Texte von Hugo Rupp

Ohnmachtsgefühl

 

Ich wollte, man würde einsehen, dass die Grenzen des Mitleids nicht dort liegen, wo die Welt sie zieht.

Vincent van Gogh, Briefe

Als Kind erklärte ich der toten Mutter meine Bilder. Versuchte ich, verzweifelt noch und trotzdem immer wieder. Die Bilder meiner Kindheit, sind keine Phantasie.

Ich komm damit nach Hause. Die Haare kurz, mit einem Seitenscheitel, wie ich ihn als Kind tragen musste. Adrett zurecht gemacht von meiner Mutter. Ich komme aus dem Krankenhaus. Ein Kind erwartet mich, reicht mir ein Bild. Es zeigt, wie ich in einer blauen Plastikwanne liege. Der Junge, der mir seine Kindheit zeigt. Siehst du, sagt er, da sitze ich schon stundenlang und schreie, doch meine Mutter lässt mich liegen. Mein Kopf ist heiß, sonst ist mir kalt. Ich sitze ja im kalten Wasser. Ich lehne an der weißen Wand. Mir gegenüber hängt ein Blumenbild, mir gegenüber an der Wand. Ein Bild der Auslöschung der eignen Seele. Die Rosenherzen, wie meine Mutter sie andauernd malte. Die Rosen, die so tot waren. Die Blumen, die sie trocknet, in Blumenkörben aufbewahrt. Die Trockenblumensprache meiner Mutter. Die Blumen hinter Glas, wie hinter Zellophan, erinnern mich an Omas Hinterglasbilder, darauf zwei Heilige. Die hätte ich doch erben sollen. Nicht nur die Trauer über ihren Tod, auch etwas ohne Traurigkeit; vielleicht mit Mut. Was ohne Schmerz. Einmal auch hinter Glas zu sein, geschützt wie diese Heiligen. Das war auch eine Illusion, dass ich hinter Bildern verschwinden kann.

Ich male jetzt ein Bild, das ausspricht, was ich leide. Dann ist mein Leiden dieses Bild, und ich hab endlich Ruhe. Die Bilder, die mich wirklich schützten, die gab es selbstverständlich nicht. Das konnte ich als Kind nicht wissen, dass meine Bilder und Gefühle nicht verschwinden, dass nichts verschwinden kann, was in mir ist und geistert.

Die Quälerei, allein mit einem Bild. Ich male mit den Wachsmalkreiden. Ich zeichne Bilder und dann kratze ich daran. Doch nichts verschwindet oder wird noch weniger. Mit jedem Kratzer, wie Schlieren auf den Augäpfeln, tritt meine eigne Landschaft jetzt zu Tage. Jetzt sind tatsächlich Blumen da. Die Blumen für die Mutter. Das Stroh, das lichterloh wie Haare brennt. Das sind die bösen Geister. Die Mutter, die nie kommt, die nur verlieren und verloren spielt und spinnt. Wie in dem Märchen, Rumpelstilzchen. Die Mutter spinnt ihr Gold, mit Lügen und mit Irrsinn. Nur so bleibt sie lebendig. Mit ihrer Vorstellung, dass sie etwas erreichen kann. Sie möchte einen König. Den Herrscher, der sie auserwählt. Die Schönste jenseits aller Spiegel. Die Mutter, schönste Frau der Welt, die mit den Augen brennt und mit den Zähnen fletscht und immerzu wegrennt. Der Engel mit den schwarzen Haaren. Der schwarze Engel und gibt ein falsches Zeugnis.

Deshalb häng ich die Trockenblumen an die Wand. Als Ausstellung der Liebe, die ich nie besaß. Die toten trocknen Blumen, die fühlen so, die spüren nichts, die fasse ich jetzt an. Dann hänge ich sie an die Wand. Das fühlt sich wie die Mutter an, wie mit ihr über Tod und Tod und Tod nur immer reden. Wenn sie was von mir wissen will. Als würde ich mich selbst austrocknen müssen. Ganz ohne Wasser sein, ohne zurechtzukommen. So trocken wie die Mutter sein.

