Als ich eines Abends heimkam in die Wohnung, war der Hund nicht mehr da. Ich glaubte, er sei mit meiner Mutter unterwegs. Sie hatte mir versprochen, ihn spazierenzuführen und ihn zu füttern. Übrigens bat ich darum auch den chinesischen Koch, der das Abendessen zubereitete und meiner Mutter allmorgendlich das Frühstückstablett ins Schlafzimmer brachte. Sie erschien ein wenig später, ohne den Hund. Sie sagte mir, sie habe ihn verloren, im Bois de Boulogne. Sie holte die Leine aus ihrer Tasche und hielt sie mir hin, als wolle sie so beweisen, daß sie nicht log. Ihre Stimme war sehr ruhig. Sie wirkte nicht traurig. Es war, als sei ihr das Vorgefallene natürlich. «Man sollte eine Annonce aufgeben, vielleicht finden wir ihn so.» Und sie führte mich in mein Zimmer. Ihre Stimme aber war so ruhig und so gleichgültig, daß mir klar wurde: sie dachte an anderes. Der einzige Mensch, der an den Hund dachte, das war ich. Niemand hat ihn zurückgebracht. Ich hatte Angst, in meinem Zimmer das Licht auszuschalten. Ich war nicht mehr gewöhnt, in der Nacht allein zu sein, seit der Hund bei mir schlief, und jetzt war es noch ärger als im Schlafsaal des Pensionats. Ich stellte ihn mir vor, draußen im Finstern, verloren mitten im Bois de Boulogne. An jenem Abend ist meine Mutter ausgegangen, und ich erinnere mich noch an das Kleid, das sie trug, ein blaues Kleid mit einem Schleier. Dieses Kleid erschien mir lange in meinen Alpträumen, und jedesmal wurde es getragen von einem Skelett.
In der Nacht und in den folgenden Nächten habe ich das Licht angelassen. Die Angst hörte nicht auf. Nach dem Hund, so dachte ich, käme die Reihe an mich.
Seltsame Vorstellungen kamen mir, so wirr, daß ich ein Jahrzehnt gewartet habe, daß sie Form annähmen und daß ich von ihnen reden könnte. Eines Morgens, einige Zeit, bevor ich in den Metrokorridoren auf die Frau im gelben Mantel stieß, war ich erwacht, auf den Lippen einen jener Sätze, die unverständlich wirken, weil sie die letzten Fetzen eines vergessenen Traums sind. LA BOCHE MUSSTE GETÖTET WERDEN AUS RACHE FÜR DEN HUND.
Patrick Modiano Die Kleine Bijou
Sie ließ nie ohne eine Art Beschämung etwas aus. Sie fragte selbst vor jedem ersten Bissen eines Essens, das sie selbst zubereitet hatte, Vater, ob es genießbar sei. Schmeckt es denn nicht!?
Sie fragte ständig nach Verzeihung und Vergebung, für etwas, das noch nicht geschehen war.
Was hast Du denn!?
Wie ich die Luft einatme, wenn ich esse, trinke, sauge, ganz egal, was ich mit meinem Mund auch sage, ob ich ganz leise atme, oder schrie, ich spürte Angst. Ich sollte artig trinken, artig schlafen, atmen. Ich sollte artig auch alleine sein und artig mir in meiner Einsamkeit auch überlegen, warum ich schuld sei.
Ich konnte ohne Schuld und Scham im Hintergrund nicht denken und nicht fühlen. Mein Blick war so vergiftet wie mein Grund.
Jetzt hör mit deinem Weinen auf. Was bildest du dir ein, uns wach zu halten jede Nacht. Dein Vater muss am Morgen auf, und in die Arbeit gehen. Und ich bin hier mit dir allein und muss mir dein Geschrei anhören?!
Ich suchte immerzu nach Schlüssigkeit. Nach einer Logik, der ich folgen hätte können. Die mir erklären würde, wo ganz genau mein Fehler und Versagen sei.
Du solltest dich was schämen, sagte sie. Wer so wie Du auf seine Sachen nicht aufpasst, der braucht sich später gar nicht wundern, wenn man ihm etwas stiehlt.
In eine Falle tappen. Und immer schön zuerst mit meinem rechten Bein.
Mir war, als ginge immer jemand mit, der meine Schritte wählte, mich ansah und bewertete, wie ich gerade ging, ob schief, gerade, oder zu gebückt, zu weit nach hinten oder in der Hüfte steif, zu weit nach vorn. Es war in mir eine Instanz, die mein Dasein für nicht gebührend hielt. Da ging ich leiser und noch leiser heim, an unsrem Haus vorbei, als hätte jemand mich geschlagen. Ich ging gebückt und schaute wie in einen Graben.
