Texte von Hugo Rupp

Abwehr

 

Was wir «normal» nennen, ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderen Formen destruktiver Aktion gegen die Erfahrung. 


Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung

Ich lernte doch untadelig zu sein. Ich musste doch untadelig selbst werden. Sie brachten mir das schon von Anfang an doch bei. Mich zu benehmen wie ein Ei, das aufrecht sitzt, sich hält, still hält, nicht umfällt, und so weiter. Wie anstrengend das ist, ein rohes Ei zu sein, und nicht umfallen dürfen. Nur immer schweben, balancieren, die Eltern unaufhörlich mögen, nur immerzu im Schwebezustand sein, um ja nicht aufzufallen, um ja nicht wieder angeschrien zu werden.

Der Anzug passt ihm tadellos, sagt sie.

Wie aus dem Ei gepellt, sagt er.

Der Anzug tat mir unter meinen Achseln weh, er stach mich in die Seite, und unten war er mir zu lang, und um die Hüften viel zu eng. Ich konnte gar nicht richtig atmen, so fürchtete ich mich, dass nur kein Dreck, kein Schmutz, kein Staub, nichts auf den Anzug kommt, und dass nichts meine Mutter davon merkt, wenn doch. Ich machte eine Faust, ich passte auf, die Ärmel auch zu schonen. Die Ellenbogen nicht ablegen; dann lieber eingesperrt.

Mach keine Falten, hörst du mich, sagt sie.

Um ein Kind fehlerfrei zu halten, muss man ihm alles an Gefühl, für sich und andere, austreiben. So wurde ich auch fehlerfrei. Untadelig sich zu erhalten, erfordert in der Gegenwart, die Ausmerzung von Fehlern und von Schmerzen, bei sich und jedem anderen. Ein Fehler darf bei anderen niemals verborgen bleiben. Alles muss raus, muss gegen andere gemünzt und angeprangert werden. Erziehung, die sich selbst erhält, verletzt die Würde eines Kindes. Mit Schuld, die sich nach Opfern sehnt. Mit Scham auf Opfersuche.

Und Tadellosigkeit bedeutet, sich nicht einmal mehr schämen dürfen, weil Schämen doch beweist, dass man doch wieder einen Fehler machte. Und fehlerlos zu sein, bedeutet tadelloses Unterfangen. Verstand? Das wenn und aber töten und verurteilen, was unverstanden bleibt. Und jede Frage abwürgen. Denn Fragen sind auch tadelnswert. Entschuldigungen auch. Und wer sich noch entschuldigt, der zweifelt am Verstand und zeigt nur Schwäche im Verhalten. Der klagt sich an, sein fehlerhaft verhalten.

Untadelig zu sein, bedeutet immerzu nach rechts und links zu schauen, ununterbrochen aufzupassen, dass einem nichts geschieht. Untadelig zu sein, bedeutet aufzupassen, auf jede Art Verhalten Ausschau zu halten, auf Fehler und nach Möglichkeiten eines Scheiterns. Um jeden Preis bewerten. Um notfalls jeden darauf hinzuweisen, wie tadelnswert, verdammenswert, sein oder ihr Verhalten mir erscheint. Untadelig sein zu müssen, bedeutet für das ehemalige Kind, ununterbrochen sich darum zu kümmern, dass nichts geschieht, was irgendwie die Eltern aufruft, oder irgendwelche Vorgesetzten, Lehrer. Die Mächtigen auf keinen Fall zu reizen, egal was auch passiert in mir. Untadelig zu sein, bedeutet Angst zu haben. Untadelig zu sein, bedeutet Angst vor der Verfolgung und Ermordung und ewiger Verdammnis, in jeder Art von Jenseits noch zu haben. Untadelig zu sein, bedeutet wie ein Hund zu sein, der auf die Strafe wartet. Untadelig zu sein, bedeutet nicht zu bellen, auch wenn der Rücken bricht unter dem Wort und der Gewalt. Gehorchen müssen, wird schließlich zu untadelig zu sein.

Was immer ich dann später stumm ertrug, gefiel dem Vater und der Mutter.

Inszenierungen, um zu tadeln und den Zuhörer zum Gehorsam zu zwingen. Unaufhörlich auf die Mutter hörend, um untadelig zu werden.

Um untadelig zu werden und untadelig zu sein, dass ich nie mehr ihre Wut und ihren Zorn erfahre, wie es ist, ihr Kind zu sein. Wie sie mich anschreit. Wenn sie mich anschreit. Wie ein Ungeheuer mit drei Flügeln, Feuer, Rauch und Leid. Hass kommt aus der Nase, Hass kam aus dem Unterleib. Nur nicht wieder nein sagen, reime ich mir vor. Nur nicht wieder nein sagen, sage ich mir vor. Nur nie wieder weinen. Nicht nach meiner Mutter rufen.

