Liebe Alice Miller, erst auf einem seltsamen Umweg habe ich spüren können, was Sie in Ihren Büchern meinen, wenn Sie von der Wut und dem Haß sprechen, die Kinder verspüren und doch unterdrücken müssen – und später wenden sie den Haß und die Wut gegen sich selbst oder ihre eigenen Kinder.
Aus dem Leserbrief Haß und Wut Sunday 22 July 2007 © 2015 Alice Miller – all rights reserved
Sie wich mir aus. Sie hielt mich weg von sich. Sie hielt mich immer wieder weg. Als würde ich tatsächlich stinken. Als würde ich nur stinken, und sie versteckt sich, dreht den Kopf, damit die Nase nichts mehr davon mitbekommt, wie sehr ich sie berühre, mit dem Gestank. Wie sehr ich meine Mutter doch berühre. Wie sehr sie abgeschreckt von dem Gestank, von mir als Kind nicht angenehm berührt wurde.
Wie Überheblichkeit jetzt dazu passt. Wie Hochmut, Hochmut sucht. Wie Überheblichkeit sich Hochmut sucht und umgekehrt. Wie man mit Überheblichkeit den Hochmut sucht und umgekehrt. Wie man sich Überheblichkeit aussucht. Wie man so seinesgleichen sucht. Wie Mutter meinen Vater sucht und findet. Wie sie sich beide darin einig sind, so gleichermaßen überheblich und einig gegen meine Tränen, Schmerzen und mein Weinen. Und ohne Achtung ging ich in die Einsamkeit.
Wie Überheblichkeit sich seinesgleichen suchen muss. Wie ich sie suchte und versuchte. Nur Überheblichkeit, Hochmut. Wie ich dann meinesgleichen suchte. Nichts anderes mehr fand, als Überheblichkeit. Sein Leid verleugnen und verlachen und verneinen. Wie Überheblichkeit verneint, was sich nicht fügen will, unfügsam einmal war und sich nicht gleich verneigen wollte. So wird aus Untertanengeist die Überheblichkeit gemacht.
Schon aus Gehorsam muss ein Kind wie ich dann später überheblich sein, damit die Möglichkeit besteht, die Mutter und der Vater könnten stolz sein, sich über meine Überheblichkeit noch einmal freuen. Und aus Gehorsam überschwänglich sein. Wie meine Eltern ihresgleichen suchten, fanden und erschufen.
Was lernte ich?
Ich sollte frei sein spielen, mit Überheblichkeit und mit Gehässigkeit. Ich sollte Freiheit vor dir und dem Vater darstellen, mit Überheblichkeit und mit Gehässigkeit. Ich sollte frei sein spielen, aber mein Spiel nicht übertreiben. Ich sollte wirklich nicht frei sein.
Ja bist du denn von allen guten Geistern verlassen. Ja haben sie dir denn ins Hirn geschissen. Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder!? Was bildest du dir ein, so jung und schon so überheblich. Ich werd dir zeigen, was dir blüht, wenn du so weitermachst.
Und Vater schlug dann zu, und meine Mutter weinte leise, und meine Schwester neben ihr, schloss ihre Augen. Der Vater hasste Überheblichkeit. Ich konnte das nicht fassen, dass er, selbst voller Untertanengeist und Überheblichkeit, mich damit angriff; und mich damit verfolgte und so schlug. Er wollte mir die Überheblichkeit aus meinem Leib und dem Gesicht prügeln. Mir warf er Überheblichkeit so vor und war doch selber voll davon.
Was also lernte ich?
Ich sollte nie das Interesse meiner Mutter wecken! Ich sollte nur brav sein. Und das bedeutete, sie nicht aufwecken und erschrecken, was gleichbedeutend für sie war. Ich sollte still sein und mich so benehmen, dass Mutter nichts mehr davon mitbekam, was mich betraf und wie ich mich gerade fühlte.
So kommt die Feigheit in mein Herz, dass ich schon gleich erschrecken muss, wenn Mutter mit den Augenbrauen zuckt. Den Mund zu halten und zu schweigen. So also brachte sie mir Feigheit bei und Überheblichkeit und Untertanengeist ausüben.
