Texte von Hugo Rupp

Der unbewusste Hass

 

Ich sehe, wie er näher kommt und wie er wieder näher kommt, da sieht er mich so an, als würde er nicht wissen, wer ich bin. Er kennt mich nicht, sonst würde er nicht tun, was er dann tut. Ich denke, jedes Kind muss so was denken. Dass ich ihn nicht erkenne. Ich kannte ihn und kenne meinen Vater nicht. Das ist mein Vater und auch nicht. Ich sehe sein Gesicht, auch das ist neu. Er schlägt mir mitten ins Gesicht. Ich kenne kein Gesicht, das mit mir das schon einmal machte. Ich kenne meinen Vater plötzlich nicht. Die Hände von ihm sind die gleichen, doch sein Gesicht ist fremd.

Er zieht mich, redet laut. Er reißt und zieht und redet laut und beißt auf seinen Zähnen.

Ich sah jeden Tag sein Gesicht und wusste nicht, dass es Hass verkörperte. Gesicht, Gesicht. Wenn Vater kam, dann war Gewalt im Haus, im Gang, im Treppenhaus, dann Küche, Zimmer. Wenn Vater ging, dann trug Gewalt die Schleppe seines Schattens. Nicht umgekehrt. Gewalt trug ihn, nicht er Gewalt. Ertrug der Hass den Vater, oder umgekehrt? War Hass, was er ertragen musste? Ertrug der Vater Hass? Wer trägt jetzt wen? War er selbst unschuldig? War nur der Hass an allem schuld und nicht mein Vater? War Hass nicht seine Wahl? War er die Wahl des Hasses? Hat sich Gewalt den Vater ausgesucht, wie einen Träger, Würdenträger? Hat sich der Hass, wie Wind, der über Körper streicht, den besten für sich ausgesucht? Fiel Hass nicht zufällig auf ihn und mich dann weiter? Wer hatte keinen Hass wie Vater? Trug Vater freiwillig den Hass mit sich? War er der Träger einer Last? War Vater etwas Besonderes? Für mich Besonderes?

Ich hörte Hass und sah ihn in den Augen und wusste nichts von Hass. Das ist mein fremder Vater, dachte ich. Der Fremde mit den bösen Händen. Der Hass ist für mich schrecklich. In Wort und Bild ist Hass für Kinder schrecklich. Er ist nicht fassbar für ein Kind. Der Hass und seine Äußerung, hat nichts mit einem Kind gemein. Er ist mit kindlichem Gefühl und dem Gespür nach Nähe, unvereinbar und schlichtweg fremd. Der Hass meines Vaters veränderte meine Welt grundlegend, ohne dass ich wusste, was Hass ist und warum er mich damit bestraft. Es war grundloser Hass. Das blieb er auch für mich, weil mir nie jemand einen Grund für seinen Hass, die Ausübung, für sein Tun gab.

