Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser. – Läßt er keinen Zweifel offen über den Weg, den ich zu gehen habe? Zeigt er, in welche Richtung ich gehen soll, wenn ich an ihm vorbei bin; ob der Straße nach, oder dem Feldweg, oder querfeldein? Aber wo steht, in welchem Sinne ich ihm zu folgen habe; ob in der Richtung der Hand, oder (z.B.) in der entgegengesetzten? – Und wenn statt eines Wegweisers eine geschlossene Kette von Wegweisern stünde, oder Kreidestriche auf dem Boden liefen, – gibt es für sie nur eine Deutung? – Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch keinen Zweifel offen. Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen, manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz.
Ludwig Wittgenstein Philosophische Untersuchungen § 85
Taube Ohren
immer wieder höre ich dasselbe
dass ich taube Ohren habe
immer wieder
stille Tränen
Atemnot
anfallartig.
Vom Vertragen müssen.
Immer wieder nur vertragen müssen
üben. Luft anhalten üben
nur nicht was jetzt sagen
husten, wenig, weniger,
denn das hat der Vater auch nicht gern.
Nur nicht etwas auslassen.
Nur nicht Vater anschauen.
Luftanhalten üben.
Unter Wasser atmen
können üben, üben, üben.
Unter Wasser üben.
Taube Ohren üben.
Taube Ohren, sagt die Mutter.
Taube Ohren, dass ich taube Ohren habe.
Dass ich nicht mehr richtig höre.
Taube Ohren haben alle Kinder.
Irgendwann mal taube Ohren.
Taube Ohren, sagt er
und schlägt zu.
Taube Ohren muss ich haben.
Taube Ohren,
wieder unter Wasser.
Taube Ohren.
Immer nur vertragen müssen.
Husten, husten, räuspern, nicht mal richtig husten
traue ich mich,
nicht mehr richtig husten.
Immer musste ich mich doch vertragen. Alles immer nur vertragen müssen. Was passiert. Immer nur vertragen müssen. Immer nur vertragen müssen. Immer nur vertragen müssen. Was passiert, immer nur vertragen müssen.
Mit der Schwester mich vertragen. Mich vertragen müssen mit den Eltern und Verwandten.
Nicht mal eifersüchtig sein. Nicht mehr eifersüchtig sein. Nichts mehr davon will der Vater haben.
Hörst du!
Schau mich jetzt gefälligst an, wenn ich mit dir rede.
Hörst du!
Im Gewissen reden. So als würde ich doch ständig etwas falsch machen. Zwingen zum Gehorsam. Innerlich aufhorchen. Stimmen meiner Eltern. Immerzu betragen und verhalten, so als hätte Mutter mich im Blick. Unter meines Vaters Fuchtel.
Jetzt ist wieder gut!
Immer schön betragen üben.
Nachsicht mit den Eltern.
Und nicht traurig sein.
Mich nicht trauen
nie zu früh mich
wieder nicht zu früh
mich niemals richtig freuen.
Jetzt vertragen wir uns wieder, sagt sie. Jetzt vertrag dich wieder mit dem Vater! Jetzt vertragt euch wieder, sagt er. Jetzt gebt euch gefälligst wieder die Hand, sagt sie, und der Vater. Jetzt vertragt euch endlich wieder. Jetzt vertrag dich schön mit deiner Schwester, sagt er. Jetzt vertrag dich wieder mit den Leuten. So schlimm ist das auch nicht! Oder? Gebt euch jetzt die Hand. Schließt jetzt endlich wieder Frieden, sagt mein Vater.
Dieser Unverzeihliche.
Schaute in den Boden, weil ich mich vertragen musste.
Seid jetzt wieder gut. Jetzt vertragt ihr euch auch wieder.
Hartnäckig und unnachgiebig
Du gehst da nicht mehr hin. Dorthin gehst du mir nicht mehr, sagt er.
Husten, räuspern
und nach Luft schnappen.
Wie ich das von anderen verlangte, mich zu mögen, wenn ich ihnen weh tat.
Lege mich ins Zimmer ohne Fenster; niemand soll mich hören. Niemand sehen wie ich lag.
Im Flur standen Davide und sein Vater, noch immer klein, noch immer Herrscher, noch immer ohne den geringsten Zweifel.
Giorgio Scerbanenco Das Mädchen aus Mailand
So als wäre Angst normal: Luft anhalten, Atmung kontrollieren, wenn ich an die Mutter denke, wenn ich Vater sah. So als würde es tatsächlich eine Vorschrift geben, ein Gesetz, nachdem ich mich zu richten habe.
