Texte von Hugo Rupp

Befreiungswunsch

 

»Ja, ich bin in der Tat eine Laus«, fuhr er fort, indem er sich voll Schadenfreude an diesen Gedanken klammerte, in ihm wühlte und genüßlich mit ihm spielte, »allein schon deshalb, weil ich, erstens, in diesem Augenblick darüber philosophiere, daß ich eine Laus bin; weil ich, zweitens, einen ganzen Monat lang die allgütige Vorsehung inkommodiert habe, indem ich sie zum Zeugen dafür anrief, daß ich es sozusagen nicht um des egoistischen Wohls und der eigenen Lust tun wollte, sondern ein herrliches und wohltätiges Ziel anstrebte, ha-ha-ha! Weil ich, drittens, den Vorsatz gefaßt hatte, bei der Ausführung die denkbar größte Gerechtigkeit walten zu lassen, Maß, Zahl und Gewicht: Unter allen Läusen wählte ich die allerunnützeste und nahm mir vor, nachdem ich sie getötet hätte, ganz genau soviel zu nehmen, wie ich für den ersten Schritt brauchte (der Rest wäre also dem Kloster zugefallen, laut ihres Testaments – ha-ha-ha!) … Und dann, dann bin ich deshalb endgültig eine Laus«, fügte er zähneknirschend hinzu, »weil ich möglicherweise noch ekelhafter und übler bin, als die getötete Laus und weil ich vorausfühlte, daß ich mir das sagen würde, nachdem ich getötet hätte! Was läßt sich mit solchem Grauen vergleichen! Gemein! Gemein! … O, wie gut verstehe ich den >Propheten<, mit dem Säbel in der Hand, hoch zu Roß: Allah gebietet, gehorche, zitternde Kreatur! Recht und zweimal recht hat der >Prophet<, wenn er irgendwo quer über die Straße eine or-r-r-dentliche Batterie Aufstellung nehmen läßt und auf Schuldige und Unschuldige feuert, ohne sich auch nur zu einer Erklärung herabzulassen! Gehorche, zitternde Kreatur, und – unterstehe dich zu wollen, denn das kommt dir nicht zu! … O, niemals, niemals werde ich es dieser Alten vergeben!«

Sein Haar war feucht von Schweiß, der starre Blick auf die Zimmerdecke gerichtet, die zitternden Lippen waren trocken.

Fjodor Dostojewskij Verbrechen und Strafe

Ich hatte eine Mutter, die immer nur so tat, als würde sie sich interessieren, die mir was vorspielte, die zu mir auch noch kam, aber doch immer nur, wenn sie was von mir wollte. Das habe ich solange übersehen, dass sie auch mir zuweilen half, doch immer nur, wenn sie etwas dafür bekam. Gefühl von einem bessern Leben. So tun, als ob. So sein, als wäre man ein anderer. So tun, als wäre man gescheit und besser wie die Eltern.

Was habe ich die Leute doch gehasst, weil sie wie meine Mutter und mein Vater waren; selbstherrlich, ohne Freiheitsdrang. Sie hatten sich doch nie befragt, wie sie es mit der Freiheit halten würden. Und unter Schmerzen dachte ich, die Leute halten mich doch auf. Sie lassen mich nicht frei und lassen mich nicht selbst entscheiden.

»Ich werde gehen, erlauben Sie mir nur noch ein letztes Wort«, sagte er, kaum noch Herr seiner selbst. »Ihre Frau Mutter scheint völlig vergessen zu haben, daß ich mich entschloß, um Ihre Hand zu bitten, obwohl es nicht nur in der Stadt, sondern im ganzen Kreis um Ihren Ruf nicht zum Besten bestellt war. Da ich um Ihretwillen die öffentliche Meinung ignoriert und mich um die Wiederherstellung Ihrer Reputation bemüht habe, durfte ich höchlichst, höchlichst mit Ihrer Erkenntlichkeit rechnen und sogar auf Ihre Dankbarkeit hoffen. Erst jetzt sind mir die Augen aufgegangen! Jetzt sehe ich, daß ich vielleicht höchlichst, höchlichst unbedacht gehandelt habe, indem ich mich über die Stimme der Öffentlichkeit hinwegsetzte … «

»Dem ist wohl seine Haut gar nichts wert?« brüllte Rasumichin und sprang von seinem Stuhl auf, bereit, sich auf Luschin zu stürzen.

