ICH KANN DICH NOCH SEHN: ein Echo,
ertastbar mit Fühl-
wörtern, am Abschieds-
grat.
Dein Gesicht scheut leise,
wenn es auf einmal
lampenhaft hell wird
in mir, an der Stelle,
wo man am schmerzlichsten Nie sagt.
Paul Celan
Nur die Vergeblichkeit bemühen und bemühen.
Jetzt musst du brav sein und schön still. Denn deiner Mutter geht es gar nicht gut, sagt Vater vor der Nacht. Mit diesem Satz mach ich die Augen zu und träume dann vergeblich. Mir blieb nichts anderes mehr übrig, als ganz allein zu sein.
Dass es der Mutter besser gehen sollte, war immer ein Gedanke, den ich verfolgte, wenn ich sie sah, wenn ich in ihrer Nähe war, wenn ich sie näher kommen sah. Was tun, was denken, dass es Mutter besser geht?
Auch wenn sie durchdrehte, mich anschrie, und ihr Hals anschwoll und ihr Gesicht vor Schreien rot wurde und ihre Augen starrten, als würden sie vor Ärger platzen.
Was tun, was denken, dass es Mutter besser geht?
Schön schnäuzen und nicht ihre Mantelärmel dreckig machen. Schön schnäuzen und den Rotz aus meiner Nase blasen.
Schmier mir nur ja nicht wieder deinen Rotz an meinen Ärmel!
Ich höre jetzt den Vater und was er nicht ertrug und wie er mich nicht haben wollte.
Dass alles Glück der Eltern nur von meinem Wohlverhalten käme. Wie mir das schadete, wie sie, mir ihr Unglück vorhaltend, mein Glück verflucht hatten.
Dir soll es einmal besser gehen, sagen sie.
Mir sollte es niemals am Unglück meiner Eltern mangeln. Mein Glück sollte verbunden sein, mit ihrem Unglück auch untrennbar.
Dir soll es einmal besser gehen, sagt sie. Dein Vater will doch, dass es dir mal besser geht.
Ihr Unglück soll die Basis meines Glücks bedeuten. Wie ich das nie verstand. Wie ich das nie verstand, warum es mir mal besser gehen sollte. Doch warum taten sie dann nichts dafür?
Allein mit mir als Kind zu sein, bedeutete für meine Mutter leiden müssen. An mir lag alles Leid; die Mutter litt so unaussprechlich neben mir. Sie litt nur neben mir, niemals mit mir, und ich schien dafür verantwortlich. Ich sollte mit meiner Mutter gar nicht glücklich werden können. Nur durch das Unglück meiner Mutter. Deshalb verfolgte ich niemals ein Glück und fand nicht mal in meinen Träumen dazu einen Hinweis.
Unkommentiertes Leid
Was ich als Kind verlernte und nicht fassen konnte, dass Vater seine Ruhe haben wollte, wenn ich, wenn meine Mutter, wenn meine Großmutter, wenn irgendjemand in seiner Nähe weinte. Er konnte keine Anteilnahme geben, weil er gar keine Leidensäußerung ertrug. Er wollte weder von mir, noch von einem anderen, je diesbezüglich etwas wissen und erfahren. Er konnte gar kein Leid ertragen. Er wollte gar kein Leid, zuhause nicht und auch nicht auswärts, er wollte nichts davon erfahren. Er wollte Leid nicht haben.
Das machte mich so fertig, und jeder Regung und Aufregung gegenüber, dann schließlich überdrüssig und unausstehlich. Ich konnte später auch kein Leid ertragen und kein Gespräch darüber hören, ohne mich augenblicklich abzuwenden.
Mein Vater sollte stets gegen alle Bilder, Töne, Laute, wenn jemand Leid verströmte und sich auch diesbezüglich äußerte, abfällig und verächtlich sein. Mein Vater schnaufte einmal tief, dann drehte er schon auf, dass alles nichts doch im Vergleich mit seinem Krieg, verglichen mit dem Tod der Kameraden und Soldaten, dass alles nichts, verglichen mit einer Haft in einem russischen Kriegsgefangenenlager sei.
