Texte von Hugo Rupp

Beziehungsangst

 

So wurde meine Angst vor meiner Mutter, zur Angst vor Freiheit und vor Unabhängigkeit und selbst vor Liebe; zum Schutz und zur Bewahrung einer guten Mutter, die es in Wirklichkeit für mich nicht gab.

Ozzie, bitte, komm jetzt herunter.“

Versprich mir, versprich mir, dass du nie jemand wegen Gott schlagen wirst!“

Er hatte nur seine Mutter darum gebeten, aber aus irgendeinem Grunde gelobten alle, die auf der Straße knieten, dass sie nie jemand wegen Gott schlagen würden.

Wieder herrschte Schweigen.

Jetzt kann ich runterkommen, Mama,“ sagte dann der Junge auf dem Dach. Er wandte den Kopf nach rechts und links, als blickte er auf die Verkehrsampeln. „Jetzt kann ich runterkommen …“

Und das tat er, mitten hinein in das gelbe Netz, das im Dunkel des beginnenden Abends wie ein übergroßer Heiligenschein leuchtete.

Philip Roth Die Bekehrung der Juden

Der stumme Vater, dem ich was zeigen will. Doch er schaut mich nur an und sagt zur Mutter, dass sie sich um mich kümmern soll, die Mittagspause sei vorbei, er würde sich noch etwas hinlegen und dann in Ruhe wieder in die Werkstatt gehen. Mein Vater spielte nicht mit mir. Ich machte für ihn Späße und den Clown, er aber mochte keine Faxen für mich machen. Er lachte oder lächelte, doch nichts, was er im Umgang mit mir tat, war spaßeshalber, witzig und auch nur spielerisch gemeint.

Mein Schlucken und mein Schluchzen als Säugling. Mein Schluckauf und die Schluckbeschwerden.

Gleich wird dein Vater böse.

Ich konnte nicht im Dunkeln sitzen ohne Angst. Nicht einmal das war mir noch möglich. Nicht einmal ohne Ton und ohne Klang, nicht einmal stumm und ohne Licht, war in mir Sicherheit und soviel Stille, dass mich nichts mehr anstieß: Pass auf! Pass immer auf. Denn Vater kann durch Meere und durch Wände gehen. Durch Dunkelheit. Er findet mich, und ich bin dran und mich erschreckt sein Blick, wie der eines gar gänzlich Fremden.

Wie Vater ohne Vorwurf nichts ertrug, geh ich durch einen Supermarkt und korrigiere in Gedanken alle Menschen. Ich schimpfe ohne Unterlass in mir, nur kann das keiner hören. Und niemand kriegt das mit, wie ich in mir, wie Vater früher, mich über alles nur beklage und aufrege.

Wie in mir eine Stimme sich vor Schimpf und Schande schützen will und schimpft und schimpft und ganz genau so wie mein Vater schimpft. Und in mir schreiend laufe ich davon.

Das Kind möchte am liebsten spielen und Vater und Mutter nur spielen, und nicht sein.

Sándor Ferenczi Ohne Sympathie keine Heilung

Ich musste Sympathie für Vater haben und bekunden. Ich musste immerzu um Sympathie, um ein Gefühl der Sicherheit nur werben. Mein Winseln wie ein Hund. Ergebenheit um Sympathie zu wecken.

Wenn du nicht zu den Verdurins gehen willst,“ sagte ich zu ihr, „im Trocadero findet ein glänzendes Benefiz statt.“ Sie hörte meinen Vorschlag, dort hinzugehen, mit leidender Miene an. Ich begann, wieder hart mir ihr umzugehen wie in Balbec zur Zeit meiner ersten Eifersucht. Ihr Gesicht spiegelte Enttäuschung wider, ich aber machte, um meine Freundin zu tadeln, die gleichen Gründe geltend, die meine Eltern mir so oft entgegengehalten hatten, als ich klein war, und die meinem unverstandenen kindlichen Gemüt uneinsichtig und grausam erschienen waren. „Nein, trotz deiner betrübten Miene,“ sagte ich zu Albertine, „bedaure ich dich nicht. Ich würde dich bedauern, wenn du krank wärest, wenn dir ein Unglück zugestoßen wäre oder wenn du einen nahen Verwandten verloren hättest, was dir vielleicht gar nichts ausmachen würde in Anbetracht des falschen Gefühlsüberschwangs, den du an nichtige Dinge verschwendest. Im übrigen schätze ich die Empfindsamkeit von Menschen nicht, die uns heftig zu lieben behaupten, hingegen nicht imstande sind, uns den geringsten Dienst zu erweisen, und die trotz aller Gedanken, die sie auf uns verwenden, unachtsam den Brief vergessen, den wir ihnen anvertraut haben und von dem unsere Zukunft abhängt.“