»Sie sind ein niederträchtiger und böser Mensch«, sagte Dunja.

»Kein Wort! Keine Bewegung!« rief Raskolnikow, um Rasumichin zurückzuhalten; darauf trat er so dicht vor Luschin, daß er ihn beinahe berührte:

»Hinaus!« sagte er leise und deutlich. »Kein Wort mehr, sonst …«

Pjotr Petrowitsch starrte ihn einige Sekunden mit bleichem, wutverzerrtem Gesicht an, drehte sich dann um und ging hinaus, und selten hat ein Mensch so viel glühenden Haß auf einen anderen in seinem Herzen mitgenommen wie dieser Mann auf Raskolnikow. Ihm, und ihm allein, gab er die ganze Schuld. Es ist bemerkenswert, daß er, schon auf der Treppe, sich immer noch einbildete, die Sache sei vielleicht noch nicht verloren und könne, jedenfalls sofern es auf die Damen ankam, sogar »höchlichst, höchlichst« wieder ins Lot gebracht werden.

Fjodor Dostojewskij Verbrechen und Strafe

Die größte Leistung meiner Kindheit war, für mich selbst anzunehmen und nicht nur so zu tun, dass meine Mutter mich doch mögen würde. Selbst wie die Mutter sein, so wie sie leibt und lebt. Mit ihrer Stimme schweben und Brücken auch zum Jenseits bauen. Wie Mutter alles einschwärzen, was noch Erinnerung, Gefühlsspur und Empfindung hat. Alles soll untergehen, nur Unglück soll bestehen.

Muss was vom Leiden haben. Halt mir ein Leid und Unglück vor die Nase. Solang ich regierte

zu weinen anfing und zu schreien, ging sie. Bestrafte mich für eine Ahnung und Mitgefühl; für meine Fähigkeit zur Freiheit. Bestrafte mich für die Empfindung, die Achtung eines anderen. Achtung war Mutter viel zu wenig. Nur mit Beachtung konnte man meiner Mutter dienen.

Aufmerksamkeitswahn der Mutter auf mich übertragen. Am Leid der anderen verdienen.

So tun, als ob. So bleibt das eigne Leid unwahr und dunkel, eingegraben. So tun, als hätte man Gefühle. Jemandem helfen in der Not. Wie Psychotherapeuten, die Vergebungs-Fallen stellen.

Ich ist ein anderer

Arthur Rimbaud

Mit Träumen grub ich meine Mutter aus und machte sie mir gegenwärtig. Sie stand in ihrer Küche voller Not und sagte mir kein Wort. Ich drehte mir die Mutter hin, doch sah sie mir nicht in die Augen. Sie nahm nicht meine Richtung wahr. Und ich verachtete die ihre. Wir drehten uns und drehten uns. Im Kreis. Verachtung und Verachtung kommen sich nicht näher. Wir blieben dem Narzissmus treu und konnten nicht den andern damit stören. Die Kältebrücke hielt uns frei. Die Eisprinzessin und ihr Sohn. Ich war wie diese Frau. Denn ich erhoffte Mitleid, Mitgefühl, Aufmerksamkeit, im Grunde hoffte ich auf Liebe, wenn ich vom Tod besessen war und nur von Auslöschung erzählte. Als würde jemand einen wirklich lieben können, der nur von Tod und Auslöschung getrieben scheint! Dem Leben abgewandt und jeder Art Lebendigkeit selbst fremd. Gesang vom Absterben und Untergang. Ausrottung alles Lebens. Geburt rückgängig machen. Die letzte Rebellion. Zerstörung alles Lebens, Zerstörung meines Kindertraums. Doch endlich einmal friedlich ohne meine Eltern leben.