Das war so grundlos, wie es war für mich. Der Hass war auch gewöhnlich, ich sah ihn jeden Tag. Ich meine sein Gesicht und seine Worte, Äußerungen. Ich wusste nie von einem Wort. Es lag mir auch nicht auf den Lippen. Ich kannte später jedes Wort. Doch dass der Hass so früh in mich gedrungen ist und dass das Hass war, dem ich Tag für Tag begegnete, das konnte ich nicht wissen. Der Hass war für mich unfassbar, so unerhört und gänzlich fremd. Mit seiner Ankunft war ich abgesagt und abgemeldet. Im Grunde wurde meine Seele wund vom ersten Hass. Sie folgte immer einer Spur des Hasses. Der Linie meiner Mutter, wie sie schaute, wenn sie mich wickelte, wenn sie mit ihren Händen mich begriff. Ich spürte diesen Hass erst kurzsichtig, dann später drückte ich die Augen zu und schaute weg. Doch sähe ich die Linie ihres Mundes heute und ihr Gesicht, wenn sie mich anzog und schön machte, dann sehe ich den Hass im Tun und im Gesicht. Ich sehe ihre Linie und die des Vaters überall. Ich sehe sein Gesicht in meiner Hand. Ich habe seinen Hass in meinen Augen. So ist es, wenn Gewalt und Hass sich ausbreiten. Sie gehen in die Gliedmaßen. Sie bleiben überall, wo ein Kind, an welcher Stelle es geschlagen und verrissen wurde. Dort bleibt ein Bild des Schmerzes übrig, mit dem Gesicht des Urhebers. Der Hass selbst bleibt noch blind und ohne eine Nase. Der Hass hat keinen Mund, sonst würde er doch sprechen. Sonst könnte er sich wehren. Wenn Hass in einem Kind im Anfang wäre, dann könnte es dagegen sein und Hass von Anfang an erkennen. Der Hass ist nicht im Kind geboren. Von Hass ist keine Spur. Er kommt erst recht von Außen. Hass hört sich nicht und kann sich nicht erkennen. Nicht am Gesicht und eigner Stimme. Er kennt nicht seine Stimme. Er sieht sich nicht, so kann er sein Gesicht nicht korrigieren. Der Hass sieht sich nicht an. Er sieht sich nicht im Spiegel. Wer hasst, kann sich nicht ändern. Er kennt nicht seine Welt. Der Hass erkennt sich nicht im Spiegel. Hass ist blind für sich. Wer hasst, ist blind für sich, erkennt auch keine Opfer. Der Hass weiß nichts von Mitgefühl. Er ist sich selbst nicht nah. Der Hass dreht sich im Kreis und findet sich nie selbst, begegnet sich nie selbst. Hass ist mit Hass nicht zu beseitigen. Hass ist mit Spiegeln nicht zu fassen. Hass ist unfassbar für ein Kind.

Mein Vater schlug den Hass in mich und wusste nichts davon. Die Mutter bog den Hass in meine Glieder und zog mit ihrem Finger voller Spucke meinen Mund gerade sauber. Sie rieb den Hass in mein Gesicht, mit jeder Korrektur an mir, und wusste nichts von Hass. Sie nannten das die Sauberkeit und Disziplin und Ordnung halten müssen und Schönheit nannten sie das auch. Sie nannten das nie Hass. Sie brachten nichts mit dem Gefühl zusammen. Sie hatten kein Gefühl für sich und was sie taten. Ich hatte kein Gefühl bei ihnen, nur Zorn und Wut. Ich hatte kein Gefühl für ihren Hass. Ich hatte kein Gesicht in mir dafür und ich versuchte unentwegt mit meinen Fingern zu verstehen, was Vater mit den Fingern seiner Hand mir antun konnte. Versuchte unentwegt mit meinem Mund die Worte zu begreifen, wie ein Fisch, der sich nach Wasser sehnt. Ich versuchte mit dem Mund die Spucke immer wieder abzustreifen. Ich versuchte den Geschmack an diesem Finger zu begreifen. Ich versuchte meine eigne Spucke zu befragen, was das ist, das sie da tut. Was die Eltern tun, wenn sie mir weh tun. Was das ist, was sie mir antun. Was das in den Eltern ist, wenn sie mir weh tun. Ich versuchte unentwegt meine Eltern zu verstehen. Nicht mich selbst. Ich wusste nicht was Hass ist, deshalb konnte ich mich nicht verstehen und befragen. Begreiflich, dass ich meine Eltern stets begreifen wollte. Ihren Hass auf mich, der mir unbegreiflich war. Der in jedem Kind unbegreiflich bleiben muss. Unbegreiflich hassend. Unerhörter Hass. Ich hörte ohne Unterbrechung zu. Ich hörte ihnen zu und las von ihren Lippen. Ich hörte ihre Worte, Wort für Wort und dennoch fand ich keinen Sinn für mich, kein Grund für ihren Hass war in mir sichtbar. Es war mir immer mehr verzweifelt unerklärbar, warum sie mich so hassten. Warum sie mir das antaten. Warum sie immer wieder hassten. Ich wusste mir keinen Rat und fand in mir auch keinerlei Erklärung.

Ich habe aufgehört zu hören.

Ich habe aufgehört in mir zu horchen.

Ich habe aufgehört, auf mich zu horchen.

Nur wer auf seinen Vater hört, der liebt ihn wie er ist.

