Texte von Hugo Rupp

Die taube Mutter

 

Ich klammerte mich an die Beine meiner Mutter und weinte.

Sei doch vernünftig, sagte sie.

Ich wartete darauf, dass sie mich von sich weg ziehen würde, und ließ nicht los.

Das ist noch gar nicht raus, dass du allein weg musst. Das ist noch gar nicht klar. Jetzt lass mich endlich wieder los. Du bist doch viel zu groß um so zu jammern.

Sie konnte mich nicht einmal betteln sehen. Ich ließ sie schließlich los und schaute in den Boden, während sie mit der Krankenschwester, einer Nonne, weiterredete, wartete ich auf eine Strafe. Sie rächte sich für jede Aufregung, für jede Regung meinerseits, die ihr nicht passte.

Ich achtete auf meinen Husten und mein Bellen und mein Keuchen, mein Rasseln in der Lunge und den Bronchien. Ich achtete auf meine Hand und diesen Punkt, der nicht zum Vorschein kommen durfte, sonst würden sie mich in ein Sanatorium stecken. Ich achtete den ganzen Tag darauf, dass ich schön hustete, schön schnäuzte und schön Ruhe gab, und auch schön schlief und in der Nacht nicht aufwachte. Ich achtete darauf, dass ich doch schön gesund würde, und auf die Mutter, die angestrengt und angewidert, gelangweilt, weg wollte, nur weg aus diesem Kinderkrankenhaus, in das mein Vater sie mit mir gesteckt hatte. Sie wollte wieder weg, so schnell wie möglich von mir weg, nur weg von hier, damit sie mich nicht länger pflegen und so tun musste, wie gut sie doch als Mutter wäre. Hier fiel was auf, hier waren andere Mütter, die anders über ihre Kinder sprachen, die sich auch anders gaben. Hier waren welche, die ihr Kind auch in den Arm nahmen, und eine, die es weinen ließ und trug und nicht die ganze Zeit dabei nur schimpfte.

Hört das nicht auf. Hört das nicht endlich auf zu weinen. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Das weint schon eine halbe Ewigkeit, und diese Mutter trägt es immer noch spazieren. Das ist doch nicht normal. Das ist doch lächerlich.

Die Mutter hielt die Tränen anderer Kinder auch nicht aus. Sie konnte Kinderweinen nicht ertragen.

Sie belauschte alles. Sie hörte jedes Wort, von allen Kindern, allen Müttern und den Vätern, die zu Besuch kamen. Sie wusste alles über sie und was die Väter auch beruflich machten. Sie hatte über jeden nachgefragt. Sie ging herum und fragte alle aus und sie erkundigte sich über jedes Kind. Sie horchte alle aus. Sie wusste auch, was allen fehlen würde. Sie wusste alles über unsere Krankheiten. Sie wusste nicht, wie wir uns fühlten.

Wie sinnlos und wie schmerzhaft mein Verhalten für mich war. Die Tote so zu lieben, als wäre sie lebendig.

Ich musste für was büßen, für das ich überhaupt nichts konnte. Für ihre Abneigung. Ich musste ihr vergeben, dass sie nicht anders konnte. Ich fühlte Schuld, wenn meine Mutter mich nicht mochte. Durch dieses Schuldgefühl verbot ich mir die Wut.

Das stumme Kind

Ich stehe still im Wald und schaue meiner Mutter zu. Ich bin das stumme Kind, das alles nur beobachtet. Stumm bin ich für die Mutter da. Du hast mich umgebracht und für dich stumm gemacht. Für dich bin ich versiegt. Ich frage nicht, ich sage nichts. Ich sage nichts zu dir. Ich bin mir stumm auch unerträglich. Allein in mir ertrage ich mich schwer, weil nicht einmal ich selbst mit mir was rede. Ich schwätze nur von Sachen, die mich nicht interessieren. Was ich zu sagen habe, das interessiert dich nicht. Ich habe meine Stimme abgelegt. Ich habe keine Stimme mehr.

Ich will jetzt keinen Ton mehr hören.