Und plötzlich merkte ich, dass meine Angst vor meiner Mutter schwand. Weil ich mein Leid tatsächlich ausgegraben hatte und nicht das eines anderen. Als ich mein Leid tatsächlich ausgegraben hatte, da sah ich wie die Mutter vor mir stand, sie war im Tod und nach dem Tod und schaute doch kein bisschen anders. Sie war genauso, wie sie immer schon gewesen war. Sie tat nur so und so, als ob. Nicht einmal tot, schon längst gestorben und vergangen, war etwas in mir irgendwo, das sich an Herzlichkeit und Liebe, Freundlichkeit, erinnern hätte können. Mein Leiden war, dass ich mit meiner Mutter niemals etwas andres fand.

Jetzt weiß ich auch, was mich erschreckt hatte, als ich den Jungen im Leichenschauhaus sah, auf den ich doch so eifersüchtig war, weil er der beste Fußballer gewesen war, den ich in meiner Heimatstadt auch kannte. Den wünschte ich, den schickte ich im Geiste auch zum Tod. Den wollte ich tot sehen. Was ich von meiner Mutter schon von Anfang an gelernt hatte, wie man auch Rache nehmen kann, indem man einen Fluch ausspricht. Den meine Mutter bei mir immer anwandte: Du wirst noch an mich denken.

Ich selbst, das Spiel mit Leiden und vermeintlichen Gefühlen. Nur mein Narzissmus und mein Selbstmitleid, waren am Friedhof damals anwesend. Nichts sonst und eine Angst im Hintergrund, die ich auch nicht verstand. Die Angst vor einem Leben in der Tiefe, dort wo der tote Junge für mich hingehörte, in einer Hölle des vergessen werden und vergessen sein und auch vergessen bleiben, die reinste Hölle für ein kleines Kind, die Hölle und dort, ich ganz allein.

Noch vor der Tür, nur einen halben Meter von der Scheibe weg, nur ein paar Kerzen und die Blumen hatte ich gesehen; noch nichts von dem Gesicht, das eine Maske war, die meines eignen Todes, wie ich das unbewusst in mir auch augenblicklich selbst empfand. Ein Schrecken und Erschrecken dermaßen, dass ich mich augenblicklich umdrehte, wie meine Mutter weg ging und verschwand, und diesen Jungen liegen ließ. Dass ich mich selbst damit verlassen und verdammt hatte, mein Leid, unfähig zu empfinden fand, das konnte ich nicht wissen und empfinden.

Weil ich das nicht verstand, wie jemand leiden konnte. Weil ich das auch erleben hatte müssen, wie meine Mutter nichts von mir verstand. Weil sie nichts wissen konnte und nichts wissen wollte, wie sehr ein Kind doch unter Wasser und unter einer Glocke und unter einer Maske leidet.

Wer fremdes Leid nicht einmal nimmt und nicht als gegenwärtig auch hinnehmen kann, kann eignes Leid auch nicht annehmen. Der kann nicht fühlen, was das heißt, sein Leid für seine Eltern als Kind abzulegen. Wer fremdes Leid nicht selbst erleben kann, kann sein Leid auch nicht länger leben. Nur totes Leid, ist nie empfunden und gelebt worden. Doch totes Leid vergiftet eine Seele.

