was anzufachen und zu befeuern. Ich hatte niemals Ruhe vor ihr. Das wurde ich nicht los.

Was übersehe ich?

Glaubst du, ich weiß nicht, was dir fehlt, und was du brauchst?!

Was war da niemals da?

Sie hörte gar nicht wirklich zu. Sie hörte mir doch gar nicht zu. Sie wollte sich beweisen und beweisen, was sie konnte. Sie wollte immer nur beweisen, was sie war und was sie alles werden hätte können. Sie wollte immer nur beweisen und bewiesen haben, wen sie alles verführt hatte, wen sie alles verführen hätte können. Sie wollte immer nur beweisen, dass sie geliebt, gemocht, begehrt und auch gebraucht würde. Wie sehr sie doch verführerisch, wie sehr sie doch verführen konnte. Das heißt, wie mächtig sie doch ist. Wie mächtig sie doch immer war.

Doch mit dem Ruf aus tiefster Nacht und finsterster Vergangenheit: Ich will hier weg! Ich muss hier raus! – wird mir, dem Kind, das ich einst war, auch endlich klar, dass ich damit nichts mehr zu tun habe.

Niemand, der Macht ausübt und sich verführerisch benimmt, teils mit der Sprache oder seinen Reizen, dem Wissen und der Schönheit oder Kenntnis seinesgleichen, will, dass jemand von ihm frei sein würde und sich von ihm dann irgendwann auch abspaltet. Niemand, der Macht ausübt und damit auch verführt, will, dass man ihm entkommt. Niemand, der Macht ausübt, hat für das hilflos sein wirklich Verständnis.

Wer hilflos ist, braucht keine Macht. Die Macht, die ist es doch, die ich so an ihr fürchtete. Wer Macht ausübt, will nie, dass sich die Menschen selbst befreien könnten.

Wer Macht ausübt, der möchte eines niemals hören: Ich möchte nicht verführt werden. Und wenn man das, von sich dann hört, erledigt sich das eigene verführen wollen auch ganz von selbst.