Hatte das geliebte Gesicht gesehn und die ungesagten Worte gehört. Bleib, wo wir so lange allein zusammen gewesen, mein Schatten wird dich trösten.
Pause. Klopfen.
Konnte er nun nicht umkehren? Seinen Irrtum erkennen und dahin zurückkehren, wo sie einst so lange allein zusammen gewesen. Allein zusammen soviel geteilt. Nein. Was er allein getan, war nicht ungetan zu machen. Nichts, was er je allein getan, war je ungetan zu machen. Durch ihn allein.
Pause.
In dieser äußersten Not ergriff ihn wieder die alte Angst vor der Nacht. Nach so langer Zeit, als ob es sie nie gegeben. Pause. Sieht genauer hin. Ja, nach so langer Zeit, als ob es sie nie gegeben. Nun mit doppelter Gewalt die furchtbaren Vorzeichen wie auf Seite vierzig. Abschnitt vier, ausführlich beschrieben. Beginnt zurückzublättern. H.s linke Hand hindert ihn daran. Zurück zur eben verlassenen Seite. Schlaflose Nächte, sein Los nun wieder. Wie als sein Herz noch jung. Keinen Schlaf, kein Mut zum Schlafen bis zum – Blättert um –
Morgengrauen.
Pause.
Es bleibt nur noch wenig zu sagen. Eines Nachts –
Klopfen.
Es bleibt nur noch wenig zu sagen.
Pause. Klopfen.
Eines Nachts, als er von Kopf bis Fuß zitternd, mit dem Kopf in den Händen dasaß, erschien ihm ein Mann und sagte, Ich bin geschickt von – und hier nannte er den geliebten Namen -, um Sie zu trösten. Dann zog er ein abgegriffenes Buch aus der Tasche seines langen schwarzen Mantels, setzte sich hin und las, bis es graute. Dann verschwand er wortlos.
Pause.
Samuel Beckett Ohio Impromptu
Wenn ich mich benehme, wirft er mich nicht aus dem Haus. Wenn ich mich betrage. Wenn ich mich verhalte, wie er das will. Wenn ich tue, was sie sagen. Er und Mutter reden immer wieder darüber. Dass sie mich rausschmeißen, wenn ich nicht vertragen lerne.
Keine Zugehörigkeit. Immer nur bedroht.
Wenn du schon so gescheit bist, kannst du dich gleich schleichen! Meinst vielleicht, du wärst was besseres!?
Jederzeit verstecken und verschwinden und in Luft auflösen, unter Tischen oder unsrer Eckbank mich verbergen, wenn Geschrei wieder beginnt. Meine Luft anhalten.
Wie mein Vater war ich, wie ein so zurückgekehrter aus dem Krieg. Hatte überlebt im Graben. Schoss auf alles mögliche, was sich nur bewegte, was sich zeigen wollte und nach draußen wagte. Tanzen, springen, hüpfen und sich freuen. Schoss Verachtung gegen jede Art von Zugehörigkeit.
Ich kann Ihnen sagen, Thomas, in meinem Leben habe ich Momente erlebt, da dachte ich: Thomas Bernhard und Beckett, die haben völlig Recht, die Welt ist schwarz, und so muß es sein. Und zwei Stunden später war diese Schwärze nicht mehr stichhaltig. Ich habe gewußt, so ist es gewesen, aber das ist nicht mein Leitfaden. Das ist nicht das, was mich bei der Stange hält.
Peter Handke Nebeneingang oder Haupteingang? Gespräche über 50 Jahre Schreiben fürs Theater Peter Handke, Thomas Oberender
Lief herum, streunte durch die Stadt. Ging nie zufällig nach Haus. Kam nie zufällig in meine Hausstraße. Ging nie zwischendurch nach Haus. Blieb im Regen oder fremden Hauseingängen. Stand auch unter einem Baum, wenn es dunkel wurde oder Nacht. Kam nie mehr zu früh nach Haus.
Ich roch an einem Fliederbusch und spürte Zugehörigkeit. Ich suchte nach Gerüchen. Nach einem Zeichen von Eindeutigkeit und Liebe, Zuneigung, und Zugehörigkeit. Nach einem Fleck in meiner Nase, der endlich mich geborgen hält. Geschmack von Zuneigung auf meinen Lippen.
Was ich tatsächlich an der Mutter roch, war Alkohol und eine stumpfe Trauer, die sich vor mir verkroch. Und Vater stank nach Krieg, Feindseligkeit und nach Gehorsam und vor Angst aus beiden Nasenlöchern.
Ich glaube nicht, dass meine Haut je dünner war, um eine Wahrheit aufzuzeichnen.