Als ich mein Leid gegen die „Mutterliebe“ eingetauscht hatte, verschwand mein Mitgefühl. So wurde alles künstlich, tot und klinisch. So wurde alles zu, als ob. So wurde alles künstlich, und mein Blick musste sich nach der Mutterliebe richten, die keine Liebe wirklich war, nur eine Abrichtung, mein Leid nicht mehr bei mir zu suchen und zu finden. Nicht mehr dort sein und nicht mehr bleiben, wo ich von Anfang an gewesen war; bei mir. So lernte ich mein Leid nur immerzu woanders zu vermuten. So lernte ich, Leid immer nur in anderen zu suchen.

Zweischneidig/Bindungsangst und Double Bind, die Angst des kleinen Kindes, die Mutter muss identisch sein mit allen Frauen – Wesen.

Ich musste endlich aufhören, mein Leid nur immer zu zerschneiden. Und nur so tun, als würde ich davon nichts abbekommen und nichts wirklich mitkriegen. Denn schließlich musste ich mich doch, wie meine Mutter mir das beigebracht hatte, vom Unglück anderer ernähren. Mein Glück bei anderen zu suchen. Dass ich nur glücklich sein konnte, wenn mir das Unglück eines anderen auch gegenwärtig würde, das war nichts anderes als Rache, Wut und Hass. Nichts anderes, was Mutter immer schon mit mir gemacht hatte: Zerstörung meiner Lebensfreude.

Wer Leid verhindern möchte, tötet im Grunde seine Freude. Wer Unglück nur verhindern will, verhindert damit auch sein Glück. Die Anleitung, zum Glück im Unglück suchen, stammte von meiner Mutter. Sie leitete mich an, so tun, als ob ich glücklich wäre, obwohl bei ihr, für mich die Hölle war.

Wer die Empfindung stört, zerstört das Leid und sein Empfinden davon, zerstört das Interesse eines Kindes an der Welt. Und pflanzt in dieses Kind, die Vorstellung und seinen Willen ein, von Unabänderlichkeit, von Unglück und von Glauben an Unfreiheit. So nimmt man einem Kind die Möglichkeit zum Glück und seiner Freude, ohne dass dieses Kind etwas sich merkt. So formt und macht man Sklaven für sein eigenes Unglück.

Ich wusste später nicht, dass Freiheit Glück bedeutet und umgekehrt, dass glücklich sein sich immer frei anfühlt. Ich musste dazu erst vom Unglück meiner Mutter meine Finger lassen lernen, sonst hätte ich mein wahres Leid und meine Freude nie entdeckt. Nur so konnte ich endlich aufhören, vom Unglück anderer zu zehren und zu leben.

Sich nicht befreien dürfen, ist der Schmerz, der in der Kindheit liegt. Mich nicht befreien dürfen, war Mutters Botschaft, wenn sie mich verließ.

Mich nicht vom Schmerz befreien können, der in der Botschaft meiner Mutter für mich lag, wenn sie mich einfach liegen ließ. Indem sie mir das täglich vorführte, wenn sie wegging, sich sterben ließ, so tat, als ob, wenn sie dann wieder kam, wenn sie dann lächelnd wieder zu mir kam: Du wirst dich nicht davon erholen. Du wirst dich nicht davon befreien. Denk nur daran, dann werde ich dich wieder liegen lassen. Denk nur daran. Du kannst dich gerne auf mich freuen. Nur zu! Doch freu dich nicht zu früh. Denn jede Freude ist strafbar, und deine ganz besonders!

Sie machte den Befreiungswunsch in mir strafbar und mich mit ihm so schuldig. Sie machte alles Fühlen und Herantasten an meine Freiheit schuldig, schmerzhaft, strafbar. Sie machte die Bewegung, zur Freude und zur Liebe und zur Freiheit hin, in mir, vollkommen madig.

So dachte und so fühlte ich schließlich, dass mein Befreiungswunsch, mein Unglück sei und dass mein Wunsch nach Freiheit, nur Leid auslösen würde.

Nur Kapitulation würde mein Leid beenden können. Als Kind habe ich aufgegeben. Ich habe meinen Wunsch tatsächlich aufgegeben. Den Wunsch nach Freiheit und nach Mitgefühl.