Ich habe keine Sprache mehr. Ich bin selbst blass in mir. Ich habe nichts zu sagen. Deswegen bin ich hier. Ich habe nichts zu sagen. Deswegen belle ich. Der Husten und die Stimme, die Lunge, ausgelaugt und ausgeplärrt. Ich habe mich entzündet. Verbrenne meine Stimme hier. Verschlucke und verbrenn sie mit den Mandeln. Verbrenne alles von mir. Ich habe mir versprochen, nicht mehr nach dir zu rufen. Ich musste mir das selbst versprechen, sonst kommst du gar nicht mehr zu mir. Ich habe mir das immer wieder eingeredet, vorgesprochen: Du darfst nicht mit der Mutter sprechen, du kannst ihr das nicht zumuten, du darfst ihr das nicht antun, du kannst ihr jetzt nichts sagen. Jetzt ist mal Schluss mit dir. Du bist jetzt endlich still. Du kannst nicht einfach sagen, du hättest Hunger und dich friert. Du kannst nicht einfach klagen. Das geht so nicht. Sie mag nicht, wenn du sie beschäftigst, wenn du ihr hinterläufst. Sie dreht sich um und geht gleich wieder. Sie kommt erst gar nicht mehr. Sie schaut dich nicht mehr richtig an, solange du nur schreist, im Dunkeln nach ihr. Wenn du vor Angst vergehst, dann ist es aus mit ihrer Stimme, dann wird sie noch viel schlimmer, dann hetzt sie durch die Zimmer. Von Raum zu Raum und schreit mit ihrer rauen Zunge, als würde sie damit auch Messer schleifen. Die Luft ist dünn und ihre Stimme brechend. Es ist hier kälter als der Tod. Sie zieht an meinen Haaren, an meiner Backe. Sie schaut wie eine Fremde, Furie. Medusas Haar, sind ihre Augen, sie schaut in mich hinein, und reißt an meinen Zähnen und freut sich über meine Qual. Woran ich kauen muss, warum ich nichts mehr sage, mich unaufhörlich winde und meinen Mund verschieb.

Du kaust ja unaufhörlich, sagt sie. Du zahnst ja fürchterlich.

Mein Mund ist eine Grube, die Augen sind voll Asche, die Stimme ein Geschrei, egal was ich auch bin und mit den Ohren und den Zähnen und meinem Mund und meiner Zunge mache, das ist nur Elend und Verdruss. Für Mutter nur Verdruss. Ich kann nichts für sie tun, denn ihr missfällt im Grunde alles.

Nur stumm sein war ihr lieb. Als ich verstummte, war ich stumm, das war, dass ich für sie da bin, in guten wie in schlechten Tagen, stumm und verhalten. Dass ich nichts zu ihr sage, solange sie das will. Stumm und verhalten alles trage und ertrage, was auch mit mir geschieht. Stumm und verhalten und nichts sage, was auch passiert. Was ich auch höre, sehe und ertrage, muss stumm sein für sie.

Ich wünsch mir, dass du einmal nur zuhörst, nur zuhörst, und nichts dazu sagst, wenn ich dir was zu sagen habe.

Was meine Mutter gar nicht wusste, war, dass kein Kind so allein sein kann, wie sie sich das von mir gewünscht hatte. Ein Kind kann nicht alleine sein und ohne seine eigne Stimme überleben. Es kann allein sich nicht verneinen. Sonst stirbt es in der Einsamkeit. Es muss die Empathie abtöten, wenn es für sich allein sein soll und stumm. Ich richtete die Wut in meine Richtung schließlich, um für die Mutter stumm zu werden.

Das stumm sein gegen mich selbst richten. Den eignen Mund verbieten. Das musste ich mir beibringen. Den eignen Mund verbieten und verschließen. Den eignen Mund zunähen. Verflucht und zugenäht. Wie eine Puppe eingepackt und schön gemacht. Für meine Mutter und den Vater.

Hört das nie auf!

Sie stellt sich taub, das dachte ich. Es ist, als könnte ich das heute erst begreifen, was ich als Kind natürlich nicht begreifen konnte, dass sie nicht nur taub spielte und sich nicht taub nur stellte. Das habe ich als Kind niemals begriffen, dass sie nichts davon hören kann, was ich vermelde, zu ihr sage.

Die Mutter war tatsächlich taub, gefühllos für mein Weinen. Sie war gefühllos mir gegenüber. Sie hasste mein Empfinden. Sie konnte mich nicht hören. Es kam von mir bei ihr kein Weinen an, als Hilferuf, als Frage und als Bitte an die Seele. Sie war selbst taub für Hilferufe und Bedürfnisse, und jeder Seele Not vollkommen überdrüssig. Sie war selbst taub für sich. Sie hörte auch nicht, was sie sagte, wenn sie mich ohne Unterlass besprach und in mich redete und mich damit betäubte und verfluchte. Ich wachte auf davon, dass Wörter in mir waren, die nicht mehr weggingen. Ich wachte auf davon, dass Bilder in mir waren und mich erdrückten, mich verfolgten, mir nachstellten. Als müsste ich mich selbst mit meinem Traum bestrafen. Ich wachte auf davon, weil mich die Träume später auch im Traum verfolgten, mir nachstellten, mir unaufhörlich Rätsel, Schachprobleme stellten, die ich nie lösen konnte.