Ich traute mir nicht zu, mein Elternhaus, mein Heim, im Geiste zu verlassen. Ich traute mich nicht das zu denken, was ich von Anfang an geahnt hatte, dass ich bei meiner Mutter und dem Vater niemals heimisch würde.
Mein Traum von einstürzenden Häuserzeilen und Gebäuden. Dass ein Gebäude einstürzt nach und nach. Ich laufe, und da sitzt ein Mann auf einer Brücke und er kauert. Ich knie da bei ihm, frage ihn. Hast du gar keine Angst? Nein, nein, sagt er und atmet ruhig weiter. Er war nur außer Atem von der Flucht, doch die Gebäude sind ihm einerlei. Das Heim, die Häuser und Gebäude, sein Heim, das niemals eines wirklich war, das rührt ihn gar nicht an, nicht einmal Furcht, gar keinen Widerstand, kein Mitleid mit den alten Steinen rührt ihn.
Wenn Mutter ihre Augenbrauen hob, nach oben zog und ihren Mund nach unten fallen ließ. Wenn sie nach etwas schnappte wie ein Fisch, nach einer Fliege oder Wasser, nach einem Wort oder nur einem Laut; wie sie nur immer wieder einschnappte, auf mein Verhalten hin, dem eines kleinen Kindes.
Was ich nicht merkte, war, dass immer dann, wenn ich etwas bedachte und bedenken sollte, die Liebe auf dem Spiel stand für mich. Dass immer dann, wenn es auf artig sein ankam, über die Liebe so verhandelt wurde, und immer gegen mich als Kind. Dass meine Einstellung, alles im Leben unentwegt nur zu bedenken, Indiz, Beweis doch dafür ist, dass meine Mutter und mein Vater mich nicht lieben konnten. Sich von der Liebe nur bedroht gefühlt hatten und meiner Zärtlichkeit.
Die größte Grausamkeit, die man den Kindern zufügt, besteht wohl darin, dass sie ihren Zorn und Schmerz nicht artikulieren dürfen, ohne Gefahr zu laufen, die Liebe und Zuwendung der Eltern zu verlieren.
Alice Miller Am Anfang war Erziehung
Wohin ich trat, wohin ich ging, wohin ich sah, die Liebe selbst stand auf dem Spiel. Was mich nervös, gemein und so genervt hatte, was mich aufweckte in der Nacht, zur Todesstunde, 5 Uhr früh. Die Liebe selbst stand auf dem Spiel. Und das bedeutete für mich, die Freude zu verlieren. Wer wirklich liebt und Freude fühlt, spielt nicht mit seiner Liebe. Der setzt auch Freude nicht aufs Spiel.
Erst jetzt verstehe ich, wie ich mich tot gestellt hatte, vor meiner Mutter, wegen ihr. Den Tod auch immer vorgetäuscht. Dass ich das von ihr lernen musste, wie man so tut, als täuschte man sich selbst, sich selbst, sein ganzes Leben lang. So tun, als wäre man schon tot und würde dabei nichts empfinden. Täusche den Tod.
Täusche den Tod. Täusche dich selbst. Tu so, als wäre sie nicht tot. Tu so, als würde sie sich nicht tot stellen. Täusche den Tod. Sie tut nur so, als wäre sie jetzt tot. Sie tut nur so. Tu so, als täte sie nur so. Täusche den Tod. Als wäre sie nicht tot, nicht ohne Liebe und Gefühle. Täusche den Tod, um nicht von ihm beherrscht zu werden. Täusche den Tod. Täusche dich selbst. Tu so, als wäre sie nicht schuldig. Als würde ich nicht wütend werden jede Nacht, bis hin zur Dämmerung im Schlaf. Täusche den Tod.
Für mich konzentrieren sich Übel und üble Erinnerungen in einem einzigen Gesicht, dem meiner Mutter.
Patrick Modiano Die Kleine Bijou
Sie hat nicht auf die Unschuld acht gegeben. Sie nahm nicht Rücksicht auf die Unschuld eines Kindes.
Für sie hab ich mich hingestellt und tot gestellt, und er hat mich geschlagen. Für sie hat er mich dann gehindert, davon zu gehen, wegzulaufen, endlich abzuhauen. Damit sie nicht alleine ist. Für sie hat er mir dann verboten, was meine Unternehmungslust zum Vorschein brachte. Für sie hat er mich immer nur gehindert. Mit Schlägen und mit Drohungen.