Tadel lernte ich von ihr. Mich und jeden anderen zu tadeln, der nicht hören wollte. Unaufhörlich die Maschine sein, unaufhörlich die Maschine füttern. Ohne Unterlass muss Tadel sein. Ohne Unterlass nachdenken, um die Geschichte zu konstruieren, zu reparieren, um endlich fehlerfrei zu werden. Leben sich vornehmen und Erleben inszenieren, dass nichts mehr geschieht, was die Mutter aufregt und ihren Zorn erwecken könnte.

Zorn verhindern und nicht wütend werden, log und sprach ich mir dann unaufhörlich vor, ist ein Mittel gegen Angst, gegen Schläge, Einsamkeit und Furcht. Diese Inszenierung einer Lüge, brachte mir die Mutter bei.

Pscht! Hörst du das!? Was ist denn das!?

Immer einer Inszenierung meiner Mutter folgend, ich ihr treuer Hund. Und schon lauschte ich, und gleich kam als Antwort meine Angst.

Wie kommst du mir denn vor!?

Schreiend, weinend, laufe ich der Mutter in die Beine. Staunend, lächelnd sieht sie mich jetzt an. Einen Augenblick, und noch einen länger, und dann bückt sie sich zu mir.

Bist du wieder hingefallen!? Schau dir das gefälligst an. Wie du nur aussiehst. So kommst du mir nicht nach Hause!

Untadelig zu sein, zerstört im Grunde das Empfinden, gleichermaßen für sich und für andere zu sein. Untadelig sein zu müssen, nimmt einem Kind die Fähigkeit zur Sühne. Vergeltung fordern für das Unrecht, das mir die Eltern immer wieder vorgehalten und auch so beigebracht hatten.

Im Traum versuchte ich gerecht zu sein, indem ich immer kleiner wurde, mich immer kleiner machte. In jedem meiner Träume ist seit der Kindheit doch ein Wunsch enthalten, nach der Gerechtigkeit, nach dem Gefühl, dass ich das endlich finden möchte; ich suche und ich suche danach immer weiter. Ich suchte nach Bedeutung. Doch ich verstand sie nicht. Mein Wunsch nach der Gerechtigkeit, auch endlich leben und nicht nur davon träumen. Ich konnte diesen Wunsch nicht einmal vor den Eltern äußern. Ich durfte diesen Wunsch nicht einmal äußern. Ich suchte nach Gerechtigkeit für mich, das zeigt die unterdrückte Wut. Ich konnte das vor meiner Mutter und dem Vater niemals äußern. Das ist im Kern das schlimmste, das es für ein Kind doch gibt. Für sich nicht kämpfen dürfen, für sich nicht Unschuld fordern und sich nicht wünschen dürfen: Dass man von selbst unschuldig wird. Das also ist im Zorn enthalten. Ein Wunsch nach der Gerechtigkeit, sich selbst unschuldig, wirklich fühlen.

Als ich dann später immer zu der Mutter rannte, nachdem mein Vater mich bedroht hatte, verdrehte sie nur komisch ihre Augen. Denn alles war für meine Mutter lächerlich, was ich ihr sagen wollte bei Gefahr.

Die Menschen waren nun mal so, da kann man gar nichts daran ändern, das wird auch niemals anders sein, da gibt es nichts, was man verändern kann. Da gibt es keinen Grund, das ist nun einmal so, wie es schon immer so gewesen ist, so wird es ewig weiter gehen, daran wirst du mit deiner Schreierei auch nichts mehr ändern.

Ich lernte unentwegt das Falsche, dass alle Menschen wie mein Vater und die Mutter sind.

Das aber ist nicht wahr. Gerechtigkeitsempfinden bleibt in einem Kind solange wahr, solange es auch was für sich empfindet.

Die ärgste Wahrheit ist für mich, dass meine Eltern kein Gerechtigkeitsempfinden hatten. Sie hatten keines, das verstand ich als Kind also nicht. Das ist es, was mich schier verrückt gemacht hatte, wenn meine Mutter mit den Augen rollte, nachdem mein Vater mich geschlagen hatte. Sie konnten beide nichts von ihrer Ungerechtigkeit empfinden.