Unheimlicher Besucher
Wenn ich krank war, schaute er nur kurz bei mir vorbei und mich nicht richtig an. Er ging ganz einfach wieder weg und hinterließ dabei kein Wort. Ich war mit meinem Leid gar nicht vorhanden.
Deswegen war in mir soviel Vergeblichkeit, Resignation und Aufgeben und unbestimmte Traurigkeit.
Vergeblichkeit hat Vater mich gelehrt, dass alles, was ein Kind und sein Gefühl betrifft und nach Empfindung und Empörung greift, nichtswürdig, unausstehlich sei und ohne Aufhebens verleugnet werden müsste.
Vergeblich hatte ich gekämpft und mich dann ohne Wut schließlich auch aufgegeben.
Die Lehre meines Vaters an mich war, mein Leiden sei doch nur vergeblich. Wie jedes Leiden für ihn doch nur vergeblich war. Er konnte mich nicht leiden, wenn ich leidend war. Mein Vater machte Leiden für mich unmöglich. Ich konnte nicht vor seinen Augen leiden. Die Sicht des Vaters blieb in mir und lebte unverändert fort, dass nichts dem Leid abzugewinnen sei, dass Leid niemals vergehen würde. Dass jemand der noch leidet, nur immerzu vergeblich sich bemühen würde.
Doch das stimmt nicht.
Wer seine Schmerzen aus der Kindheit findet und empfinden kann, was er doch vorher nicht empfinden konnte, kann seine Kindheit endlich enden lassen, als die Geschichte von der Abschaffung des Kinderleids, zugunsten einer Herrlichkeit und Selbstgefälligkeit, die doch im Grunde immer nur vom Vorbild abgelenkt hatte. Von einer Eitelkeit der Eltern, die all mein Leid nur abgewehrt und mich als Kind mit meinem Leid nicht einmal fassen und anrühren hatten wollen.
Wie aufgeblasen meine Eltern waren, wie sie mir ihr Leid vorhielten und meines gar nicht haben wollten. Wie nichtig ich mit meinen Tränen war; wie unwichtig mein Leid für meine Eltern war.
Und wie ich mich verdrückte und immer kleiner wurde und verschloss. Wie ich vor dem Ekel, gegenüber meiner Leidensmiene, mich wegdrehte. Wie mich der Mut verließ, bei Zahnschmerzen doch wenigstens noch zu weinen. Wie ich schließlich gar nichts mehr davon selbst merkte, wie viel an Mühe es mich einst gekostet hatte, meine Schmerzen zu vertreiben. Und welche Aussichtslosigkeit und Leere sich in einem Herzen öffnet, wenn man nur immerzu vergeblich leidet und das nicht einmal nur bezeugen kann.
Schleim und Husten und dann Schnaufen und dann wieder Nase laufen, Spucken und mein Rotz aufziehen und mein immer wieder runterschlucken. Husten und dann Augendrücken, wie es mich dann hob und Würgen und mein Übergeben, wenn ich mich dann übergab, und Mutter dann auch würgte, ihren Ekel mir preisgab, und mein Vater seinen Rücken dazu zeigte, so als würde er nichts davon mitbekommen oder gar nichts davon halten oder nicht da sein.
Schleimen, immer wieder husten. Wut, die sich vergeblich äußern wollte, gegen den Betrug, gegen die Enttäuschung, ganz besonders über meinen rücksichtslosen Vater, der mich nicht ertrug, wenn ich hilflos war und ohne Hoffnung. Vater wollte mich nicht haben, wenn ich etwas nicht ertrug.
Als ich zwei Jahre alt war, da lieferte uns Vater ab, bei Mutters Bruder, sie und mich. Mein Onkel war ein Zahnarzt, und ich hatte eine solche Angst vor ihm. Ich wusste nicht, dass Vater gleich am nächsten Tag schon wieder fahren würde. Er fuhr ganz in der Früh, ohne ein Wort dann weg und ließ mich bei der Mutter und dem Onkel und den anderen, vor denen ich mich fürchtete.