Dich schlag ich tot!
Für ihn, damit er auch der Herrscher bleibt. Für ihn hat sie sich tot gestellt. Vor ihm hab ich mich tot gestellt, als er mich schlug und schlug und immer wieder schlug. Für ihn und sie hab ich die Wut verhindert. Sie und den Vater direkt anzusprechen, das half mir nie. Deshalb schrie ich im Traum mit ihr und ihm, ansonsten sagte ich gar nichts. Das geht dich gar nichts an, hat sie und er gesagt.
Das geht dich gar nichts an, hat er und sie gesagt, wenn ich bei ihm nach ihr und umgekehrt, bei ihr nach ihm, nach etwas fragen hatte wollen.
Das geht dich gar nichts an!
So wusch die eine Hand die andere. Die Schuld des einen mit der andern ab. Für meine Unschuld, meine Fragen wurde ich beschmutzt.
Das geht dich gar nichts an!
Wie beide sich nur immer zum Verschwinden brachten. Wie mich die Wirkung dieses Satzes stottern ließ. Wie vieles voller unterdrückter Wut in mir mit diesem Satz zum Vorschein kommen kann. Besonders eine jämmerliche, feige Art und Weise.
Das ist mir ganz egal, sag ich, wenn mich die Mutter und der Vater etwas fragen.
Mir ganz egal!
Ich spürte ihren Zorn, wenn ich mich für sie tot stellte. Als wäre mir mein Leben scheißegal. Mir fiel nicht auf, dass ich mich selbst damit kaltstellte.
Mit meinen Zweifeln über jede Art Entscheidung später. Wie meine Mutter sich bei allem, was ihr an mir nicht gefiel, gleich tot gestellt hatte. Wenn ihr an mir was nicht gefiel, dann stellte sie sich augenblicklich tot. Jetzt habe ich das wieder so in mir. Wenn ich was tue, was sie gar nicht mag, unartig sein, nennt sie das später immer wieder, starrt sie mich an, dann schaut sie weg und geht. Sie kommt auf meine Rufe, Schreie, dann nicht wieder. Sie lässt mich liegen, büßen, schmoren und bereuen.
Täusche den Tod! Entscheidungen bezweifeln. Als gäbe es tatsächlich ungebührliches Verhalten für ein Kind. So muss dann später, im Grunde jeder mit dem Tod, mit tot stellen, bestraft werden, der sich lebendig und unschuldig hält.
Jetzt weiß ich, was sie beide deshalb nicht vermocht hatten. Indiz für meine eigne Unfähigkeit; später. Sie konnten niemandem ihr Beileid ausdrücken. Als Oma starb. Und der ertrunkene Junge. Und die Mutter eines meiner Mitschüler. Und der Vater meines Freundes starb. Wie ich dann später das genauso wenig konnte. Mein Beileid ausdrücken. Dabei fiel mir nie auf, dass ich mir selbst auch gegenüber nie Beileid empfand. Dass mir mein eigenes Beileid zuwider war. Weil mir das immer schon gefehlt hatte, von Seiten meiner Eltern. Mein Mitgefühl, die eigne Anteilnahme, mir gegenüber. Deswegen sticht mich was in meinen rechten Fuß, in meinem rechten Fußballen.
Mein Traum vom Trainingsplatz. Und Vater lehrt mich starten. Ich knie mit dem linken Knie auf der schwarzen Aschenbahn und weine lautlos vor mich hin. Dabei schau ich von Vater weg. Beileid war mir unmöglich. Ich konnte nicht mehr wütend werden. Mein Beileid mit mir selbst, das konnte ich als Kind nicht länger für mich finden, weil ich die Wut verleugnen und unterdrücken hatte lernen müssen.
Täusche den Tod. Täusche die Wut.
Man kann so tun, als ob, und weiß gar nicht, was einem fehlt. Empfindung für den Schmerz des ehemaligen Kindes in seiner Not.
Der Beifall meiner Mutter für die Arbeit und die Leistung meines Vaters und ihr Mitleid für ihn in jener Nacht, als ihm der Blinddarm durchgebrochen war, und wie ich aufwachte, und wie sie mich dann weggeschickt hatten, und er so schrie. Ausschließlich Beifall für den Vater, und Mitgefühl für ihn. Jetzt weiß ich endlich, was mich so verwirrt hatte, was ich Jahrzehnte über nicht zusammenbrachte, nicht verstand. Dass sie doch beide immer nur so taten, als würden sie etwas vom andern fühlen und verstehen. Als würden sie von mir, von einem Kind auch was verstehen lernen können.
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