Sich nicht befreien wollen, ist schlicht undenkbar für ein Kind, weil es unfühlbar ist. Weil jede Emotion und jedes fühlen des Gefühls, Empfindung heißt, ein Kind um ein Gefühl bereichert; und weiter bringt und treiben lässt im Fluss der Emotionen, Gezeiten-Strom, Gefühlsleben. Nur weiter, weiter, immer weiter.

Die Mutter wollte, dass ich meinen Wunsch aufgebe. Sie wollte das, wie alle Mutterreligionen. Wie alle Religionen sich das wünschen, dass man sich mit dem Wunsch aufgibt. Sich zu befreien, soll man gefälligst aufgeben. Denn niemand kann damit regieren. Niemand kann Freiheit der Gefühle wieder einfangen.

Sie wollte, dass ich meine Finger von der Freude und der Liebe lasse, so wie sie das am meisten an mir hasste, als ich das noch nicht tat, so tun, als ob.

Die Wut, von der doch Alice Miller immer wieder sprach, kennzeichnet das Gefühl, bestimmt den Ort, wo das Gefühl und die Empfindung immerzu verhindert worden sind. Wo der Befreiungswunsch erstmals, für den Gehorsam gegenüber einer Mutter, auch aufgegeben wurde, weil aufgegeben werden musste. Den Augenblick der ersten Katastrophe, in dem das Leiden und das Unglück eines kleinen Kindes tatsächlich entpersönlicht und deshalb auch verachtet wurden.

Gefühle nicht befreien und somit nicht begreifen dürfen, zerstört die Kindheit und die Zukunft eines Kindes. Denn das verheerende dieses Verderbens ist, dass man sein Augenmerk für später, auf sein Versagen und Kapitulieren lenkt und nicht auf den Befreiungswunsch. Die Wirkung ist verheerend, weil sie zum Mittelpunkt des Interesses wird und nicht das Kind mit den Gefühlen. Der Wunsch nach Kapitulation wurde von meiner Mutter angeregt und angelegt. Der Wunsch nach der Befreiung der Gefühle, lag immer schon in mir, wie auch in jedem andern Kind, und ist so alt wie erstes Licht.

Nach über 50 Jahren, fällt mir jetzt plötzlich wieder ein, was ich mit meiner Mutter erstmals hörte und später immer wieder summte, was mit Musik, einschmeichelnd in mich kam.

Trinke, Liebchen, trinke schnell,

Trinken macht die Augen hell.

Sind die schönen Äuglein klar,

Siehst du alles licht und wahr.

Siehst, wie heiße Lieb‘ ein Traum,

Der uns äffet sehr,

Siehst, wie ew’ge Treue Schaum –

So was gibt’s nicht mehr!

Flieht auch manche Illusion,

Die dir einst dein Herz erfreut,

Gibt der Wein dir Tröstung schon

Durch Vergessenheit.

Glücklich ist, wer vergißt,

Was doch nicht zu ändern ist!

Sing, sing, sing, trink mit mir,

Sing mit mir – Lalalala!

Richard Genée, Karl Haffner, Die Fledermaus

Was für mich nicht zu ändern war, war die perverse Lust am Untergang. Und so zu tun, als könnte ich daran nichts ändern. Als würde einem immer dann, wenn man vom frei sein träumte, das Unglück und das Unheil jagen. Nur mit Betäubung, Unglück, Unheil noch ertragen. Gefühle eines Selbstmörders.

MORGENLIED

Liebe zog dich auf, eine dicke goldene Uhr.

Die Hebamme schlug deine Sohlen: dein kahler Schrei

Nahm seinen Platz ein unter den Elementen.

Unsre Stimmen echoen deine große Ankunft.

Neue Statue.

In einem zugigen Museum beschattet dein Nacktsein

Unsere Sicherheit. Wir stehen herum blaß wie Wände.