Diese Worte hatte ich – da ein großer Teil von dem, was wir sagen, nur Wiederholung eines bereits vorhandenen Textes ist – sehr oft von meiner Mutter gehört, die einmal (da sie mir gern erklärte, man dürfe wahre >Empfindung< und >Empfindelei< nicht verwechseln, wofür die Deutschen – deren Sprache sie bewunderte, obwohl mein Großvater vor dieser Nation immer Grauen bekundet hatte – eben diese beiden Ausdrücke geprägt hätten), als ich weinte, sich bis zu der Äußerung verstiegen hatte, Nero sei auch vielleicht nervös gewesen, werde aber kein bißchen besser dadurch. Tatsächlich stand jetzt, so wie es Pflanzen gibt, die sich im Laufe des Wachstums spalten, neben dem sensiblen Kind, das ich einzig gewesen war, ein Mann voll gesunder Vernunft und Strenge gegen die krankhafte Schwäche der anderen, ein Mann, der dem sehr ähnlich sah, was meine Eltern für mich gewesen waren. Zweifellos hatte, da jeder in sich selbst das Leben der Seinen fortsetzt, ein gesetzter, spöttisch überlegener Mensch, der ich zu Anfang nicht gewesen war, sich zu dem sensiblen Wesen in mir gesellt, und es war auch ganz natürlich, daß ich mich so entwickelt hatte, da ja meine Eltern so gewesen waren. Noch dazu fand in dem Augenblick, da es Gestalt annahm, dieses neue Ich seine Sprache fix und fertig in der Erinnerung an die ironisch tadelnden Reden vor, die man mir gehalten hatte und die ich jetzt meinerseits anderen hielt; sie kamen ganz natürlich aus meinem Munde hervor, sei es, daß ich sie durch bloße Nachahmung und Erinnerungsassoziationen wieder heraufbeschwor, oder daß die zarte, geheimnisvolle Macht des Sippenerbes in mir, ohne mein Wissen, wie auf dem Blatt einer Pflanze, den gleichen Tonfall, die gleichen Bewegungen, die gleiche Haltung eingezeichnet hatten, über welche die auch verfügten, aus denen ich hervorgegangen war. Hatte denn nicht im übrigen manchmal meine Mutter (so viele dunkle unbewußte Strömungen machten in mir auch noch die kleinsten Bewegungen meiner Finger geneigt, sich dem Zyklus meiner Eltern vollkommen einzufügen) geglaubt, mein Vater trete ein, weil ich so ganz die gleiche Art an die Tür zu klopfen hatte wie er?

Marcel Proust Die Gefangene

Den Ausweg mit der Sprache wie mein Vater finden. Mit Vorwürfen, Beleidigungen, um Sympathien werben. Stets schimpfen und beleidigen und damit Sympathien werben. Mit Hass für Sympathie und Liebe werben. Ich lernte und ich lernte schnell, mit Worten um mich werfend, mit Sprache zu verführen.

Ich muss Dich solange fragen dürfen, bis ich die Situation vollständig genug sehe, um Dein Handeln zu verstehen.

Alice Miller, aus: Das wahre „Drama des begabten Kindes“, Martin Miller

Die Lüge, dass Überwachen, Strafe, auch etwas Gutes an sich haben kann.

Bist du nicht traurig, wenn ich nicht mehr zu dir komme!?

Ich zitterte und kniff die Augen zu. Ich drückte, wieder ganz allein, den Körper vor dem Fenster meines Zimmers durch und wäre doch am liebsten rausgesprungen und verschwunden. Wenn etwas meinen Zustand seit der Kindheit wiedergibt und auch von Anfang an beschreibt, dann ist es alarmiert für mich und jeden sein, für alles was sich regt, bewegt und etwas von sich gibt, schließlich vollkommen überwach.

Wirst du nicht traurig sein, wenn es mich nicht mehr gibt!?