Das Rätselhafte: Wie hört man etwas und versteht es nicht. Wie sieht man etwas und weiß gar nicht, was da jetzt abgebildet ist. Wie merkt man etwas und fühlt gar nichts dabei. Wie macht man das? Wer tut jetzt was? Als würde ich in einer fremden Sprache mit mir reden, in einer Zeichensprache beispielsweise, in Hieroglyphen etwa, und mir vollkommen unverständlich etwas vorsagen. In surrealen Bildern, die mir ein Rätsel sind, versuchte ich mich zu vergraben. Ich dachte immer nur, das bin ich nicht. Das hat mit mir doch nichts zu tun.

Die taube Mutter lehrte mich still sein, verstummen und stumm bleiben. Egal was ich ihr sagte und auch tat, sie ging nicht darauf ein. Das hat mich so verrückt gemacht. Die Mutter reagierte nicht. Sie ließ mich einfach liegen. Das habe ich in meinem Traum gewusst. Dass ich doch auch so bin wie sie, wenn ich niemandem zuhöre, wenn ich für alles taub bin, was um mich ist. Ich sah den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich hatte diesen Traum vom See, in dem die Mutter untergeht, vor nun mehr dreißig Jahren. Er zeigte mir, so wie ich als Kind war, so wie ich durch die Mutter wurde, so wie ich wie die Mutter war, für mich und auch für jeden anderen. Ich zeigte mich als Irren und als Furie, ich tobte wahnsinnig, doch war ich seltsam ruhig, und auf der andren Seite stumm und taub, für keine Frage zugänglich. Ich konnte mich nicht hören. Ich konnte mir nicht einmal selbst zuhören. Deshalb war dieser Traum vollkommen stumm. Die Frau im See öffnet den Mund und schreit doch ohne Unterlass, doch höre ich kein Wort, kein Laut ist zu vernehmen. Ich bin das stumme Kind gewesen, von meiner tauben Mutter stumm gemacht. Taub gegenüber den Gefühlen. Ich hatte solche Angst ihr gegenüber, nur überhaupt etwas zu fühlen. Denn alles was nicht taub war, war nur erschreckend für mich.

In ihrer Gegenwart war für mich atmen und frei fühlen ganz unmöglich. Wie sie uns Kinder damals angeschaut hatte, als würden wir etwas verbrechen. Sie schaute alle Kinder an, als wäre Kind sein eine Krankheit und eine Schande. Als wäre unsere Kindheit jene Krankheit, von der wir uns für sie gefälligst zu befreien hatten. Sie duldete gar kein Gefühl. Sie machte alles taub, sie tötete Gefühle.

Ein so betäubtes Kind, wird später sich betäuben und auch Gefühle anderer vermeiden und blockieren wollen. Solange seine Wut nicht endlich diese Mutter trifft, so wie sie wirklich war, nicht wie sie scheinbar sein sollte.

Ich fürchtete, wie jedes Kind, im Grunde nichts so sehr, wie die Betäubung des Empfindens.

Klassische Mechanik

Die Frau im Zentrum eines Sees, die Mutter in der Mitte, als Mittelpunkt, der Fixstern meiner Seele. Die Sonne, die nur untergeht. Der feste Punkt, der sich niemals veränderte. Die Mutter stellte nichts von sich in Frage. Niemand war da, der meine Mutter relativierte. Der meiner Welt einen Bezugspunkt mehr für mich gegeben hätte. Die Mutter war für mich erst mal mein ein und alles. Kein Kind kann eine Welt erschaffen.

Wenn ich etwas von mir verriet, dann ließ sie mich das büßen. Solange ich echte Gefühle zeigte, wurde ich von ihr bestraft. Sie rächte sich dafür, wenn ich ihr etwas von mir zeigte. Egal was das auch war. Sie mochte weder Freude, noch Erstaunen, mein Jauchzen war ihr auch zu laut. Sie mochte nicht, wenn ich in ihre Augen schaute und sie anfasste. Sie mochte nicht, wenn ich vor ihren Augen weinte. Sie mochte gar kein echtes Fühlen und Empfinden.

Deshalb verriet ich irgendwann nichts mehr von mir und den Gefühlen, weil ich die Strafe und die Rache fürchtete. Mein Grund war Angst, warum ich schließlich nichts mehr wagte.