Nur meine Träume sagten was zu mir und sprachen ehrlich weiter. Sonst wäre ich vollkommen leer. Nichts würde sonst von mir wahrhaftig was bedeuten. Hinter den Wänden des Bewusstseins meiner Kindheit, in meinen Träumen hängen diese Bilder. Wie wertvoll diese Bilder sind, das wusste ich auch lange nicht. Sie zeigen mich und mein Gefühl, ohne die Lügen meiner Eltern. Vergiftet sind die Bilder nicht. Sie zeigen die Vergiftung. Chromatographie der Kindheit. Sie zeigen eine junge Frau, die nichts mit ihrem Leben anzufangen weiß, und gar nichts mit der reinen Frucht des Leibes. Ich weinte, sie kam nicht, so lebte ich vergeblich immer weiter. Ich zeige meiner jungen Mutter nun, die Bilder, wie ich sie erlebt habe. Ich zeige meiner Mutter nun, wie ich sie selbst erlebt habe. Ich stelle ihr die Wahrheit vor, wie ich sie selbst erlebt habe.

Ich hörte jeden Laut von ihr. Ich stellte meine Ohren auf. Mein Herz schlug schnell und immer schneller dann, wenn ich mich selbst damit verjagte.

Im Grunde hat ein Kind den Herzschlag eines Löwen, den Mut des Hasen und den eines Lachses. Ein Herz, das sich allein zurechtfindet. Ich hörte meine Angst. In mir ein Hasenherz, das sich vor seinen Eltern fürchtet. Der Lachs, der selbst Staustufen überwinden kann, der überspringt, um seine eigene Brutstätte zu finden. Der Löwe, der so schreit, dass alle nur erzittern. Die Augen meines Vaters. Mit seiner rechten Pranke schlägt er zu, dann schreit er mich noch einmal an.

Brutstätte der Gewalt und meiner Einsamkeit. Als hätte ich ihr Bett niemals verlassen, weil es mir anderswo noch kälter vorgekommen wäre. Allein mit meinen Bildern, mit meiner Kindheit in mir selbst.

Deshalb bin ich solange wach gelegen. Deshalb hab ich so oft geträumt. Ich habe immer nur darauf gewartet, dass jemand zu mir kommt im Traum und meine Bilder auch wahrnimmt und würdigt. Dass jemand mich damit annimmt, mich und die Art Gefühl, wovon ich immer rede. Dass etwas in mir ist, das nicht vergeht. Der nie gefühlte Schmerz. Die nie gefühlte Wut und Zorn, weil nichts vergeben und vergessen ist, das noch lebendig handelt. Maikäfer unter Gaslaternen. Umschwirren ihr Verhängnis. Verbrannte ich mir meine Flügel?

Die Flügel wurden mir ausgerissen, ausgefranst. Von Menschenhand.

Deshalb halt ich an einer Sprache fest, die nichts von meinen Eltern widerspiegelt. Um mich nicht zu verlieren. Ich konnte nur mit einer Sprache nach mir suchen, die mir nicht wehtun würde, mich nicht immerzu nur ängstigt und bestraft. Ich konnte nur in einer Sprache für mich sprechen, die nichts von meinem Vater und meiner Mutter hält. Ich musste die Gewalt und die Gewaltausübenden benennen, um nicht wie sie zu sein. Ich musste eine Sprache für mich finden, die nicht gehorsam sein und nicht gehorchen wollte, wie die, mit der die Eltern mich von Anfang an erschreckt hatten. Ein Kind wie ich, muss sich beleben, aber nicht mit Gewalt. Denn davon hat die Sprache meiner Mutter immer schon gehandelt, von der Gewalt und ihren Spuren; von ihrer Brutstätte.