Wenn Vater einem Angst machte, wenn er sich übermächtig zeigte und benahm, dann war ich nicht mehr ganz allein. Wie Untertanengeist auch einen von der Angst befreien kann. Wie ich mich schließlich freute, wenn noch wer etwas abbekam, wenn jemand anderer so klein wurde und plötzlich wieder niemand war; wie ich.
Nach außen hin die Macht und Überheblichkeit, nach innen hin die Angst vor meiner Mutter. Vor meiner kalten Mutter grauste uns doch beiden. Weil Leid nichts galt. Weil Leid gar keine Geltung bei ihr haben durfte.
Sie schaut auf mich und ihre Augen blitzen und auch ihr Mund ist voller Freude, wenn ich so ängstlich bin, in Panik nach ihr rufe und durch die Wohnung renn und sie nicht finden kann und am Verzweifeln bin. Erst wenn ich weine, kommt sie hinter einem Vorhang schnell hervor und macht ganz große Augen. Ihr Lächeln wie nach ihren Todesspielen später.
Mein Spiegel ohne Liebe;
Mutter.
So fühlt sich also von dir gequält zu werden an. Und nichts dazu zu sagen dürfen. Wie deine Überheblichkeit mich täglich immer mehr beschädigt hatte. Was du von Anfang an getrieben hast, das wird mir jetzt erst richtig klar, was ich mit dir verband und mit der Überheblichkeit beschrieb. Der Umweg Überheblichkeit. Was dich umtrieb, von dem du niemals lassen hattest können und was das schlimmste für mich war, von Tag zu Tag, war die Gehässigkeit.
Und mit Gehässigkeit hast du noch jede Liebe ruiniert. Die Anrufe, die Mahnungen, Bestrafungen. Die Androhung, dass du mich ganz alleine lassen würdest, dass Vater mich wegsperrt, mich aus dem Haus wirft und, und, und. Du hast das niemals eingestellt, mir immer noch, da war ich schon Jahrzehnte alt, das vorgehalten, ich wäre doch nichts wert. Du warst gefräßig und heißhungrig auf jede Art Gehässigkeit, wie kein Tier ist.
Du hast auf alles von mir nur mit Panik reagiert, wenn ich krank war und weinte, Schmerzen hatte, Angst, wenn ich Probleme hatte. Was machtest du, als ich noch kleiner als klein war? Als ich noch nicht mal sprechen konnte oder krabbeln. Ich sehe deine Augen, deinen Mund, ich rieche dich mit der Gehässigkeit vor mir, wie du in mein Gesicht hinein schreist und mich ausschimpfst. Du hast nicht aufgehört mit dem gehässig sein, bevor ich nicht ganz still war.
Jetzt höre ich auch endlich unsren Klang und den genauen Ton. Der Vater sagte immer wieder: Der Ton macht die Musik! Jetzt höre ich auch die Musik, die schon so lange in mir spielt und spielt, auch scheinbar ohne mich. Jetzt höre ich den Ton und Klang der Sprache meines Hasses. Gehässigkeit in einer Melodie. Ich höre auch den Unterschied zur guten Wut, die sich ganz anders anhört und nicht bösartig. Ich höre, wie du tobst. Ich höre die Gehässigkeit, wie sie jetzt fließt in mir.
Gehässigkeit macht nie was heil und wieder gut, nur Freude hin und Liebe madig und kaputt und sie verachtet nur mehr Leid, verachtet Lebenslust und Freundlichkeit, verachtet echte Anteilnahme, mit ewig gleicher Überheblichkeit.
Was lernte ich?
Ich wollte mich wie jedes Kind von Anfang an verständigen, und du warst nur gehässig dafür.
Was lernte ich?
Verständigung zu suchen. Verständnis immerzu zu suchen, wo kein Verständnis ist. Verständigung mit dir zu suchen.
Was lernte ich?
