Will ich mein Herz an meinem Ärmel tragen
Als Fraß für Krähen. Ich bin nicht, was ich bin.
William Shakespeare Othello (Jago, 1.Akt 1.Szene)
Was Mutter mir aus meinen Händen nahm, was sie mir immer wieder nahm, den Mut zum anders sein wie sie. Wie mich das später so verrückt und wütend machte, wenn jemand was nicht wie ich tat, wenn jemand nicht wie ich dachte. Wenn jemand nicht das denken und das überdenken und sich merken konnte oder wollte, was ich andauernd doch mir dachte und beherrschte und mir dachte.
Und
zitternd
schau ich wieder zu. Jetzt kann ich wieder nur zusehen, wie Angst als Strafe zu mir kommt. Jetzt kann und muss ich wieder zuschauen, wie Mutter mir weh tut.
Wer hat mir denn das beigebracht, mich selbst nicht mehr zu finden und zu achten? Wer hat mir denn das beigebracht, mich und die Mutter zum Verschwinden bringen, als Schuldige, als eine, die mich quält und mir weh tut, und dennoch nichts zu fühlen wahrt. Wer hat mir denn das beigebracht, die Mutter stets verschwinden lassen, wenn es um meine Schreie geht. Nicht schreien und nicht weinen und nicht zornig sein, wenn sie mich straft, bestraft. Wer hat mir denn das beigebracht, das als von Gott gebracht, mit Gott versehen und versehen, zu sehen, und nichts dabei fühlen, wie wirklich alles ist, was Mutter mir beibringt, wenn sie mit mir alleine ist.
Ich dachte immer nur, dass hinter Mutters Strafe etwas ist, dass hinter ihr noch jemand wirkt.
Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer der helfen wollte? War es ein Einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.
Franz Kafka Der Prozess
Dass hinter Mutters Strafe jemand steht, dass hinter ihrer Wut und hinter ihrem Zorn, Gerechtigkeit sich regt. Dabei war niemand da, nur meine Mutter selbst.
Das Wesen meines Strafgedankens, mein immer wieder Strafen überdenken und bedenken müssen. Dass ich nicht ohne Gott auskam, dass ich nicht ohne Vater hinter meiner Mutter für mich selbst alleine hätte überleben können. Wenn ich gewusst hätte, dass nur die Mutter mich bestraft und nicht im Auftrag eines Gottes was geschah, dass nichts von Gott, von Vater unser, jemals Gültigkeit besaß, was sie mir antat, aus den Händen nahm, wie sie mich anschrie und verfluchte, dann wäre ich im Stand gestorben, wahrscheinlich umgefallen und zerbrochen. Ohne den Zorn und ohne Wut, auf eine, die mir alles aus den Händen nahm und mich beschimpfte und verfluchte.
Ich musste immer ganz genau hinsehen, wenn meine Mutter mir weh tat, dann musste ich genau in meine Mutter Augen schauen.
Schau mir genau jetzt zu, sagt sie. Das hast du dir verdient. Wenn du nicht tust, was ich dir sage. Pass jetzt gefälligst auf. Damit du dann beim nächsten Mal das besser machst, wenn ich dir sage; pass jetzt auf.
Ich fürchtete Gott mehr oder den schwarzen Mann, ich fürchtete mich sehr vor einem Gott oder dem schwarzen Mann, so weniger vor meiner Mutter. Das war die falsche Hoffnung, die ich von ihr in mir empfand. Empfindung und Gefühl, dass etwas größer ist und war, als meine Mutter, wenn ich wie aufgebahrt auf die Bestrafung warten musste und insgeheim noch hoffte, dass sie mir gnädig sei, dass irgendwer, der schwarze Mann, vielleicht auch Gott, sich gnädig zeigen würden. Tatsächlich dankte ich ihr mit dem Glauben, dass sie nicht das war, was sie war, dass sie tatsächlich jemand anders sein könnte, doch irgendwann für mich. Dabei war sie, wie ich mich später fühlte, grausam.
Ich durfte nie so sein und nie so tun, als ginge es um mich. Doch ohne das Gefühl und ein Empfinden, dass etwas geht und dass was ohne Schuld in Ordnung ist und geht, dass sich die Welt tatsächlich um mich dreht, ist ein Kind nur allein, und freuen kann es sich auch nicht, wenn es nicht einmal merken kann, dass seine Welt begründet ist, in seiner Vorstellung des Seins; von sich. Dass es mich wirklich gibt, kann doch im Grunde nur begründet und begreifbar werden, wenn ich auch weiß, dass das, was ich empfinde, auch einzigartig ist und mir gehört. Zu mir.