Der Raum eines Bildes ist eine Mauer, aber alle Vögel der Welt fliegen darin frei herum.

Nicolas de Stael

Der Junge mit dem Bild für mich in seiner Hand, der fragt etwas!

Warum nur hast du Mitleid mit einer solchen Mutter und nicht mit dir, mit mir, mit diesem Jungen, der du gewesen bist!? Schreit dieses Bild? So leise wie nur möglich, um niemand zu erschrecken, schon gar nicht meine Mutter.

Bist du auf beiden Ohren taub?

Warum warst du so blind für Wut?

Musst du noch immer mit der Sprache auf deine Mutter achten?

Verständnisvoll, devot dem Mitleid ausgeliefert? Wie den Symptomen eines Körpers, der seiner Eltern Sprache spricht? Merkst du noch immer nicht, wie das mit Worten und mit Zeichen, mit Gesten und mit Lauten, der Mutter etwas zu bedeuten, ist, das sie nicht haben und nicht hören und nicht sehen will?

Wo schaust du denn schon wieder hin!?

Sie drohte mir und gab es niemals zu.

Sie lenkte meine Augen, Ohren, Haut und meine Sinne ab. An jedem Sonntag spürte ich etwas davon, ohne das wirklich zu berühren, warum am Sonntag Mitleid mit der Mutter kam.

Sie sei auf meiner Seite, sagte sie, dann später immer wieder. Sie sei auf meiner Seite. Wie hinter vorgehaltener Hand, doch dann am Abend beispielsweise, am Sonntag nach dem Ausflug, als Vater weg war, verbot sie mir gleich anschließend den Mund. Was ich ihr anvertrauen wollte, was ich mit ihr verband, verriet sie alles wieder.

Seitdem ich Worte spreche, suche, huste ich, wenn ich etwas verschlucken und vergessen soll von meinem Leid. Die Mutter fiel mir tausendmal in meinen Rücken. Und mein Symptom Jahrzehnte später, mein Rückenweh, war Mitleid mit der Mutter und nicht mit mir.

Ich sprang mich selbst mit meinem Mitleid für die Mutter an. Ich stach mir selbst damit in meinen Rücken. Jetzt weiß ich endlich, was das ist und was sich immer wieder zeigt, im Hintergrund der Sprache, eines letzten Satzes, den ich nicht loslasse. Das Mitleid mit den Eltern. Nicht weiter jetzt. Das Mitleid für die Eltern wird jetzt wieder möglich. Deshalb kann ich dann plötzlich nicht mehr schlucken. Weil ich Verständnis für die Eltern und ganz besonders für die Mutter suche; schon immer danach suchen musste. Ich suchte nach Entschuldigungen für Unfähigkeit zur Liebe und zum Mitgefühl. Danach in jeder späteren Beziehung. Die viel beschworene Tragik, Unfähigkeit zur Liebe, ruft nach Vergebung. Verzweifelt zwar, aber dennoch. Ein Kind muss ja vergeben, wenn niemand da ist, der oder die es tröstet. Tatsächlich galt mein Trost der Mutter und nicht dem Kind. So kann ein Kind nicht auf die Mutter wütend werden.

