Ich nicke. Ich höre zu. Damit der Vater wiederkommt. Ich muss auf meinen Vater warten. Wie Mutter. Mutter wartet immer auf ihn. Wenn er weg ist, wartet sie, bis er zurückkommt. Sie hat Angst. Als könnte er plötzlich verschwunden sein und nie mehr wiederkommen.
Mutter versteckt sich vor mir. Sie legt sich hin und tut so, als wäre sie tot. Vater macht das nicht. Vater kommt immer wieder nach Hause. Trotzdem sagt sie jedes mal, wenn er weg geht, dass er gesund wieder kommen soll. Er soll sich nicht freuen. Er soll nur gesund wieder kommen. Krank soll er womöglich nicht wieder kommen. Vor Vater versteckt sich Mutter nicht.
Vater wollte nie verschwinden. Er wollte nicht, dass jemand ohne Erlaubnis geht und weg läuft und verschwindet. Egal was auch geschieht, Vater will genau wissen, wer wo ist, wann, weshalb, wozu. Niemand verlässt das Zimmer oder Haus, ohne seine Erlaubnis. Wer geht, muss sich bei Vater abmelden. Vater kommt, wann er nach Hause kommen will. Niemand darf ihn fragen, wann er nach Hause kommt.
Wir durften ihn nicht warten lassen. Niemand lässt Vater warten. Niemand kommt ungestraft damit davon. Niemand kommt ungestraft davon, wenn er meinen Vater warten lässt.
Mutter wacht und wartet auch, wenn gar nichts ist und nichts geschieht, nur Töne, Laute und Geräusche zu uns dringen. Sie wartet voller Angst und ich mit ihr. Wie sie zum Fenster läuft, verrückt vor Angst und hin und herwetzt. Wie sie dann in die Küche geht, was macht und abspült und mit sich spricht und seufzt, und immer furchtsam aufgeregt, weil sie nicht weiß, was kommt, wenn er nicht wieder kommen würde. So wie die Mutter das befürchtet hat, so übernahm ich ihre Angst. Dass er das tun könnte, was meine Mutter mit mir immer machte.
Mein Vater brauchte ein Publikum. Er mochte, wenn ihm meine Mutter zuhörte, wenn er mich schimpfte und verfluchte, wenn jemand seinen Worten glauben schenkte, wenn noch jemand dabei war und das hörte, wie er mich klein machte. Mein Vater liebte Publikum dabei, er brauchte jemand, der ihn stets dafür bewunderte, wenn er, wie er das ausdrückte, die starke Hand als lebenden Beweis für seine Stärke demonstrierte. Wenn er der Starke war und ich ein Schwächling. Er brauchte Publikum, das gab ihm einen Wert. Dass die Bestrafung und die Strafe einen Wert darstellten. Dass er, der mich bestrafte, auch damit wertvoll war. Dass er und sein Bedürfnis nach der Strafe wertvoll waren.
Ich war doch nur sein Opfer.
Dass er doch immer wieder kam, das hatte einen Grund. Warum er immer wiederkam. Er fand mich und die Mutter vor und konnte mit uns machen, was er wollte.
Mein Vater konnte nicht alleine sein. Nicht ohne Opfer und Zuseher. Er brauchte jemand zum bestrafen.
Ein Kind kann gar nicht wissen, dass jemand, der es schlägt und zusieht, wenn es leidet, ohne Empörung leben kann.
Wie sie mich straften, wie sie so zu mir waren, so hatten ihre Eltern sie bestraft gehabt. Genauso waren sie bestraft worden. Die Strafe war identisch. Die Vorgangsweise war identisch. Mit Angst beherrscht zu werden. Ihr Strafprogramm kam ohne Hoffnung aus, weil keine Reue vorkam und keinerlei Vergebung für ein Opfer.
Als wäre der Verlust des Lebens, Tod, die Strafe für das Leben und letztlich für mein Überleben. Das ist die Phantasie der Einsamkeit. Als wäre Einsamkeit eine verdiente Strafe. Als hätte ich, ein kleines Kind, nichts anderes als Antwort auf meine Not, mein Schreien und mein Weinen, je verdient gehabt. Als wäre Einsamkeit eine gerechte Strafe für ein Kind.
Wer ein Kind straft, der bringt ihm seine Krankheit bei, die in ihm tobt, den Irrsinn seiner eignen Kindheit; das Strafen ohne wenn und aber. Die Strafen ohne Zeugnis der Empörung.
Sie brachten mir mein Warten bei. Mein Warten auf die Strafe. Ich wartete, egal was ich auch tat und dachte, oder denken wollte, doch immer nur auf eine Strafe: Mein Schuldgefühl.
Das war die größte Strafe. Gar nichts dafür zu können für etwas und sich doch schuldig fühlen müssen.
Wer ein Kind straft und ihm die Wut verweigert, der lehrt ein Denken und ein Fühlen, das sich aus Schuldgefühlen speist. Wer ein Kind straft, der herrscht, beherrscht sich selbst und auch sein Kind mit seinen Schuldgefühlen. Der lehrt sein Kind und jeden anderen, sich immer dann mit Schuldgefühlen selbst zu quälen, wenn es sich doch nur wehren will, mit seiner Wut, gegen die Schmerzen und die Verursacher. Wer ein Kind straft, der lehrt mit Schuldgefühlen Wut bestrafen und verhindern.
Wenn sich die Wut doch endlich zeigen darf, erkennt das ehemalige Kind vielleicht zum ersten Mal, dass es selbst gar nichts kann für das Verhalten und Benehmen seiner Eltern. Für das verlassen und verlassen werden, für diesen Wahnsinn ohne Ende, für dieses Schuldgefühle wegschieben und einem anderen gleich wieder zuschieben, für diese ununterbrochene Schmerzzufuhr, die nur mit Wut zu unterbrechen wäre.
Das war für mich Zuhause, dass ich am Schluss, egal was auch passierte, den Schwarzen Peter immer abbekommen. Ich hielt in schließlich immer in der Hand. Sie schoben ihn sich gegenseitig zu und zu und doch blieb ich als Kind dann für den Schwarzen Peter übrig. Ich war zum Schluss allein damit. Ich hielt ihn schließlich immer in der Hand, wenn Vater ging, oder die Mutter mit dem Reden aufhörte. Ich musste ihn doch immer ziehen und behalten, was blieb mir andres übrig, ich musste immer nur vergeben und verzeihen. Ich konnte mich nicht einfach umdrehen und aus dem Zimmer, aus der Wohnung und dem Haus weggehen. Ich konnte nicht weggehen. Mir blieb als Kind nichts andres übrig, als die Verantwortung, für das verlassen und verlassen werden, auf mich zu nehmen. Was mich ein Leben lang beschäftigt hat, war, dass ich dachte, ich hätte diesen Schwarzen Peter freiwillig, das Schuldgefühl, freiwillig angenommen. Das ist nicht wahr. Mir blieb als Kind nichts andres übrig. Ein Kind hat keine Wahl, wenn es nicht wütend werden darf. Ich hatte niemals eine Wahl und wenn ich später wählte und entschied und auch etwas entscheiden musste, tat ich das niemals ohne Schuldgefühle. Ich hatte das gelernt, mir selbst und jedem anderen den Schwarzen Peter zuzuschieben.
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