Was mir den Schlaf raubte und mich verwirrte noch und noch, das sie mir etwas antat und so tat, als wäre nichts gewesen. Dass weder ich noch sie vorkamen, wenn meine Mutter etwas mit mir machte und anstellte. Dass nichts scheinbar von ihr vorkam, dass nichts von ihr für mich selbst kam.
Depersonalisierung. Als gäbe es mich nicht. Als gäbe es das alles gar nicht, was ich auch nicht empfinden darf.
Was ich auch nicht verstand, dass es mich gar nicht gibt. Wie soll ein Kind das nur verstehen? Wie sollte ich das auch empfinden, dass es mich gar nicht gibt? Doch meine Mutter wollte das doch immer von mir haben, dass nichts, egal was auch passiert, mir etwas ausmachte.
Für mich geht es jetzt endlich auch um mich.
Ich sollte nur so tun, als würde mir nichts fehlen oder abgehen. Ich sollte immer nur so tun, als hätte ich genug. Dabei empfand ich immer einen Mangel und Neid auf jeden der geliebt wurde und der auch selber lieben konnte.
Der unbewusste Neid von Mutter auf mich Kind, mich auszudrücken und zu tasten, nach Liebe und nach Zuneigung, nach Zweisamkeit, mich auszustrecken und nach ihr zu suchen. Der unbewusste Neid zerstörte in mir doch im Grunde alles. Denn sie verfolgte mich mit ihrem Neid und sie beschämte mich damit und stellte mich so hin und machte alles von mir lächerlich, womit ein Kind geboren wird; Empfindung und Gefühl zu achten und zu teilen, zur Freude seiner selbst und seiner Eltern hin. Doch mein Gefühl, mein Ausdruck der Empfindung, war für sie eine Qual, ein Ausbund voll Verachtung; für sie. Sie hat doch alles, was ich konnte, von Anfang an beneidet und verachtet.
Alles an meiner Mutter konnte neidisch sein. Alles, was meine Mutter tat, tat mir dann später weh. Ich konnte ausrutschen, schon wurde Mutter böse. Neidisch auf alles, was es gibt und was geschieht. Auf alles, was mich freute. Auf alles konnte ich dann später neidisch sein. Wenn das, was mich einmal gefreut hatte, dann anderen gefiel. Ich war so neidisch auf ihr Spiel, und wusste nicht warum. Wenn jemand unabsichtlich etwas tat, war ich noch neidischer. Wenn jemand keine Absicht hatte. Wie jedes Kind beim ersten Mal.
Die Reue über eigenes Versagen, über die eigenen mütterlichen Eigenschaften. Wie sie sein. Sie nachahmen. Die Eigenschaften, die für mich so schrecklich in der Kindheit waren. Ich hatte Nachsicht mit der Mutter. Ich hatte Mitleid doch mit ihr. Ich hatte Nachsicht, die sie niemals mit mir hatte. Ist das die Sehnsucht nach Vergebung? Die Sehnsucht eines kleinen Kindes, das sich nicht anders helfen kann, als zu vergeben müssen. Mit Nachsicht und mit Anteilnahme, die ich von meiner Mutter nie bekam. Das nicht mehr als Nachteil und als Versagen anzunehmen. Ich tat etwas, was meine Mutter niemals für mich tat. Die eignen Taten schließlich zu bereuen.
Ich ließ mir Zeit für meine Leiden. Das hat sie niemals so getan. Das hat sie mir und sich niemals gegönnt, sich einmal nicht nur zu verleugnen. Sie hat sich das niemals getraut, sich selbst als feindselig, bösartig, ohne Vertrauen hinzustellen, vom Neid zerfressen und getrieben, und angefeuert und gehetzt, ohne zu wissen, woher das kommt. Der Unterschied zu meiner Mutter ist, dass ich die Reue über mein Verhalten als Erwachsener ergreifen kann, dass ich die Reue über meine Art Verleugnung, Verachtung endlich spüre und begreife. Verantwortung.
Ich bin nicht Jago.
Ich werde meiner Mutter nicht vergeben. Das Mitleid und mein Schrecken, das musste ich verstecken, die Angst und mein Entsetzen immer nur verleugnen. So tun, als wäre alles bestens. Nur Mut für die Vergebung der Gefühle; nur Mut zur Leugnung der Verbrechen an der Kinderseele.
Wenn ich mich heute sehen kann, als Kind, vor dem die Mutter sich andauernd tötet, selbst tötet und umbringt, und Tag für Tag, dann spüre und empfinde ich so eine Wut, die nur begreifbar für mich wird, wenn ich mir eines immer wieder sage: Ich werde meiner Mutter nie vergeben. Nicht, weil ich das nicht will, was ich als Kind unzählig oft tun hatte müssen und ihr vorspielen. Mein Leid und meinen Zorn und meine Angst und meine Wut vor meiner Mutter zu verstecken, die sich darüber auch noch freut. Wenn ich für sie ein Häufchen Elend war und so auch vor ihr stand. Das war auch der Moment, wo meine Mutter ganz authentisch wirkte. Wenn sie sich diebisch freute und scheinbar gar nicht neidisch war.