AM: Sie schreiben: „ich habe keine freude am leben, ich hasse die sonne, ich habe mitleid mit kleinen kindern, ich finde keinen sinn in den dingen was ich mache, ich möchte niemals mutter werden, ich habe bis heute noch kein geschlechtsverkehr gehabt, ich habe angst vor beziehungen, ich fühle mich wertlos – obwohl ich eine schöne frau bin und einen guten beruf habe, ich habe immer eine innerliche tiefe unruhe in mir, dass ich NICHT VERSTEHEN KANN.“ Wie ist es möglich, dass Sie das geschrieben haben, nachdem Sie uns doch sehr genau geschildert hatten, wie grauenvoll Sie unter Ihrer Mutter leiden mussten? Dazu haben Sie noch zwei meiner Bücher gelesen und sind seit drei Jahren in Therapie, die offenbar tatsächlich nichts genützt hat. Was muss noch geschehen, damit Sie eine Verbindung machen können zwischen Ihrem depressiven Zustand und der Abwehr Ihres Wissens über erlittene schwere Misshandlungen und Demütigungen? Versuchen Sie Artikel auf dieser Seite zu lesen, vor allem die FAQ_Liste und suchen Sie sich eine Therapeutin, die den Mut hat, Ihnen zu helfen, die Realität Ihres Kindheitsleidens ernst zu nehmen, das kleine Mädchen, das Sie waren, anzuhören und sich endlich von Ihren Eltern zu trennen, um Ihr Leben zu retten. Es ist das Mitleid für Ihre grausame Mutter, das Ihre Seele im inneren Gefängnis hält. Können Sie dieses Mitleid aufgeben und endlich Ihren berechtigten Zorn zulassen, der Ihr Leben vergiftet, solange Sie ihn nicht fühlen dürfen?

Alice Miller, Leserpost, Mutter spuckte in mein Gesicht,
Wednesday 28 March 2007

Sie hört jetzt zu. Sie horcht mich aus. Sie zeichnet alles auf. Sie spioniert. Und alles, was ihr nicht gefällt, gibt sie an meinen Vater weiter. An Gott, an Vater Staat, und der bestraft mich ungefragt dafür. Die Mutter steckt und sie versteckt sich hinter Taten.

Einfühlungsvermögen/Einfühlungsversuch.

Die Sprache der Symptome. Symptomsprache des Körpers, als der Versuch sich einzufühlen, mit sich zu reden. Mein Zittern und mein Zucken, mein mich Zusammenreißen, mein auf der Hut sein, überall und nirgends. Das ist mein überwacht gewesen sein. Wenn meine Mutter kam und mich erschreckte. Wenn sie aus heiterem Himmel kam. Wie sie mich überwacht hatte. Was mich so aufregte, nervös machte, verrückt. Sie riss mich aus dem Leben. Gewaltsam aus der Wahl. Wie ich, wohin ich schaute. Sie riss mich aus der Art. Sie riss mich immer nur heraus.

Sie ließ mich nicht allein, wenn ich allein mit mir zurechtkam. Wenn ich allein und ohne sie zurechtkam, weckte sie mich und brachte mich von allem ab, was nichts mit ihr zu tun hatte.

Ich ging auf Zehenspitzen durch die Wohnung und atmete nur leise ein und aus. Deswegen traute ich mich nicht mehr recht zu husten. Ich saß in einer Ecke, aß Butter mit den Fingern hinter einem Vorhang, da war ich eineinhalb. Deswegen war ich alarmiert. Sie war der Überwachungsstaat. Sie war die Totalitäre. Sie war diejenige, die mich, ihr Kind, für ihren Wahn geopfert hatte. Deswegen hatte ich Mitleid, ich dachte immer nur, dass sie getrieben, angetrieben war, von meinem Vater und seinen Anordnungen.

Erst wollte sie mich gar nicht haben und schloss mich weg, ließ mich allein und später wollte sie mich nicht mehr gehen und loslassen.

Da bleibst du jetzt. Du kommst jetzt sofort her! Ich will dich sofort sprechen. Jetzt und sofort, hörst du! Du kommst jetzt sofort heim.

Sie ließ mich in der Einsamkeit verenden, dann ließ sie mich nicht los. Wie soll ein Kind das nur verstehen, was seine Mutter unaufhörlich tut, mit ihrem widersprüchlichen Verhalten.

Sie lässt mich los und einfach fallen, dann später lässt sie nicht mehr los.