Wann immer Mutter zu mir kam, kam sie mit dieser Frage. Was sie mir damit beibrachte und demonstrierte, verstehe ich erst jetzt. So macht man Extremisten. Sie pochte immerzu auf Sympathie. Ob ich im Fieber lag oder schlaflos aus Angst vor einem Schwarzen Mann nicht schlafen und nicht träumen wollte, sie lächelte und wollte trotzdem meine Sympathie. Halsstarrigkeit, ihr Wesen durch und durch. Halsstarrigkeit, das brachte sie mir bei, ihr jederzeit und ganz egal was auch geschah, Aufmerksamkeit und Sympathie bezeugen.

Und plötzlich höre ich die Stimme wieder, wie sie in ihrem Dialekt mich schimpfte und beschimpfte, wie sie mir drohte und Gewalt antat. Die Schimpftiraden in mir kamen nicht von meinem Vater. Die Flüche, die mein Herz zerrissen und mir Furcht einflössten, die kamen nicht von ihm. Wenn ich allein mit meiner Mutter war, hinter verschlossnen Türen und geschlossnen Fenstern. Wenn niemand etwas hören konnte, nur ich und sie. Wie ich noch keinen Sinn für Unterschiede in den Worten fand, nur Angst, wenn sie mich wieder etwas hieß.

Das waren keine Übergriffe die aus Lust, Verlangen nach Berührung oder Nähe, kamen. Im Gegenteil, sie langte mir in meinen Schritt und kniff mich in mein Glied, damit ich mich nicht länger rühren würde. Sie zog an meiner Vorhaut voller Hass. Auf Unterdrückung und Verleugnung aus. Zwanghaft die Äußerungen meines Körpers auszuschalten. Ihr Schreien und ihr Zetern gegen mich und meine Anteilnahme, waren Verachtung auf die Wirklichkeit, die sich in meinem Weinen äußerte. Was sie von mir verlangte, war, mein eigenes Verlangen nach Wirklichkeit, nach der Empfindung aufzugeben. Zwanghaft wie meine Mutter in mich drang und immer wieder insistierte, so zwanghaft ging ich später dann auch vor. Ich konnte lautes Schlucken, Husten, Schluchzen, nicht mehr länger hören. Ich dachte schließlich jede Äußerung, wäre nur wieder eine Ausrede. Als würde sich ein Kind mit Angst und Weinen nur herausreden. Aus was? Aus Schuld, die es nicht gab.

Und was mich quälte, das beschimpfte ich. Beschimpfte mich und schimpfte jeden anderen. Nicht lieben und nicht fühlen dürfen. Sie durfte das, aus vollem Halse schreien und verunglimpfen, und ich sollte schön ruhig sein, beim auf die Welt kommen und gleich schön ruhig auf der Welt auch bleiben. Ich sollte mir den Zorn gegen ihr Mutter-Kind-Idyll, das immer nur die Sehnsucht meiner Mutter war, von Anfang an gehörig aus dem Kopf schlagen und Sympathie für ihr Idyll in mir bewahren und verwahren.

Ein stilles Heim, mit einem stillen Kind. Sie wollte ein Idyll. Zuhause ist es doch am schönsten. Und dieses Paradies bestand für mich aus Worten und Geboten und Verboten. Beanstandung gab es von Anfang an. Beanstanden, für Anstand sorgen und bestrafen.

Mein Traum von einem Jungen ohne Schmerz.

Antigonish

Yesterday, upon the stair,
I met a man who wasn’t there.
He wasn’t there again today,
I wish, I wish he’d go away…

When I came home last night at three,
The man was waiting there for me
But when I looked around the hall,
I couldn’t see him there at all!
Go away, go away, don’t you come back any more!
Go away, go away, and please don’t slam the door…