Ich bin deine Mutter nicht mehr als

Die Wolke, die tropft, bis ein Spiegel entsteht, der ihre

Langsame Auslöschung zeigt von der Hand des Windes.

Die ganze Nacht flackert dein Mottenatem

Bei den flachen rosa Rosen. Ich wache auf, um zu horchen:

Eine ferne See rührt sich in meinem Ohr.

Ein Schrei, und ich stolpere auf vom Bett, kuhschwer

und blumig

In meinem viktorianischen Nachthemd.

Dein Mund geht auf, rein wie der einer Katze. Das

Fensterviereck

Wird weißlich und schluckt seine trüben Sterne. Und nun

probst du

Deine Handvoll Noten;

Die klaren Vokale steigen wie Ballons.

Sylvia Plath, Deutsch von Erich Fried

Jede Art Befreiung wurde von meiner Mutter nur verurteilt und vereitelt. Jede Art Befreiung wurde von der Mutter nur verachtet. Jede Art Befreiung wurde später nur belächelt. Jede Art Befreiung wurde später nur beschämt. Jede Äußerung in diese Richtung wurde immer nur verschämt. Wurde angegriffen und verurteilt, wurde nur beschämt. Jede Art Befreiung wurde immer nur beschämt. Später wurde alles, was nicht so wie sie war, immer nur beschämt. Kann man davon leben?! Das soll Kunst sein!? Das kann jedes Kind! Keine Art Befreiung wurde mir geschenkt. Keinerlei Beachtung eines Wunsches nach Befreiung. Alles wurde so versenkt, alles unter eine Glocke, alles hinter eine Wand, alles unter Wasser, alles unter Sand. Jede Art Befreiung, jeder Wunsch danach, jede Freundschaft, jede Liebe, jede Sympathie, jedes Mitgefühl mit einem Lächeln, wurde immerzu verachtet. Jeder Wunsch nach Freiheit wurde so verachtet, jedes Mitgefühl verlacht. Jeder Wunsch nach Freiheit wurde sichtbar abgekanzelt, abgeurteilt und verlacht. Jede Art Befreiung kam gleich an den Pranger. Jedes Fühlen umgebracht. Weil sie keinerlei Beachtung den Gefühlen eines Kindes schenkte. Weil sie immer nur beachtet werden wollte. So wird Achtung umgebracht und mit ihr die Freiheit. So wird die Verachtung angelernt und die Angst vor Freiheit und vor Liebe. Was sich einst befreien wollte, wurde immer nur verlacht, und mit einem Lächeln schließlich selbst verlernt. Wut und Schmerzen, Freudentränen; Liebe kann jetzt nicht mehr untergehen.

Der Schmerz vom nicht erwachsen werden, vom sich nicht selbst befreien dürfen, hängt von der Möglichkeit zur Liebe ab.

Fluchtangst wird mit der Liebe frei, die Angst nie mehr zu fliehen können. Die Angst nicht mehr von Mutter wegzukommen. Im Grunde ist das wie Flugangst. Die Angst, nicht mehr aus einem Flugzeug rauszukommen. Nicht fliehen können, wenn doch der Wunsch auftaucht.

Wie grausam das doch war, nicht fühlen dürfen. Wie sehr man doch darunter leiden hatte müssen, wenn jemand einem unentwegt, wie meine Mutter alles nur vorsagte. Wie grausam das doch ist, wenn jemand einem unentwegt Unheil und Unglück nicht nur vorher schon ansagt, – Freu dich nur nicht zu früh! – sondern das Unglück, Unheil selbst für ein Kind ist. Ich dachte immer nur als Kind, zum Unheil, Unglück kann man gar nichts sagen und deshalb auch nicht flüchten, weil ich nicht daran denken hatte können, von meiner Mutter endlich wegzukommen, sie ein für alle Mal auch zu verlassen.