Sie überwachte, kontrollierte. Sie übte jedes Mal Kontrolle aus. Die Macht, die ein Gefängnis baut. Nichts blieb für mich von Zufall übrig, und nichts vom Glück. Sie hinterließ nur die Kontrolle. Nichts blieb in mir, von ihr, sonst übrig.

Ich sollte so wie ihre Kindheit sein, verheerend, einsam und allein und nichts darüber spüren und verlieren. Ich sollte wie die Mutter sein und ohne Einfühlungsvermögen weiterleben und verenden.

Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man.

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra

Wie werde ich die Mutter endlich los, schreit in mir jener kleine Junge, der sich nicht wehren konnte in der Badewanne. Wie komme ich dort ohne meine Mutter raus, aus dieser Kälte, dem Verhängnis. Wie komme ich denn wirklich weg?

Und jetzt bemerkte ich, dass ich schon längst weg bin. Ich konnte es nur nicht so fühlen, dass mein Gefühl der alten Angst, kein Mitleid mehr ausschüttet, für einen Menschen, der nichts davon erkennt und auch nichts davon anerkennen kann.

Sie kontrollierte meine Einsamkeit. Das habe ich als Kind gelernt. Die Einsamkeit zu kontrollieren und nicht dagegen aufzubegehren. Nie zornig werden. Nie zornig werden in der Einsamkeit. Nie zornig werden gegen Mutter deswegen. Nicht wütend werden und nicht schreien, beißen, nach ihr greifen, schlagen, hauen, stechen und sie an den Haaren packen. Nicht Indianer werden, nur ja nicht zornig werden wie die Rothäute, die keinen Spaß verstehen würden. Nur ja nicht Indianer werden. Dann lieber Cowboy, oder besser Clown. Nur ja nicht wütend werden. Jetzt dreht sich alles wieder. So war es aber wirklich. Alles in mir ist unterdrückter Zorn, weil ich den Schmerz nicht spüren konnte und deshalb unterdrückte ich den Zorn. Ich suchte immerzu nach Möglichkeiten, dem Zorn nur auszuweichen. Ich griff in meinen Träumen oft daneben. Ich fiel. Ich stürzte ab. Ich konnte Seile plötzlich nicht mehr fassen. Sie lächelte, als ich rot wurde. Wie ich anlief und mein Gesicht nicht weiter weinen, schreien wollte. Da lächelt sie. Sie kontrollierte nicht nur meine Einsamkeit mit aller Macht und mit Gewalt. Wie ich mich später kontrollierte; die Geisterwesen, mein unterdrückter Zorn, hielt mich an meiner Mutter fest. Ich überwachte meine Einsamkeit damit. Ohne den Zorn gibt es aus dieser Mutterwelt keinerlei Entkommen. Aus diesem unsichtbaren Gefängnis, das ohne Mauern existieren kann, vollendet mit der unbewussten Angst und Vorstellung der Mutter, sie würde mich vernichten, wenn ich noch einmal zornig würde. Wie Löwen, die vor einem Peitschenknallen kuschen und ihren Zorn gehorsam schlucken. Mein nicht gefühlter Zorn auf meine grausame, verschissene, vermaledeite, blöde, furchtbar dumme Mutter, vergiftete die Kindheit, mein Leben und Erleben immer wieder später. Ohne zu wissen, auf wen ich zornig war, weswegen ich so hustete, weswegen ich so traurig war, weswegen ich mich niemals wehren konnte, auch gar nicht gegen meinen Vater. Sie schimpfte mich so furchtbar, ununterbrochen aus, dass ich den Zorn für mich verstecken musste. Denn sie verspottete den Zorn. Sie lachte mich deswegen aus. Deswegen kontrollierte ich den Zorn selbst noch in meiner Einsamkeit, weil ich mich lächerlich, vollkommen klein, wertlos und winzig damit fühlte. Sie hatte mich und meinen Zorn verlacht und so verspottet, deshalb fand ich den Ausgang aus dem Gefängnis der Verleugnung selbst nicht wieder. Denn meine Mutter hatte von Anfang an, jedes Gefühl von mir verspottet und jede nachträgliche Beschreibung noch dazu. Ich sollte mir kein Bildnis machen, von mir, mich nicht an mir und meinem Zorn festhalten. Ich stürzte in mir ab, weil ich mich nicht festhalten konnte, an mir, ohne den guten Zorn, auf meine beschissene Mutter. So war ich immer angreifbar. Sie konnte sich über mich und meine Anhänglichkeit, mein Elend, krank lachen. Sie hörte niemals auf mit ihrem Spott, weil ich nicht zornig werden konnte.