Last night I saw upon the stair,


A little man who wasn’t there,


He wasn’t there again today


Oh, how I wish he’d go away…

William Hughes Mearns

Ach hätte ich doch nichts mehr zwischen meinen Beinen, was mich im Schlaf auch weckt und mich auch immer wieder juckt. Ach hätte ich doch wie die Mutter nichts mehr dort. Dann könnte sie mich nicht mehr zwicken und erschrecken. Wie sie mir doch mit zwicken, immer wieder zwicken droht. Ach könnte ich mich wie die Mutter doch erleichtern, damit sie nicht mehr schimpft. Und mich nicht mehr wie einen Hund, dann mit dem Kopf voraus in eine Lache mit der Nase tunkt. Ach wäre ich doch ohne einen zwischen meinen Beinen, damit es auch für Vater endlich nichts zu lachen und zu lächeln gibt. Wenn Mutter ihm erklärt, er sei so klein und stehe schon in mancher Nacht. Sie lachen sich dann krumm und schütten sich vor Lachen aus, wenn ich auf ihre Worte hin zu weinen anfange. Ach wäre ich doch ohne etwas zwischen meinen Beinen. Und keine Missgeburt, was Mutter immer wieder sagt, und Vater nennt mich später Nachgeburt. Da haben wir die Nachgeburt wohl aufgezogen. Sie nennt mich Missgeburt, wenn sie vor mir so tobt, und Vater nennt mich Nachgeburt. Ach wäre ich doch etwas anderes, damit die Mutter mich in Ruhe lässt und Vater nicht mehr lacht.

Was mir so weh tat, war die stete Abwehr meiner Güte und meiner Wut. Ich dachte und ich fühlte immerzu, ich würde meiner Mutter nur weh tun. Nur weh tun können. Ich würde und ich könnte gar nichts Gutes für sie tun. Ich könnte gar nichts wirklich Gutes selbst hervorbringen. Dass ich, ein kleines Kind, ihr doch nur weh tun würde können. Deswegen schimpfte sie doch ohne Unterlass und griff mir zwischen meine Beine. Ich tat mir später lieber selber weh, als meine Suche nach der guten Mutter aufzugeben. Und so wich jede Schuld von ihr. Durch mich. Ich selbst entschuldigte mit dem Gefühl der Schuld, unfähig etwas Gutes zu vollbringen, die Mutter immer wieder selber. Ich würde nie was Gutes tun, solange ich auf Mutter wütend wäre.

In Wirklichkeit suchte ich einen Ausweg aus der Welt mit ihr. Ich suchte einen Ausweg aus der Welt der Schmerzen und der stumpfen Schläge gegen meine Anteilnahme und Empfindung. Ich suchte keine Schatten an der Wand. Ich suchte einen Ausweg aus ihrem Labyrinth, dem Zaubergarten ihrer Böser Junge, Gute Mutter Spiele.

Sie tat mir weh, beschämte meine Äußerung, gab mir die Schuld. Sie tat mir immer wieder weh, damit ich ihre „Güte“ endlich schätzen lernte. Sie tat mir weh, damit ich sie mit Dankbarkeit begrüßen lernte. Sie tat mir immer wieder weh, damit ich mich benahm. Mit Dankbarkeit sollte ich auf sie warten, warten, warten, warten. Dabei ging es um Unabhängigkeit. Ich aber sollte niemals von ihr unabhängig sein und niemals unabhängig von ihr werden. Frei sein war für mich nie erlaubt. Und alles Zittern schließlich, endlich, aus Angst vor Unabhängigkeit.

Die tiefe Angst vor Unabhängigkeit!?

Die tiefe Angst der Mutter vor der Unabhängigkeit, die ich so immer wieder spürte. Die nackte Angst. Dass jemand meiner Mutter Unabhängigkeit beweisen kann. Wie ich mit meiner Wut und meinem Zorn. Die größte Angst, dass jemand Unabhängigkeit vor ihr auch leben und beleben würde. Die Panik, ihre Tobsuchtsanfälle. Das also spürte ich als kleines Kind, den Schatten, um das Gespenst der Freiheit zu verscheuchen. Den Grund der Mutter, ihrer tiefen Furcht. Dass Vater nicht mehr kommt, dass ich aus Zorn und Wut zu atmen aufhöre. Dass ich mich endlich doch tot schreien würde. Die tiefste Angst, die meine Mutter immer wieder von sich weg, in mein Gesicht schimpfte. Die eigne Kindheit immer wieder wiederholend. Die Angst der Mutter vor der Unabhängigkeit, die konnte ich als Kind nie fassen und mir nicht merken. Die erste, große, unvergesslich große Angst.

Dass eine Mutter, die Angst vor Unabhängigkeit und Freiheit hat, ein Kind auch lieben und befreien kann, ist unmöglich. Denn Angst vor Unabhängigkeit muss Wut und Mut nicht nur verhindern, sondern auch stets beschimpfen und bestrafen.

Ich konnte dann, wie meine Mutter mir das beigebracht hatte, keine Beziehung ohne Angst herstellen; auch nicht zu mir.