Ich habe aufgehört auf einen Sinn für mich zu hören

Ich lese dein Gesicht. Es ist für mich ein offenes Buch.

Ich darf nichts schlechtes von ihm denken.

Wo Rauch ist, ist auch Feuer.

Mein Vater redet solches Zeug.

Was machst du denn für ein Gesicht, und einen Mund dazu! Schau dich nur wieder an! Was du für ein Gesicht machst. Und das am frühen Morgen. Und dein Mund. Du bist ja ganz grün ums Maul. Wenn du dich nur sehen könntest, wie du wieder ausschaust!

Ich öffne meinen Mund. Ich habe keinen Hilferuf darin. Da ist nichts, was nach Hilfe rufen könnte.

Du hältst den Mund. Erst wenn dich jemand fragt, machst du ihn wieder auf. Sonst funkt es zwischen uns. Hörst du mich! Hörst du mir überhaupt noch zu!? Ich höre nicht mehr hin. Ich höre nicht mehr nach dem Sinn.

Das ist doch unerhört, so über ihn zu reden. Er wollte nur dein Bestes.

Ich hasste die Empörung jedes Einzelnen. Ich hasste jeden, der sich um sich kümmerte. Ich hasste jede Stellungnahme. Ich hasste jede Anteilnahme. Ich hasste jedes Widerwort. Ich hasste jedes Wort, das sich empörte. Ich hasste alle, die sich selbst hören konnten. Ich hasste jeden, der für sich eintrat und respektabel war. Ich wollte von mir nichts hören.

Ich war mein eigner Herr und ich behandelte mich selbst, wie ich behandelt worden war und so behandelte ich jeden anderen. Ich wünschte mir nichts mehr.

Ich komme, weil ich mein Weinen höre. Ich höre es.

Mein Vater spuckte nicht. Sein Mund war nicht nervös. Er war nicht durcheinander. Er war beherrscht, in seiner Art vollkommen klar; unmissverständlich.

Er schlägt mich ansatzlos in mein Gesicht.

Ein Wort der Widerrede noch und du wirst sehen, zu was ich fähig bin. Du bist mir nicht zu alt, dass ich dich windelweich noch schlage. Hörst du! Und sieh mich an, wenn ich schon mit dir rede.

Ich schaue zu.

Ich gehe weg, zerschlagen wie ein Hund, der nicht mehr bellen wird, nicht einmal dann, wenn er gebissen wird, wenn ihn die anderen beißen, nicht einmal dann, wenn ich alleine bin, wie dieser Hund, werde ich für mich nicht einmal sprechen. Ich hasse alles an mir, wie es ist und wie es in mich kam und kommen wird. Ich hasse alles, wie es ist. Ich weiß nicht, wie ich dazu kam.

Ich esse, was sie mir geben. Und ist es grün und lebt, dann esse ich es auch. Sie sprechen Hass, ich lerne ihn, auch ohne jedes Gegen-Wissen. Sie packen Hass in ihre Worte und mengen ihn dem Essen bei. Ich trinke Milch und trinke Hass und weiß doch nichts davon. Ich atme lang verborgnen Hass, der hinter Mauern wohnt und auf Gesichtern sitzt, die mich anlächeln. Ich sehe auf dem Gesicht des toten Vaters seinen Hass und weiß nicht, was das ist, was er mit letzter Kraft noch zeigen musste.

Ich trinke Hass schon in der früh. Wenn ich alleine bin und scheinbar ohne Furcht, dann kommt doch die Berührung für mich selbst. Mich aufzulösen, auszulöschen, mit meinen Fingern Faust, die Zähne zu zubeißen. Das was der Vater machte, mit ihm zu machen. Ich bog die Federn von seinen Füllern um, bis alle Federn brachen. Ich tat den Füllern weh.

Mit Vater kam der Hass nach Hause. Mit Vater kommt der Hass ins Haus. Jetzt weiß ich auch, wie ich auch manchmal schaue, wenn ich nach Hause gehe, mit dem Verlangen, jetzt gleich zuhause jemanden hassen zu müssen. Je näher ich der Wohnung komme.