Vergeben müssen, ist das Barbarischste und Gröbste was man einem Kind beibringen kann. Denn das vergeben müssen, löscht wie nichts sonst, Kontakt zu sich und seinem Kind, und löst auch die Verbindung auf von der Empfindlichkeit zur Liebe und zur Zärtlichkeit. Im Grunde löscht vergeben müssen, Verbrechen an der Liebe, die Liebe selbst und somit Mut vollkommen aus. Und ohne Mut gibt es auch keinerlei Verantwortung.
Tracey : „Schau, du musst einfach ein bisschen an die Menschen glauben!“
Woody Allen Manhattan
Deshalb empfand ich als Kind eine solche Angst, weil meine Mutter keinerlei Verantwortung für das, was sie mir antat, an sich selbst empfand. Weil sie für nichts, was sie getan hatte, bei sich selbst, an sich selbst, je eine Antwort fand. Sie hat mir niemals das Gefühl gegeben, ich könnte ihr vertrauen. Ich konnte nicht an Menschen glauben. Sie schützten doch in ihrem guten Glauben nur immer meine Mutter. Wie hätte ich denn ihnen glauben können, wenn ich noch nicht einmal den Zugang fand, zu mir, mit meinen eigenen Empfindungen!?
Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts mehr zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.
Franz Kafka Das Schloß
Doch alle Schlösser in mir waren Luftschlösser, und einst die Schlösser meiner Mutter. Mit einem unbestimmten Hoffnungsschimmer auch. Aus Himmel und aus Hölle. Kaputt gemachte Liebe lässt sich nicht mehr retten und erneuern. Wer einem Kind die Freude nimmt, zerstört damit auch seine Liebe. Die Luftschlösser, dass sich die Freude und die Liebe retten lässt, dass es die Liebe in den Wolken gibt. Wie Mutter sich für meine Liebe immer wieder umbrachte. Die Luftschlösser waren die einzig noch verbliebene Möglichkeit, Liebe und Freude zu erhalten. Doch Liebe, angetastet, lässt sich ohne Wut und Zorn des kleinen Kindes nicht erhalten, wenn Zorn und Wut unmöglich sind. Dass ich die Mutter nicht mehr lieben konnte, nachdem sie mich allein, bestraft, allein, bestraft, allein gelassen und bestraft hatte. Das war der unbewusste Sinn von Mutters Todesspielen, dass sie die Liebe von mir neu erwecken und wieder leben lassen wollte. Ich sollte meine Mutter wieder lieben. Ich sollte mich auf meine Mutter wieder freuen können. So krank war das Gefühl in ihr. Als sie mir weh tat und sich dabei wünschte, ich möge ihr vergeben und sie wieder lieben. Noch Luftschlösser zu haben, war doch die einzig noch verbliebene Form und Möglichkeit gewesen, wenigstens Liebe virtuell für sich zu retten und sie nicht aufzugeben.
Und jetzt wird auch die Angst verständlich, frei, die mich mit Vater, Mutter, Gott und Jago und Konsorten, schwarzer Mann, verbindet und verband; als Kind bestraft zu werden. Die Angst, die Liebe könnte ein für alle Mal erlöschen und ausgehen. Das nahm ich unter Schmerzen immer wieder an, was so gewaltig und nachhaltig war. Die Angst jedes mit Einsamkeit bestraften Kindes. Mit Furcht vor dem endgültigen Verlust.
Solange ich mich an die Mutterliebe klammern musste, wie an ein Luftschloss in den Wolken, wurde ich meine Angst und meine Furcht vor dem Verlust nicht los. Weil ich nicht merken hatte können, dass ich mich nie mit Liebe hatte schützen können. Denn sie war gar nicht da. Es war gar keine Liebe da. Es war ja nichts davon in mir vorhanden. Deshalb war meine Furcht so groß und meine Angst so gründlich, vor jeder Art Verlust.
Die Furcht in meiner größten Not. Wie tollwütige Hunde tobten in mir aus Liebesmangel, die Angst und meine Furcht und Wut und Zorn.
Jetzt aber bin nicht mehr einsam. Ich weiß, was meinen Eltern und mir fehlte. Ich bin nicht mehr einsam und merke auch, ich bin nicht mehr so neidisch und eifersüchtig auf die andern. Ich bin nicht mehr einsam. Ich bin nicht mehr wie meine Eltern. Ich bin nicht mehr wie sie nur für mich waren. Ich bin nicht länger eifersüchtig. Wie sie auf meine Kindheit waren. Ohne zu wissen, was uns fehlte. Ich bin nicht mehr einsam.
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