„Bleibst du jetzt bei mir?“
„Nein, ich muss heute zurück ins Internat zur Abifeier.“ Ich stehe vom Bett auf. Sie greift mit geschlossenen Augen nach meiner Hand. „Du hast mich nie gemocht, was, Kleiner?“ Ich ziehe meine Hand zurück. Schweige. Jetzt atmet sie ganz schwer, zittert, seufzt, röchelt, liegt still. Drei Tage später ist sie tot.
Niklas Frank Meine Deutsche Mutter
Die Überheblichkeit und Grausamkeit, von einem etwas zu verlangen, der gar nicht weiß, um was es geht, der das nicht hat, was man andauernd trotzdem bei ihm sucht. Von einem Kind etwas nur zu verlangen, von dem es nicht mal eine Ahnung hat. Von jemandem Verständnis fordern und erwarten.
Das brachtest du mir bei. Mich zu verständigen, wo keinerlei Verständnis herrscht, wo die Verständigung unmöglich ist. Wo ein Verständnis überhaupt nicht möglich ist. Gehässigkeit, die ihresgleichen sucht. Gehässigkeit, die ihresgleichen suchen muss; mit Überheblichkeit. Nur so verhindert man Gefühle und die Beziehung zu sich selbst und merkt das nicht einmal. Solange man die Kindheit noch in einem Spiegel sucht und sich damit zum Narren hält. Solange man das nicht auf sich bezieht, Gehässigkeit, Bösartigkeit und Schuld und Überheblichkeit. Solange man sich nur dabei vergisst, kann man sich nicht von seinen Eltern lösen und seiner eignen angelernten Grausamkeit.
Was hat denn meine Mutter immerzu bei mir verhindert? Was unterdrückte sie denn dabei selbst? Was regte mich denn später an der Überheblichkeit von anderen dermaßen auf?
Da bleibst du! Jetzt ist Schluss. Wenn ich es sage, ist gleich Schluss! Du kommst mir nicht mehr aus. Sie lächelte und plötzlich freute sie sich so.
Und jetzt gehörst du mir. Jetzt lasse ich dich nicht mehr aus.
Was lernte ich?
Für dich die Wut und meinen Zorn zurückzuhalten. Mit Überheblichkeit und mit Gehässigkeit hast du mir deine Unabhängigkeit gezeigt, wie du damit die Wut und deinen Zorn zurückzuhalten suchtest. Von Anfang an. Voll Zorn und Wut auf alles, was ich als Kind, was jedes Kind nur äußerte.
Was mich als Kind so mitnahm und später auch noch fertig machen konnte, war, dass meine Mutter sich benahm, als hätte es nie was gegeben. Als hätte sie nie was getan.
Jetzt hast du es kaputt gemacht, sagt sie.
Mir einmal selbst nur glauben können, mir selbst das abzunehmen, was ich nur fand und was mir wichtig war.
Jetzt hast du es geschafft! Jetzt hast du es kaputt gemacht.
Als würde in mir etwas unaufhörlich denken, mich fragen und dann wieder weiterdenken: Was mache ich nur jetzt? Was mache ich damit? Wo soll ich jetzt noch damit hin?
Jetzt hast du es verschandelt! Jetzt hast du es kaputt gemacht.
Ich hatte was gezeichnet. Doch das gefiel ihr nicht. Sie mochte nicht, wenn ich was zeichnete, wenn ich nur zeichnete und nicht so zeichnete, wie sie das haben wollte.
Jetzt hast du es geschafft, sagt sie und schaut mit einem Mal ganz milde.
Sie nahm mir meine Freude weg. Von Anfang an. Das war Verstümmelung, die ich so lange nicht verstand. Die Mutter, die die Freude nimmt, verstümmelt so ihr Kind. Mit Überheblichkeit und mit Gehässigkeit. Sie nimmt mir meine Freude weg und meine Lust am Spielen. Sie nahm mir beides weg. Sie nahm mir immer wieder etwas von mir weg. Wie Lust am Spielen der Zerstörung wich. Wie immer wieder die Zerstörung dann allmählich Lust bereiten konnte. Wie die Zerstörung eines Spiels, zur Freude, Schadenfreude schließlich wurde.
