Texte von Hugo Rupp

Hassen

 

Wir hassen bald, was oft uns Furcht erregt.

Antonius und Cleopatra, von William Shakespeare, 1.Akt, 3.Szene

Ferne Stimmen. Wenn sie aus entfernten Räumen zu mir hin schimpfte. Wenn ihre Stimme, wie im Traum, körperlos und ohne eine echte Zuordnung und Zuneigung, einfach da war. Könnte aus der Wand kommen, auch aus einem Bauch, auch aus einem Herzen, selbst, auch aus toten Dingen, aus der Wasserleitung, unterm Klo, oder aus der Hölle, unter Fussbodenbrettern? Aus dem Keller? Aus der Küche?

Später reagierte ich auf jede Stimme, die von irgendwo her kam. Wollte darauf antworten, wenn ihr Ton für mich bedrohlich klang. Meine Sinne richteten sich aus, nach der Wut, die sich immer gut versteckte. Hörte Klagen, musste immer reagieren.

Das lässt sich nicht mehr ändern, sagt sie. Ich kann dir nicht mehr helfen. Ich will jetzt nicht mehr weiter reden.

Ich dachte immer nur daran, dass sich was ändern möge.

Was so verheerend war und mich im Hintergrund bestimmte und jede Landschaft, jeden Menschen, jeden Geist und jede Wand schwarz einfärbte und undurchdringlich, unveränderbar und ewig haltbar, unzerstörbar machte, wirken ließ, als wäre eine dunkle Macht am wirken, war die Ergebenheit, die meine Mutter mir beibrachte.

Da kann man nichts mehr machen, sagt sie.

Ich hasste später alles, das sich veränderte. Ich hasste jede Art Veränderung. Ich hasste Überraschungen.

Es soll sich nichts verändern. Das war doch immer nur in meinem Kopf, mit Widerhall und Echo, tönte das in meinem Körper. Dass ich nicht auf mich hören soll. Dass ich nicht zu mir kommen soll.

Ich musste mich verkleiden. Ich musste lammfromm werden. Nicht großes Schaf. Ich sollte immer klein und lammfromm bleiben. Ich musste doch ein Lamm sein für den Vater. Das dachte ich: Nur für den Vater fromm. Denn einem Lamm kann nichts passieren, wenn es nur lammfromm bleibt und sich so sehr bescheidet. Ein Lamm hört zu und ist gescheit. Lammfromm wird man dich besser leiden können. Lammfromm bin ich nicht hassenswert. Lammfromm bin ich auch nicht unmöglich. Lammfromm und ohne Wut und Klagen. Mein Maul. Mein Meckern will der Vater nicht mehr hören. Er will das von der Mutter nicht mehr hören, wenn sie andauernd meckert. Dann schlägt er zu. Er will ein Lamm lammfromm. Ein stummes, braves Tier, das auf der Stelle stehen bleibt, wenn jemand das befiehlt. Ich hätte mich von meinem Vater schlachten lassen, so wie die Mutter mir das vormachte. Ich hätte irgendwann nichts mehr gesagt und gar nichts mehr vermeldet. Schweigende Lämmer sind jene Kinder, die nichts mehr von sich geben können, weil niemand sie beschützt hatte. Ich wäre in den Tod gegangen, wohin auch immer mich mein Vater auch gebracht hätte. Ich wäre mit ihm in ein Schlachthaus auch gegangen und wenn mein Vater mich dann einem Schlächter übergeben hätte, ich hätte nichts getan, ich hätte überhaupt nichts mehr getan. Ich wäre seinem Wunsch gefolgt. Das Lamm, das niemals schreit, das ist der Liebling meiner Eltern. Das Lamm, das sich für seinen Vater opfern lässt, weiß nicht einmal, dass es ein Opfer ist. Ich wusste nichts von einem Opferdasein. Ich fühlte mich als Kind nur ohne Recht. Ich wusste nicht einmal, dass es ein Recht auf Leben gibt. Dass ich ein Recht auf Leben hatte. Das hatte ich mit allen Kindern doch gemeinsam. Wir hatten alle keine Rechte. Das war das Recht der Eltern.

Die unterdrückte Wut meiner Mutter sollte ich ertragen. Für meinen Vater stellvertretend. So wie ich dann auch später Stellvertreter und Objekte suchte, für meine unterdrückte Wut und meinen Hass.

Ich musste ihren Zorn für ihn ertragen.

Mit gehen. Du kommst jetzt sofort mit. Jetzt mit ihr untergehen müssen. Mit untergehen müssen. Mit untergehen mit ihr, aus Mitgefühl, das sie für mich, wenn er mich schlug zum Beispiel, niemals zeigte. Mit untergehen müssen. Das ist, wie ich mich damals fühlte, gefangen in der Angst und unterdrückten Furcht, vor ihrem Zorn, der Weißglut meiner Mutter. Die zeigte sie nur mir. Ich sah die Glut, ich sollte ihre Wut, den Hass und ihre Blutrünstigkeit ertragen, die sie doch meinem Vater nur aus Angst ersparte. Sie schaute mich für meinen Vater an. Sie war der Wolf und ich wie sieben Geisslein. Sie mochte Märchen doch so gern. Jetzt weiß ich endlich auch warum. Sie konnte mich damit bestrafen.

Mit Kindern in den Tod gehen.

Die Kinder in den Tod mitnehmen.

Die Kinder in den Tod schicken.

Plötzlich tun mir die Zähne weh.

Ich musste später ihre Wut und ihren Hass ergreifen. Ich durfte nicht einmal unschuldig sein aus meiner Wut heraus. Ich musste für sie stellvertretend leiden und schuldig sein, mit meinen Beißwerkzeugen. Ich musste für sie bissig sein. Ich musste beißen, kratzen, schreien für sie. Und dafür schimpfte sich mich dann. Sie hetzte mich, das Lamm, mit ihrem Hass und ihrer Wut dann auf. Und wenn ich mich tatsächlich, dann später vor den Vater stellte und ihm tatsächlich widersprach, stand sie auf seiner Seite. Ich habe das niemals verstanden, warum ich mich so fühlte, als müsste ich mich immer nur ins eigne Fleisch selbst beißen. Ich habe immer nur darauf gewartet, sie würde einmal zu mir halten. Das tat sie aber nie.

Ich sollte meine Wut und meinen Hass für mich behalten. Solange ich mich vor ihr fürchtete und ihrem Hass.