Plötzlich riech ich die Mutter, wie sie schreit und meine Hände immer wieder schüttelt. Mich zornentbrannt dann schultert und nach unten hält. So dass mir alles Blut in meinen Kopf hinunterläuft. Deshalb wird mir so schwindlig.
Sie konnte immer wieder lächeln dann.
Mein Laufen, meine Gehversuche, erste Schritte. Die Inszenierung für den Vater.
Sie schob mich weg und schickte mich geradeaus. Ihm sollte ich dann später so entgegen gehen. Nicht laufen und nur ja nicht hinfallen. Ich sollte Punkt für Punkt der Inszenierung folgen, und fiel auf meine Knie. Sie schrie mich an und schrie mich an, dass ich zu blöd zum Gehen und zum Laufen sei. Ich sollte ihrer Inszenierung nach, dem Vater in die Hände laufen und ihn umarmen und liebkosen. Ihm um den Hals fallen.
Als Ritual der Zugehörigkeit.
Er blieb nirgendwo sitzen, sondern lief die ganze Zeit ruhelos umher und fragte nach seinem Dæmon, wo er wäre, ob er bald käme und so weiter. Und die ganze Zeit hielt er diesen gedörrten Fisch umklammert, als ob …
Philip Pullman Der goldene Kompass
Mein rechtes Knie tat weh, und meine Mutter schrie. Ich weinte, und meine Mutter riss an meinem rechten Hosenbein.
Mir wurde später immer schwindelig, indem ich mich zu Demut und Gehorsam zwang. Das hin und hergerissen sein, dass ich mein zugehörig sein, zum Vater hin, zur Mutter hin, dann immer später auch beweisen wollte, das aber niemals wirklich fertigbrachte. Weil ich nicht wusste, wie das geht, wie sich ein zugehörig sein anfühlt. Weil mir gar keine Zugehörigkeit vermittelt worden war. Die Mutter mochte nicht, wenn ich ihr hinterher krabbelte. Sie mochte nicht, wenn ich mich an ihre Fersen heftete. Sie mochte nicht, wenn ich an ihrem Rockschoß hing. Sie mochte mich nicht anhänglich und machte mich für ihre Zwecke so. Die Mutter wollte einen Anhänger. Doch sie ertrug nicht mein anhänglich sein.
Ich auf meinen Knien. Solange taten mir die Knie auch weh. Denn meine Wut war gar nicht da. Und niemand hat mich ohne Gegenleistung aufgerichtet. Im Grunde floh ich mit den Eltern vor mir selbst. Ich war ihr Fluchtbegleiter. Wir flohen vor der eignen Wahrheit immer wieder.
Jemand aus Not und Elend zum Anhänger machen. Aus Not und Elend zum Anhänger werden.
Ich wurde ein so guter Anhänger, weil ich mich schon so früh entscheiden hatte lernen müssen; für jemand und gegen mich und mein Gefühl und die Empfindung meines Leids. Die Mutter und mein Vater wollten meine Liebe gar nicht haben. Sie wollten mich nur als Anhänger, gehorsam und loyal, nur ihnen gegenüber.
Befehle, Stimmen und Einflüsterungen. Zur eignen Sprache bringen. Die Sprache eines Kindes. Was meine Eltern sagten, mir befohlen und erzählt hatten. Darauf zu achten und zu hören, und niemals, nicht mal unbewusst, dagegen aufbegehren und sich wehren. Und unter keinen Umständen, sich was davon anmerken lassen.
Einflüsterungen dann wie Selbst-Befehle; befolgen und den Stimmen immer wieder folgen. Anhänger sein. Auch wenn die Flüsterstimme Todeswünsche äußert.
Nichts fühlen heißt, nichts davon sich zu merken, wie sich das anfühlt, ohne Namen sein, wenn man da liegt und niemand anderes da ist, und ohne Töne, ohne einen Laut, und ohne angehörig sein und niemals zugehörig, in einem Zimmer ohne Baum und ohne Sprache, ohne Gegenüber und ohne einen Ton geborgen sein.
Ich wartete auf Mutters Anrufe und zitterte dabei. In Abgeschiedenheit gefangen sein. Von meiner eignen Vorstellung. Die Anrufung der Mutter durch ein Kind. Ich rief in Wirklichkeit den Geist der Mutter immer wieder in mir an. Nicht dass er kommen und mich holen sollte. Er sollte mich in Ruhe lassen und in Frieden. Doch so ein Wünschen war für mich bewusst tabu; verboten für einen Anhänger. Denn ohne einen Jünger, gibt es auch keinen Führer mehr.
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