Texte von Hugo Rupp

Abwehrhaltung

 

Der Begriff der Verteidigung ist das Abwehren; in diesem Abwehren liegt das Abwarten, und dieses Abwarten ist das Hauptmerkmal der Verteidigung und zugleich ihr Hauptvorteil gewesen.

Carl von Clausewitz: Vom Kriege, VI, 8, Widerstandsarten

Ich würde das nicht tun, sagt sie.

Ich fiel bis unten auf den Abtritt an der Tür. Ich habe das schon oft beschrieben, doch was ich nie verstanden habe war, sie ließ mich einfach fahren. Sie wartete auf ihr Ergebnis. Sie wünschte mir den Fall. Sie musste recht behalten. Was sie voraussah, kommen sah und kommen sehen wollte. Sie spornte mich im Grunde an, dass ich mich mutig fühlen sollte, dass ich für meinen Übermut bestraft würde.

Ich konnte mir nie sicher sein, ob ihre Hinweise und Ratschläge gut oder schlecht für mich waren. Ich konnte mir nicht sicher sein, ob sie mir helfen oder schaden würde.

Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dort nicht so nah heranfahren!? Hab ich dir nicht gesagt, ich würde das nicht machen?! Hab ich das nicht gesagt, du sollst nicht so nah hinfahren!?

Im Grunde hielt ich immer an ihr fest, an meiner idealen Mutter, die mich beschützt und mir nicht schaden kann. Dass alles was mir schadet, nur ich bin und sonst niemand. Dass alles weh von innen kommt, von mir und meinem Schaden. Dass ich der Schaden für mich bin, der sich nur immer selbst schadet, zu Fall bringt, wenn ich nicht auf meine Mutter höre. Doch das ist eine Lüge. Die ich mir seitdem auch vorhalte, als hätte ich mich selbst damit betrogen. Dass eine Mutter alles tut, damit dem Kind doch nichts passiert. Das habe ich geglaubt und nicht gewusst, dass dieser Hinweis doch von meiner Mutter stammt. Dass meine Vorstellung, dass eine Mutter immer ihr Kind lieben würde, nicht stimmen kann. Ich konnte nichts dafür, dass sie mich in den Abgrund stürzen ließ. Es war nicht mein Versagen, dass ich mir niemals sicher war bei ihr.

Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben, sagt sie.

Ich konnte sie nicht widerlegen. Ich durfte nicht wahrhaftig sein.

Ich würde da nicht hingehen. Ich würde mir das nicht ansehen. Ich würde mir das gründlich überlegen. Ich würde mir das nicht antun, sagt sie.

Sie hat nie was erklärt. Sie ließ das Unglück und das Leid geschehen, sie sah es oft tatsächlich auch voraus, wenn mir etwas passierte, doch hat sie mir niemals erklärt und schlimmer noch, mich nie danach getröstet. Sie machte meine Unschuld schuldig, indem sie mich dem Zufall, Unfall, Schicksal, Schmerz und meinem Leid, vollkommen gleichgültig aussetzte. Sie machte jeden Fehler schlecht. Und dabei mahnte sie doch eines immer an, die Ruhe zu bewahren. Sie ließ mich in den Abgrund fahren und wollte dann, dass ich selbst schuld daran, ausdrücklich Ruhe geben sollte.

Sie machte meine Schreie stumm und wertlos. Nichts machte ihr was aus, egal was auch geschah, nichts machte sie verständlich. Die Nähe, die es gar nicht gibt. Sie macht sich nie verständlich, für sich selbst nicht und auch für keinen anderen.

Sie kann sich selbst nie dabei sehen, wie sie zu sich und andern ist. Das hat mich als Kind umgeworfen, das ließ mich taumeln und auch wanken, das warf mich auf den Boden, das ließ mich in die Sachen beißen, dass ich mir meine Haare raufte, dass ich mich selbst in meine Backen biss. Das lässt die Kinder Haut zerschneiden und hungern ohne Ende, dass keine Laute, keine Worte, nichts, kein Hinweis auf Gefühle, aus einem Mund entweichen, von einem Körper kommen. Dass es das gibt, was wirklich Unnahbares, dass es das doch gegeben hat, die Mutter, die ihr Kind nicht sieht, nicht lieben kann, auch wenn es hier, gleich hier ist und auch schreit. Dass jemand keinen Hinweis eines Kindes für sich lesen und verstehen kann, das musste ich erfahren. Dass jemand mich die Treppe runterfallen lassen kann, ohne Erklärung für sich selbst.

