Texte von Hugo Rupp

Die Feindseligkeit der Mutter

 

Ihre Augen sind geschlossen. Sie liegt tot vor mir. Weiß nicht, was da ist. Rührt sich nicht bei meinem Sprechen. Rührt sich nicht. Kann ich sie anfassen, rührt sich nicht. Tut nichts, dass ich sie berühre. Tut nichts, wenn ich ihr Gesicht berühre. Rührt sich nicht vom Fleck.

Mutter muss ich wach kriegen. Mutter muss ich wach kriegen.

Niemand. Niemand. Niemand hilft mir. Niemand hilft mir Mutter anfassen, dass sie wieder aufsteht, stehen und dann gehen kann. Niemand hilft mir. Dann beginne ich zu weinen, und schon ist sie wach.

Warum weinst du, sagt sie voller Freude. Wer wird denn zu Mittag weinen, sagt sie. Lächelt sanft.

Ich erstarre in der Stille.

Zwei Jahrzehnte später träume ich von ihrem Untergehen auf dem See aus Blut und ich stehe da am Ufer, sage nicht ein Wort, rufe nichts, stehe da, schaue zu, wie die Mutter untergeht und mit Augen, groß wie Äpfel, drohend ihre stummen Worte aus dem schwarzen Loch, das ihr Mund ist, schreit. Schreit gen Himmel, doch kein Wort erreicht die Stille. See ist See. Stille überall.

Mutter bringt mir Schwimmen bei. Wenn ich etwas sage, werde ich ertrinken, wenn ich etwas sage, gehe ich gleich unter. Wenn ich, wenn wir auf dem See sind und sie mir das Schwimmen zeigt, darf ich niemals etwas sagen, weil dann Wasser in den Mund läuft, laufen kann, dann kann ich ertrinken. Niemals reden, wenn ich schwimme.

Niemals reden, wenn du schwimmst, hörst du. Niemals reden, wenn du nicht ertrinken willst!

Kleiner Junge ist ertrunken. Selber See und Ort. Selber See und Ort. Ist ertrunken. Selber See. Seerosen. Selbe Seerosen. Selbe Bänke, selbe Rosen.

Wenn ich nicht ertrinke, darf ich niemals über meine Wunder reden, dass ich nicht ertrunken bin, dass ich nicht ertrunken bin, trotzdem ich Wasser schluckte. Bin nicht ich ertrunken. Habe ihm nicht helfen können, diesem Jungen. Habe ihn auch nicht gesehen. Höre seinen Schrei, unter Wasser höre ich den Schrei. Steht an meinem Bett, hört auch dort den Schrei, den ich und der Junge schreien. Hören nur den einen. Hören stummen Schrei. Haben wir geschrieen? Junge hat geschluckt und geschrieen. Schrei hat ihn getötet. Während er gesunken ist, hat er fest geschrieen, hat sich aus dem Leib geschrieen. Hat das Wasser ausgetrunken, alles was in seinen Körper passte. Hat den Schrei, dann das Wasser eingesaugt. Hätte doch nicht reden sollen. Hätte nicht so schreien sollen. Hätte nicht so schreien, nicht um Hilfe schreien dürfen. War der größte Fehler. Beim Ertrinken darf man nicht um Hilfe rufen, nur mit Armen, Beinen winken, nicht mal schlagen, treten, doch nicht schreien, denn das Wasser sucht sich seinen Weg und ist unbarmherzig. Wasser sucht sich seinen Weg, in den Mund des Jungen.

Schreien ist ganz schlecht, sagt die Mutter immer wieder. Wenn du dich in Not befindest, winke mit den Armen, klatsch ins Wasser, schreie aber nicht. Schrei nicht, wenn du keine Kraft mehr hast. Schrei nicht, wenn du Hilfe brauchst. Schrei nicht, wenn dir jemand helfen soll. Schrei nur ja nicht dort nach Hilfe. Bei den vielen Kindern wird dich niemand hören. Schreie werden nicht gehört. Kinder schreien immer alle durcheinander. Ein Schrei unter vielen. Ein Schrei unter vielen. Niemand wird dich schreien hören. Niemand hört dich schreien. Niemand wird dich untergehen sehen, wenn du mit den Füßen strampelst. Wenn du mit den Armen winkst, dann schon eher. Wink mit deinen Armen, wenn du Hilfe brauchst. Doch nur dann. Niemals nur zum Spaß. Winke niemals Hilfe nur zum Spaß. So was tut man nicht. Hilfe nur zum Spaß. Rufe nicht um Hilfe. Rufe nicht um Hilfe. Rufe nicht um Hilfe, wenn du zu Ertrinken drohst. Rufe nicht um Hilfe. Siehst du, dieser Junge, der ertrunken ist, ist genau deshalb ertrunken, weil er noch gerufen hat, weil er nicht geschwiegen hat. Weil er laut gerufen hat, dabei ist er doch ertrunken, weil er schreien wollte. Deshalb ist der Junge tot, weil er das nicht wusste, dass man niemals rufen soll, wenn man untergeht. Immer schön ganz ruhig bleiben. Immer mit der Ruhe. Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Niemals panisch um sich schlagen. Niemals sinnlos um sich schlagen und dann auch noch rufen. Niemals Hilfe rufen. Niemals Schreien! Schäm dich, hier zu schreien. Wo es doch so schön ist hier. Hab nur keine Angst. Wenn ich hier bin kann dir nichts geschehen. Nur schön ruhig und ganz leise. Dann kann nichts passieren. Immer mit der Ruhe. Schwimmen ist ganz einfach. Wer selbst schwimmen kann, dem kann nichts passieren. Der kann nicht ertrinken. Nicht anfassen. Weiter schwimmen. Immer schön ganz ruhig. Einfach zügig weiter. Schau dort ist die erste Rast. Da kannst du dich festhalten. Niemals um dich schlagen. Niemals um dich schlagen. Sonst wird niemand dich vor dem Ertrinken retten können. Wenn du um dich schlägst, kann dich niemand retten. Immer schön, ganz ruhig. Und nur keine Panik. Halt dich von Seerosen fern. Niemals in die Seerosen. Da verhedderst du dich an den Schlingen und dann gehst du unter, sagt sie.