Das, was wir selbst durchschauen, macht uns nicht krank, es kann in uns Empörung, Zorn, Trauer oder Ohnmachtsgefühle wecken. Was uns krank macht, ist das Undurchschaubare, die Zwänge der Gesellschaft, die wir durch die Mutteraugen in uns aufgenommen haben und die wir durch keine Lektüre oder Bildung loswerden können.

Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes

Und jetzt verstehe ich, was mir mein Körper sagt, wenn ich um 5 Uhr früh wach werde und aufstehe und mir ist plötzlich schwindelig. Wie ich ohnmächtig war als Kind, ohne die Wut und ohne einen Zorn. Nicht auszuhalten war das, deswegen habe ich die Augen immer wieder so verdreht. Herum, herum, herum. Wenn meine Mutter zu mir kam, wenn sie vor meinem Vater floh und aus dem Ehebett abhaute. Jetzt weiß ich endlich, wie das war, wie sich das anfühlte, wogegen ich nichts machen konnte, wenn meine Mutter zu mir kam. Ohne die Wut und ohne Zorn, war ich der Mutter gegenüber ohnmächtig und meinem Leid vollkommen hilflos ausgeliefert. Das brachte mir als erste meine Mutter bei. Was ich als Kind nicht wissen konnte, war, was ich nicht merken konnte, dass ich und jeder andere, ohne die Wut und seinen Zorn, dem Leid, das jemand einem zufügt, ohnmächtig gegenübersteht. Ohnmachtsgefühle.

Die Bilder, die ich malte. Die Träume, die ich träumte. Sie brachten mir die Ohnmacht wieder näher. Sie führten mich, sie schützten mich, sie brachten mich dann Stück für Stück zur Ohnmacht hin. Sie zeigten mir, warum ich mein Gefühl der Ohnmacht nie richtig loswerden hatte können. Nicht ohne meine Wut und meinen Zorn auf meine Mutter. Ich wurde das Gefühl der Ohnmacht niemals wirklich los, solange ich die Mutter mit Mitleid schonte. Jähzornig reagierte ich stattdessen immer nur auf andere, auf solche, die mir gar nichts getan hatten. Der Jähzorn, den ich entwickeln konnte, wenn ich mich schnäuzte, hustete und mir was weh tat. Mein Wüten gegen Schmerzen, Hilflosigkeit und Schwäche, das war, was später mir mein Vater auch mit seinem Jähzorn so bestätigt hatte. Doch war der erste Mensch, der meine Hilflosigkeit verflucht hatte, die Mutter. Der Jähzorn meiner Mutter verhinderte die Wut und meinen Zorn auf sie. Auf ihre Grausamkeit und Kälte, auf ihre Bösartigkeit. Das war der Grund für mein Ohnmachtsgefühl. An Sonntagen, wenn ich alleine war, Jahrzehnte später, war eine Leere da, die alles überragen konnte. Die Ruhe nach dem Sturm. Die Ruhe nach einem Anfall von Jähzorn. Ich musste nach ihrem Anfall immer ruhig sein. Am Sonntag ging meine Mutter immer auf mich los, nachdem mein Vater uns verlassen, zum Frühschoppen gegangen war. Die Mutter machte mich ohnmächtig.