Deswegen schaute ich dann immer auf die anderen und machte Ratschläge, gab Hinweise und machte Andeutungen und drohte und verschrie und machte Schuld und Schuldige, wie dunkle Schande.

Ein Kind das keinen Trost erfährt, nur Warnungen und dunkle Andeutungen, dem jeder Schmerz und jede Wut beschuldigt und verboten werden, das lernt sich selbst nichts fragen, das lernt, dem niemals selbst auch nachzugehen, was es gerade macht, wenn es jemanden schuldig spricht und dann verbannt und ganz alleine lässt; in Einsamkeit verhungern und verdursten. Warum kann es Jahrzehnte später, sich selbst nicht retten?

Mach dich nicht schmutzig, hörst du! Geh weg! Geh da nicht hin. Rühr das nicht wieder an. Hörst du! Mach dich nicht wieder schmutzig.

Mach dich nicht wieder schmutzig heißt: Ich will dich so nicht sehen. Ich mag dich nicht, wenn du dich schmutzig machst. Wenn du so bist, will ich dich nicht so haben.

Ich will nicht, dass du schmutzig zu mir kommst und mich anfasst. Das will ich nicht, hörst du. Hörst du gefälligst zu, du dummes, dummes Kind.

Wie siehst du wieder aus, heißt doch, ich will dich nicht mehr sehen, ich kann dich nicht mehr sehen und ertragen, wenn du nach Hause kommst, wenn wir uns wiedersehen, wenn du so aussiehst, krank und ganz verheult, will ich dich nicht mehr haben.

Schau dich nur wieder an, sagt sie.

Ich kann mich nicht ansehen. Das wusste ich gar nicht. Das weiß kein Kind, dass es sich selbst nicht sehen kann, nicht weiß am Anfang seines Lebens, dass es sich später erst wahrnimmt.

Schau dich nur wieder an, sagt sie.

Ich sehe nur, was du nicht siehst und das ist dein Gesicht. Den Ekel und die Abneigung. Ich sehe, was du fühlst, ist Ekel und ist Abneigung, ist Widerwille, Hass, Verachtung und noch etwas, das mich erstarren ließ, was an den Fingern hing, die an mir rissen, zwickten und mich kniffen, die unentwegt nach einer Möglichkeit selbst suchten, mich wieder loszuwerden. Ihr Widerwille war so groß vor meinem Körper, dass sie mich nicht anfassen wollte, nur mit den spitzen Fingern, mit ihren Fingernägeln, die bildlich ausgedrückt, mich in der Luft zerreißen hätten wollen. Mit ihren Krallen.

Ich kann das wieder fühlen, wie du mich angefasst hast, mit deinen Händen. Wie du mich angeschaut hast. Und alles sagte: Ich kann dich nicht mehr haben. Ich mag dich nicht. Ich kann dich nicht ertragen.

Dann ging sie weg, verschloss die Tür und ließ mich damit liegen.

Das habe ich von dir gelernt, mich nicht ertragen. Mich nicht und niemand mit Gefühl ertragen. Mir nicht und niemandem vertrauen, der ohne Argwohn, Abneigung und Widerwillen näher kommt. Das habe ich gelernt, mit Argwohn, Misstrauen und Ekel im Gepäck, den anderen begegnen; mit der Beschuldigung in meinen Augen und Fingern, die unaufhörlich darauf pochten, als wären sie Klopfgeister.

Jedes Gefühl an mir, war ihr von Anfang an schon viel zuviel gewesen.

Ich wartete auf Abneigung. Weil meine liebe Wut auch nicht erwidert wurde.

Ein Kind muss schließlich seine Liebe abwehren und dem Bedürfnis danach widersprechen. Es muss, was seiner Liebe gut tun würde, die Wut an sich verhindern.

Ich wartete. Ich war schließlich im Krieg, mit mir und jedem anderen. Ich war Kaninchen und Schlange.