Die Lust auf Freude zu zerstören lernen. Das heißt, die Freude am Zerstören lehren. Die Freude am Verstümmeln lernen. Sich selbst und anderen die Freude nehmen, nehmen müssen. Die Lust und das Verlangen nach Verstümmelung und nach Zerstörung. Die Lust auf Freude zu zerstören lernen.
Jetzt höre ich den Schrei. Die Weißglut, die ich gegen meine Mutter schreie. Auf ihr Gesicht, das mich vollkommen übersehen hatte können, auch wenn sie noch gerade eben mich beleidigt und verstümmelt hatte, mit ihren Zähnen, ihren Gesten, ihrem Hass. Sie führte mich an Orte, wo sie als Kind dem Hass mit Furcht begegnet war. An ihre dunklen Orte. Wie an den See im dunklen Wald. Wo Kreuze zum Gedenken an die Toten stehen. Wo dunkles Wasser ist und Moos. Wo Namen eingeschrieben in Papiere und aufgeschrieben und gezeichnet lagern.
Sie zeichnete ununterbrochen für mich Bilder für den Kindergarten, auch später für die Schule, und wenn ich etwas nur hinzufügte, wenn ich nur etwas darauf selber zeichnen und ergänzen wollte, dann schrie sie mich gleich an, als hätte ich ihr Bild verstümmelt, als hätte ich ihr weh getan und sie verletzt, und nicht sie mir.
Und dann schäme ich mich natürlich auch, daß ich Wut auf eine Tote habe – meine Mutter starb übrigens ganz unerwartet ein Woche, bevor ich zwanzig Jahre nach meiner Volljährigkeit, endlich den Mut aufbrachte, aus der gemeinsamen Heimatstadt wegzuziehen. Ich sehe das immer so, als sei das ihr letztes Mittel gewesen, mich zu halten; als sei sie vor Verzweifelung, mich nicht mehr in der Hand zu haben, gestorben. Das erinnert mich an eine Erählung von Sommerset Maugham: „Louise“; ich hoffe, ich gebe den Inhalt korrekt wider: Louise, so beschreibt sie der Erzähler, gilt in der Gesellschaft als aufopferungsvolle Mutter, aber er berichtet genau, wie sie ihre Tochter beherrscht. Sie behauptet ständig, krank zu sein – und selbst die kleinste eigenständigste Regung der Tochter kränkt sie. Die Tochter heiratet nicht, kümmert sich um ihre Mutter, verhärmt vollständig und stirbt. Von nun an kümmert sich eine Freundin um Louise – und die Mutter verhält sich erneut so wie zuvor. Der Erzähler stellt Louise endlich nach Jahren zur Rede und nennt sie selbstsüchtig, gehässig und mißgünstig. Sie jammert herum, daß sie doch immer nur das beste für ihre Tochter gewollt habe, und daß sie jeden Tag sterben könne, so krank sei sie. Man werde das schon sehen. Der Erzähler verläßt Louise wütend: am nächsten Tag stirbt sie. Und der Leser weiß: sie tat es aus bloßer Gehässigkeit, um jenen Mann ein Leben lang mit schlechtem Gewissen zu strafen. – Nun, so empfinde ich den Tod meiner Mutter. Es ist fast ungeheuerlich so etwas zu sagen – und es ist das erste Mal, daß ich diesen Gdanken jemand anderem mitteile; denn auch meine Mutter drohte unzählige Male: Du bringst mich noch ins Grab! Du bist noch mein Tod!
Aus dem Leserbrief Haß und Wut Sunday 22 July 2007 © 2015 Alice Miller – all rights reserved
Die Freude am Zerstören lernen und auch lehren, muss so ein Kind wie ich, das seinen Zorn auf die Verstümmelung durch seine Mutter hin, nicht einmal zeigen oder zeichnen, nicht mal sich selbst erzählen kann und darf. Das Flügel stutzen lernte ich, mit Überheblichkeit und mit Gehässigkeit, Lebendigkeit und munter sein beschneiden, um so auch die Verstümmelung der Seele klaglos hinzunehmen.
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