Der Schrei verkapselt sich. Die Kinderschreie kommen in die Tüte, in eine Schachtel Pappmaschee, in ein Geheimfach, werden eingefroren. In eine Kammer ohne Licht, fest zugemacht und abgeschlossen und zugeschweißt, und dann auch noch lackiert, schön rot, wie kandierte Äpfel glänzen, dass niemand etwas davon sieht und hört, die Schreie aus der Kindheit sind verschwunden. Dass niemand davon hilflos bleibt und niemand Hoffnungslosigkeit ergreift. Dass niemand wieder das begreift, wie hilflos und verschwiegen wir darüber waren. Wie hilflos und vergeblich wir darüber etwas sagen und vermelden wollten. Wie Junkies, die sich jeden Tag betäuben und hilflos machen und das betäuben und das wieder nur verjagen. Die Jagd nach Feuer und nach Drachen, die Feuer schlucken und entfachen.
Schau doch nicht gar so traurig drein, sagt meine Mutter, und ich zittere. Vor diesem großen Haus am See und ihrem Bruder und seinen beiden Kindern und ihrer Mutter, deren Sprache ich nicht spreche und nicht verstehen kann. Ich weiß nicht, was die Kinder zu mir sagen.
Ich konnte meinen Vater nie zum Teufel wünschen und ihn im Geiste einfach nur verrecken lassen. Ich hatte dabei immer ein Gefühl von Reue und von Schuldigkeit dabei. Ich konnte meinen Vater nicht im Geiste gehen und verschwinden lassen. Nicht ein für alle Mal. Das konnte ich nicht tun.
Ich hatte ihn doch so gebraucht, um wenigstens zeitweise von der Mutter wegzukommen.
Ich hatte eine solche Angst, der Vater könnte einfach nicht mehr wiederkommen. Das war so furchtbar und unvorstellbar, dass ich allein mit meiner Mutter bleiben würde. Mit der verrückten Schlittschuhläuferin, die ihre Pirouetten auf dem Eis drehte, dass mir vom Zusehen schon schwindlig war. Die Mutter, die sich unaufhörlich um sich selbst drehte und dabei stets bewundert werden wollte. Ein fliehendes Gesicht, ein Wesen, das vollkommen uneinsichtig, flüchtig war und ohne eine Regung, wenn sie Versprechen brach und Lügen mir erzählte. Ein Mensch, dem ich nie trauen hatte können.
Mein Vater war im Grunde ganz genauso.
Das also hatte ich nicht sehen und begreifen können damals. Dass Vater nicht zum Abschied nehmen kam, weil ihn das gar nicht interessiert hatte; wie sehr er mich damit verriet.
Deshalb schau ich nach links und dann nach rechts, im Liegen auf dem Bett und mir wird plötzlich schwindelig. Ich kann den Vater nicht mehr finden. Er ist nicht da. Er war nie da, als ich ihn so gebraucht hatte.
Ich konnte meinen Wunsch nach Gegenliebe, den Schwindel meines Herzens, erst dann aufgeben und besänftigen, als ich die Wut auf meinen Vater endlich spürte; der nie zum Abschied nehmen kam, der einfach ging und mich verließ, als wäre nichts dabei, als wäre das für mich vollkommen unerheblich. Das war es aber nicht. Das war es nur für ihn. Für mich war das vergeblich an ihm festhalten, an einem Menschen hängen bleiben, der mir so weh getan hatte und dabei nie etwas von seinem weh Tun wissen wollte; Verrat. Verraten wurde ich und ausgesetzt von ihm, und ich verstand das nicht als Kind.
Du glaubst doch nicht, ich halte auch nur eine Stunde mit deiner Mutter und ihrem Bruder aus. Das sind doch alles Verrückte, sagt Vater Jahre später.
Mein Vater hat mich jedem Irrsinn schutzlos ausgeliefert, dem er doch selbst so gut es ging entfloh, und ich hab das als Kind gar nicht gemerkt.
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