Er zeigte mir bei jedem Wiederkehren und nach Hause kommen seinen Hass. Ich hörte seine Schritte auf den Stufen. Da kam der Hass. Dann kam er, trat ein, und ich erkannte ihn nicht wieder. Wie jeden Tag, wenn er nach Hause kam, erkannte ich den Vater wieder nicht. Er war das nicht, mein Vater ist das nicht mehr, dachte ich und rannte weg, in Sicherheit. Ich flüchtete vor ihm und seinem Hass. Ich hatte solche Angst vor ihm.

Doch kann ich mich erst jetzt dagegen wehren. Auch meinem Hass kann ich mich endlich stellen. Mit meiner Wut entgegen jedem unerhörten blinden Wüten. Ich höre meine unerhörte Wut. Ich habe sie begriffen. Ich habe ihren Wunsch und Sinn verstanden. Sie hat das Kind erst dann ergriffen, nachdem es ohne Zweifel war, dass in ihm niemals Hass für sich am Anfang war. Dass es für sich unschuldig war und immer auch gewesen ist. Ich musste mich selbst schützen vor seinem Hass, vor immer wieder seinem Hass auf alles mögliche.

Das Wissen um die Unschuld meiner Wut, das ringt den Hass von Außen nieder.

Die Seele wehrt sich mit Gefühl

Ich spüre ihren Hass in den Bewegungen, wie sie mich zurichtet. Ich spüre ihren Hass, wie sie mich anfasst und bewegt. Ich spüre ihren Hass in allen meinen Gliedern. Ich spüre ihre Griffe wieder. Wie sich mich packt und biegt, wie sie mich für die Kleider, Schuhe, Hosenbeine, Socken richtet. Wie sie mich für sich herrichtet. Ich spüre ihren Hass in den Bewegungen. Ich spüre meine Wut.

Ich spüre meinen Körperzorn, wie er sich gegen ihre Griffe, Worte wehrt. Wie ich mich endlich wieder wehre, mit meiner Wut. Ich spüre diesen Hass auf alles Kindliche in mir, in meiner Welt, der meines Körpers. Ich spüre ihre Hände, Blicke, und spüre Hass, der alles Richtende begleitet. Ich spüre diesen Hass auf mich.

Ich konnte ihren Hass nie direkt sehen und ich bekam ihn doch zu spüren. Ich sah nie Hass und konnte nichts für mich begreifen, weil sie ihn doch versteckte und verheimlichte. Sie war doch die, die sich versteckte. Dass sie den Hass, der in ihr steckte, vor mir, dem Opfer ihres Hasses auch versteckte, das konnte ich nicht sehen. Sie versteckte ihren Hass auf mich.

Ein Kind ist ohne seine Wut dem Hass vollkommen schutzlos ausgeliefert.

Sie schreckte mich und niemals kam ich auf das Bild und die Idee des Hasses. In allem Schrecken. In allen ihren Schrecken, in allen ihren Schreckensbildern, in allen Schreckensbildern überhaupt. Dass immer auch der Hass dahinter steckt, wie das Gesicht, das Auge eines Filmenden, ihn zeigen könnte. Wer hasst, der kann sich gut verstecken. Das Auge, das den Hass gesehen hat, das seinen Hass auf sich zukommen sah. Unfassbar für ein Kinderauge.

Wie das Gesicht des kalten Hasses, weil es nur Kälte zeigt und keine Rührung.

Ich drehe mich jetzt um und sehe das Gesicht der Eltern.

Ich wurde fortgejagt für mein Gefühl, das sie tagtäglich an mir ausließen. Wenn ich den Hass, die Wut des kleinen Kindes fühlen kann, muss ich den späten Hass nicht mehr ausüben.

Ich durfte mein Gefühl nicht äußern und mir nicht einmal zeigen. Sie brachten mir das Gegenteil doch bei. Sie straften mich für mein Gefühl. So lernte ich Gefühle zu bestrafen. Ich lernte, dass Gefühle Strafen sind. Dass der, der fühlt,

gestraft ist für sein Erleben. Ich musste mein Gefühl verjagen und verscheuchen und konnte nicht daran festhalten. Ich musste mich loslassen und losgelassen fühlen, voll unbewusstem Hass.