Mutter lächelt.

Schwimmen lernen war für mich, Angst vor dem Ertrinken haben müssen.

Brache

Mein Gefühl unwillkommen zu sein. Nicht erwünscht und nicht erwartet. Unwillkommen bin ich, wenn ich nach Hause komme. Unwillkommen bin ich, wenn ich mich freue, wenn ich Freude mitbringe.

Ich bin nicht willkommen. Ich bin unerwünscht. Alles läuft in diese Richtung. Deshalb dieser Hass, deshalb diese Fremde, deshalb dieser Mund, der mich weg schreit und nicht ruft. Sie ruft niemals mich. Was kann ich nicht hören? Was ich niemals wirklich sehen konnte. Sie schickt mich stets weg. Sie ruft, weg. Niemals ruft sie mich herbei. Sie versteckt sich, lässt sich suchen. Sie ruft lautlos mich in meinen Träumen.

Kind läuft nun ins Leere. Kind läuft immer nur ins Leere. Kind läuft über sich hinaus. Kind läuft über alle Kontinente und kommt niemals bei sich an. Unwillkommen kann ein Kind sich nicht begegnen. Unerwünscht ist immer unbekannt. Solches Kind kann sich nicht finden, weil es sich nicht kennen kann, weil es sich nicht kennen lernen kann, wenn die Mutter es nicht kennen lernt. Dieses Kind steht immer einzeln, ohne sich am Rand.

Ich bin niemand, steh am Rand, wie im Traum am Ufer.

Leere Räume, tote Gegend. Ödnis, Finsternis; unwirtlich. Graue Nebel, namenlose Fremde. Wieder öde Orte hinter leeren Räumen. Ebenen, gleichsam gleichgültig.

Was gibt es hier zu finden?

Feindseligkeit, die darin liegt ein Kind allein zu lassen.

Das Selbstbewusstsein

Die Wut des kleinen Kindes bringt die Worte meiner Mutter wieder. Muss nicht länger taub sein, stumm die blinde Wut ertragen. Höre sie ganz deutlich. Höre wieder, was sie ruft. Dort am See, vor mir im Wasser, See voll Blut, Wut entbrannt. Worte tauchen auf. Kommen wie Gespenster. Geben meine Kindheit ohne Zweifel wieder.

Jetzt hör endlich auf zu Weinen. Bist doch noch ein Kind. Bist doch nicht allein auf dieser Welt. Hör jetzt endlich auf. Halt jetzt deinen Mund. Sei jetzt endlich still. Ist doch nicht zum Aushalten…

Bleib gefälligst liegen. Schluss jetzt! Schlaf jetzt endlich weiter. Kann dein Schreien nicht mehr hören.

Schlaf ist nicht beschützt. Bin im Schlaf nicht sicher. Nicht weil dort die Träume sind. Ich bin ohne Schutz. Ein Gefühl, beschützt zu werden, kann ich nicht verstehen.

Traum ist Körperwissen. Klärt mich auf, dass ich vom Beschützsein keine Ahnung habe.

Wache noch Jahrzehnte später auf. Vom leisesten Geräusch geweckt. Erschrocken frage ich, bist du das meine Mutter!? Bange Hoffnung habe ich, dass noch jemand hier im Zimmer ist. Schlafe wieder, werde später wach, mit dem fremd sein auf der Zunge und umgeben von der Leere.

Wenn ich Kind mit meiner Wut beschütze, kann ich mich nicht länger hassen. Kann mich nicht alleine lassen. Weiß jetzt, dass ich nie als Kind mein Feind gewesen bin. Nicht einmal in meinen ärgsten Träumen.

Meine Mutter sprach:

Du erwarte keine Hilfe!

Zähle nicht auf mich!

Dieser Schrecken ließ mich zittern.

Ließ die Wahrheit untergehen.

Konnte sie nicht fassen.

Konnte nicht ertragen

ohne Hilfe aufzuwachen

keine Hilfe zu erwarten

aufzuwachsen

ohne Liebe.

Das kann ich erst heute fühlen.