Unfehlbar sein, das also lehrten sie mich unter Schmerzen. Egal, was sie auch taten und verbrachen, sie waren stets unfehlbar dabei. Sie blieben auch dabei. Weil ihre Strafen und Beschuldigungen und Beschämungen mich nie verfehlt hatten, nahm ich das folgerichtig an. Dass jede Art Verfehlung, Schwäche und Hinfälligkeit, und jeder noch so kleine Fehler, dass jede auch noch so kleine Nachlässigkeit, im Grunde angeprangert werden muss. Dass alles, was nicht haargenau der Richtung der Erziehung meiner Eltern angehört und nicht so ist, beschuldigt werden muss.

Unfehlbar sein, Unfehlbarkeit, bedeutet das Gedankengut der Eltern zu verbreiten.

Unfehlbar wie die Eltern sein. So stark und so vermessen wie ein Stein, ein Fels.

Ich wollte ihre Worte nicht mehr hören und musste nur noch mehr zuhören. Mit aller Macht unfehlbar sein. Mit aller Macht unfehlbar werden.

Hast du Tomaten auf den Ohren!? Hast du denn Dreck in deinen Ohren!? Hörst du nicht, was ich dir hier sage!? Nimm dich gefälligst jetzt zusammen. Hörst du!

Ihr Urteil war, unfehlbar sein. Untadelig für immer sein zu müssen. Unfehlbarkeit. Verdammt und zugenäht. Unfehlbar sein zu müssen. Ihr Sinn für Ungerechtigkeit, um Fehler aufzuspüren, war enorm; unmöglich war für mich, den Eltern zu entkommen. Sie hatten nämlich nichts für Mitgefühl und Mitleid übrig. Sie hatten kein Gespür dafür und sprachen folglich nie darüber. Sie hatten nicht nur keine Nachsicht übrig, sie hatten keine Nachsicht nötig. Sie hatten keinen Sinn für die Verletzlichkeit der Seele eines Kindes. Sie nahmen Unschuld für ein Kind doch niemals wirklich wahr.

Dein Vater arbeitet den ganzen Tag und kommt am Abend dann nach Hause. Ist das vielleicht zu viel verlangt, wenn du dann etwas freundlicher ihm gegenüber bist? Er arbeitet doch Tag und Nacht, damit es dir mal besser geht. Und du bist dann so unfreundlich. Das ist doch ungerecht, findest du nicht!?

Mein Zorn über die Ungerechtigkeit kam also so in mich. Sie unterdrückte meinen Zorn und meine Wut. Die Mutter unterband schon vorher mein Gefühl. Sie nahm mir einfach die Berechtigung dazu. Sie machte mich im Grunde schuldig. Ich dachte dann, vielleicht hat sie doch recht. Vielleicht bin ich tatsächlich undankbar und ungerecht. Vielleicht sollte ich mich wirklich nicht mehr aufregen. Sie hat mir die Vergeltung abgekauft und meinen Zorn und meine Wut verhindert, mit ihren Schuldzuweisungen und ihren penetranten Lügen.

Mein Hass auf meine Mutter, die jede noch so kleine Wut von mir verfolgte und verfügt hatte, dass sie vollkommen unberechtigt sei, kommt jetzt endlich zum Vorschein. Damit verlasse ich, ich ehemaliges Kind, mein Schmerzensreich und Sündenbock Dasein. Niemand kann mir die Wahrheit wieder nehmen, dass meine Mutter sich über mein Empfinden, die Art Selbständigkeit, doch immerzu nur amüsiert hatte. Wie schrecklich ich das fand, und wie gemein, wie herzlos meine Mutter für mich war. Weil dieses schreckliche Gefühl von Fremde und Nicht-Zugehörigkeit, vom Ausgeschlossensein, allein sein, einsam sein und einsam bleiben, von meiner Mutter kam, dass sie verantwortlich gewesen ist, dass ich mich selbst noch unter Menschen so allein gelassen fühlte. Sie machte mir, wenn ich in Not war, immer nur das gleiche Angebot: Entweder bist du still und tust, was ich dir sage, oder du bist und bleibst allein und gehst allein zugrunde. Es gab niemals ein andres Angebot von ihrer Seite für mich.

Gefühle zu verleugnen, bedeutete für mich, mit einer Seite meines Körpers alles ertragen, während die andere zum still sein mahnt und immer weiter lernen muss, sich selbst nur zu verneinen.

Verleugnung der Gefühle.

Was eine Seite weiß, versucht die andere zu leugnen. Was eine Seite weiß, versucht die andere zu überwachen. Was eine Seite weiß, versucht die andere zu strafen. Und irgendwann misstrauten sich die beiden Seiten und waren spinnefeind.

Der eigne Feind im eignen Körper.

Dabei gab es für mich am Anfang doch nur wirklich einen Feind, die eigne Mutter, die alles, was ich fühlte und äußerte, ausschließlich unterdrückt hatte. Von ihr lernte ich Abwehrverhalten.